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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1058–1060

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Abmeier, Karlies, u. Michael Borchard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Öffentliche Religion – religiöse Öffentlichkeit.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014. 258 S. m. 22 Abb. = Religion – Staat – Gesellschaft, 2. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-76618-2.

Rezensent:

André Ritter


Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Abmeier, Karlies, Borchard, Michael, u. Matthias Riemenschneider [Hrsg.]: Religion im öffentlichen Raum. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 240 S. = Religion – Staat – Gesellschaft, 1. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-506-77593-1.


Unsere Gesellschaft, die religiös und weltanschaulich vielfältig ge­prägt ist, unterliegt bekanntlich einem Wandel, der sich auch auf die Bedeutung der Religion in der Öffentlichkeit auswirkt. Diese Veränderungen waren Gegenstand einer interdisziplinär besetzten Tagung, die seitens der Konrad-Adenauer-Stiftung Ende August 2011 im norditalienischen Cadenabbia stattfand und die sich mit den Wirkungen für die historisch gewachsenen Strukturen im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften befasste. Dabei wurden auch die Einschätzung der Politik und der Religionsgemeinschaften sowie die Perspektive der europäischen Nachbarn ausdrücklich einbezogen.
Die Vorträge dieser Tagung wurden 2013 unter dem Titel »Religion im öffentlichen Raum« in einem ersten Band der Reihe »Religion – Staat – Gesellschaft« publiziert und initiierten dann eine zweite Tagung, die seitens der Konrad-Adenauer-Stiftung im Herbst 2013 ebenfalls in Cadenabbia stattfand und deren Vorträge unter dem Titel »Öffentliche Religion – religiöse Öffentlichkeit« 2014 publiziert worden sind. Laut Verlagsankündigung geht es in diesem Fall darum, dass
»kulturelle Anstöße und interdisziplinäre Diskurse […] eine Grundlage für Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Gegenwart [bilden] und […] die religiös-kulturelle Prägung der Öffentlichkeit [gestalten]. Bildende Kunst, Literatur, Theater und Film formen das Bild einer Öffentlichkeit, in der sie gesellschaftliche Entwicklungen erspüren oder auf eine unerwartete Weise darstellen […] Persönlichkeiten aus Kultur, Kirchen, Politik und Wissenschaften aus verschiedenen europäischen Ländern setzen sich mit dem Selbstverständnis der Gesellschaft und ihren Wertvorstellungen auseinander. Das Spannungsverhältnis von öffentlich und privat im öffentlichen Raum kennzeichnet die Beziehung zwischen Staat, Gesellschaft, Kunst und Religion.«
Bekanntlich handelt es sich ja hier wie dort um zweierlei – und das in grundsätzlicher (zugleich verfassungsrechtlicher) Hinsicht: Dass das Grundrecht der positiven wie negativen Religionsfreiheit über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinweg heute mehr denn je Gabe und Aufgabe für uns alle bedeutet, ist das eine. Dass es jedoch derzeit so scheint, dass im politischen Diskurs die Freiheit von Religion weitaus wichtiger zu werden beginnt als die Freiheit zum religiösen Bekenntnis und zur entsprechenden religiösen Praxis im gesellschaftlichen Alltag und öffentlichen Leben, ist gewiss das an­dere, dem kritisch wie selbstkritisch nachzudenken sein wird. Dabei stehen ja längst nicht nur der religiöse Pluralismus und das Problem der gegenseitigen Anerkennung der verschiedenen Konfessio nen und Religionen im Fokus unserer Aufmerksamkeit, sondern damit verbunden zugleich die Frage nach einer angemessenen öffentlichen Präsenz von Kirchen und Religionsgemeinschaften einschließlich dessen, was nach ihrem jeweiligen Verständnis un­abdingbar zum Bekenntnis und zur Praxis ihres Glaubens gehört. Dass sich nämlich in modernen pluralen Gesellschaften verschie-dene Religionsgemeinschaften mit unterschiedlichen religiös be­stimmten bzw. kulturell bedingten Lebensorientierungen und Weltbildern begegnen, ist ein nicht länger zu be­streitender Sachverhalt, der insbesondere für Europa als dem so­genannten »christlichen Abendland« zutrifft. Und dass die hier wie dort angebotenen Orientierungsmuster dabei keineswegs im­mer übereinstimmen und deshalb Anlass für mancherlei Konflikte geben, auch dies gehört hier und heute inzwischen zu den grundlegenden Erfahrungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Doch eben beides nötigt uns über alle konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg dazu, dass wir uns gemeinschaftlich auf einen für uns alle geltenden »Konsens« im Sinne einer normativen Orientierung da­hingehend verständigen, was wiederum unsere pluralen Gesellschaften je und je zusammenzuhalten vermag.
So ist beispielsweise der Beitrag des derzeitigen Ratsvorsitzenden der EKD und bayrischen Landesbischofs Heinrich Bedford-Strohm aufschlussreich, wenn er »Öffentliche Theologie« seinerseits als Versuch bezeichnet, »im interdisziplinären Austausch mit anderen Wissenschaften an der Universität und im kritischen Gespräch mit Kirche und Gesellschaft in gesellschaftlichen Grundfragen Orientierung zu geben und dabei Ressourcen der Kommunikation zu erarbeiten, die religiöse Orientierungen in den Diskurs in pluralistischen Gesellschaften einzubringen helfen« (Band 1, 29). Das gilt insbesondere für die aktuellen Debatten sowie die auf diese wiederum Bezug nehmenden verfassungsrechtlichen Erwägungen im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Re­ligion(en) in Deutschland und Europa, sei es hinsichtlich des Gottesbezugs in den europäischen Verfassungen (vgl. Bernhard Felmberg, 59 ff.) oder auch mit Blick auf Kreuz und Kopftuch im öffentlichen Raum (vgl. Hans Michael Heinig, 79 ff.). Dass die Wahrnehmung von Religion bzw. Religionen komplex und kontrovers zugleich ist, bestätigt einen dringenden Diskussions- wie Handlungsbedarf.
Vor diesem Hintergrund können kulturelle Anstöße und interdisziplinäre Diskurse nun eine wichtige Grundlage für Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Gegenwart bilden und die religiös-kulturelle Prägung der Öffentlichkeit gestalten helfen. Denn bildende Kunst, Literatur, Theater und Film formen das Bild einer Öffentlichkeit, in der und indem sie gesellschaftliche Entwicklungen erspüren oder auf eine unerwartete Weise darstellen. Mit ihrer Sensibilität für Brüche, Verborgenes und Unausgesprochenes erkennen sie oft Veränderungen, bevor diese sich öf­fentlich manifestieren. Es spiegelt sich zum Beispiel in den Medien, die einerseits in den vergangenen Jahren eine Wiederkehr der Religion prophezeit haben, aber andererseits feststellen müssen, dass in der Realität ein deutlicher Schwund an Kirchlichkeit und religiöser Praxis nicht zu übersehen ist. In welcher Weise wiederum Kirchen und Religionsgemeinschaften die kulturellen Bewegungen und Anstöße ihrerseits aufnehmen, auch darüber muss man angesichts ihrer jeweils unterschiedlichen Reaktionen auf die unübersichtlich ge­wordene religiöse Lage der Gegenwart mit Recht diskutieren.
Das trifft nicht zuletzt auch für das Verhältnis von Kultur, Religion und Politik zu, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert in seinem Beitrag mit Verweis auf die Geschichte deutlich macht:
»Für das 21. Jahrhundert erweist es sich als ebenso konstitutiv wie kontrovers. Ob eine Gesellschaft über die notwendigen inneren Bindungskräfte verfügt, die zugleich mehrheitlich anerkannt und belastbar sind, ist eine hochpolitische Frage. Wie eine Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt stiftet und bewährt, ist sogar eine existentielle Frage, die von der Politik nicht alleine und schon gar nicht abschließend beantwortet werden kann.« (Band 2, 43)
Wie auch immer – als vermittelndes Modell zwischen staatskirchlichen oder gar theokratischen Ordnungen einerseits und Formen einer radikalen Laizität andererseits lassen sich europaweit Systeme einer partnerschaftlichen Zuordnung von Religionen bzw. Weltanschauungen mit Staat und Gesellschaft identifizieren (vgl. Traugott Jähnichen, 75 ff.). Das gilt im Sinne ähnlich großer Spannweite beispielsweise auch mit Blick auf Glaube, Welt und die Kunst des Spiels (vgl. Ulrich Khuon, 121 ff.).
Der Zusammenhalt in unserer multikulturell wie multireligiös geprägten Gesellschaft benötigt einen gemeinsamen Konsens nicht zuletzt über verbindliche Normen und verlässliche Werte. Glaube, Religiosität, das Verhältnis von Staat und Kirche sowie die Überzeugungen der Menschen sind wichtige Faktoren, die zur Wertorientierung in der Gesellschaft beitragen. Zwar ist seit einigen Jahren Religion wieder ein Thema im öffentlichen Diskurs und empirische Studien weisen darauf hin, dass im Leben vieler Menschen Glaube und Religiosität eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig geht aber die kirchliche bzw. konfessionelle Bindung spürbar zurück. Religion wird zunehmend in den privaten Bereich abgedrängt, religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben werden diskreditiert und der Wert des Beitrags von Kirchen und nichtchristlichen Religionsgemeinschaften für das gesellschaftliche Wohl wird angezweifelt.
Alles in allem ist es unerlässlich, sich mit den die Gesellschaft tragenden Werten immer wieder neu auseinanderzusetzen, ihre Herkunft und ihr Gewicht für den Zusammenhalt der Gesellschaft festzustellen und den sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Mit den beiden vorliegenden Bänden soll die besagte Tagungsreihe der Konrad-Adenauer-Stiftung jedoch keineswegs zum Abschluss kommen, sondern in geeigneter Weise fortgesetzt werden, um auch weiterhin wichtige Impulse für die notwendige Diskussion über Religion in der Öffentlichkeit zu geben. Möge es so sein!