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Ausgabe:

Oktober/2015

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dorothea Wendebourg

Titel/Untertitel:

Ein Lehrer, der Unterscheidung verlangt

Martin Luthers Haltung zu den Juden im Zusammenhang seiner Theologie*

Die Vorbereitungen auf das mit schnellen Schritten näherrückende Reformationsjubiläum sind hierzulande von erstaunlichen Engführungen gezeichnet. Aus einem Fest, dessen Thema »Reformation« ein Geschehen mit vielen Akteuren und Strömungen umfasst, scheint eine Ein-Mann-Show, ein Lutherevent zu werden. Aus einer Feier, die die internationale Reichweite und Vielfalt jenes Geschehens bewusst machen sollte, scheint eine Rückbesinnung zu werden, die wesentlich um Deutschland kreist. Und aus dem solchermaßen reduzierten Jubiläumsgegenstand scheint vor allem ein Thema Köpfe und Gemüter zu beschäftigen: Luthers Haltung zu den Juden und die Frage nach deren Auswirkungen auf die deutsche Geschichte. Wo diese Reduktion erreicht ist, ergibt sich nun aber eine umgekehrte Bewegung: Das Thema »Luther und die Juden« soll für das große Ganze stehen. Die ganze Reformation, zumindest aber der ganze Luther mit seinem Wirken und seiner Theologie soll von diesem Thema her geordnet und beurteilt werden. Und da mit diesem Thema eine zweifellos belastende Erbschaft angesprochen ist, heißt das nicht selten: Die ganze Luthersche, wenn nicht die ganze reformatorische Theologie müsse verabschiedet werden.

Bevor man sich zu dieser Debatte verhalten kann, ist es nötig zu klären, wie sich Luthers Einstellung zu den Juden zum Ganzen seiner Theologie verhält. Eine solche Klärung verspricht dreifachen Gewinn: Sie erlaubt, Luthers Haltung zu den Juden in ihren theologischen Motiven genauer zu verstehen. Sie macht möglicherweise auf fragwürdige Züge der Theologie Luthers aufmerksam, die in seiner Haltung zu den Juden zum Vorschein kommen. Und sie lässt auch die Kosten erkennen, die möglicherweise mit judentumstheologischen Veränderungen für das Ganze der Theologie verbunden sind. Konkret behandeln will ich mein Thema anhand fünf zentraler theologischer Topoi, und zwar Rechtfertigungslehre, Christologie, Hermeneutik des Alten Testaments, Ekklesiologie und Zwei-Regimenten-Lehre.

I Rechtfertigungslehre

Judentum und Christentum sind durch unüberbrückbar gegensätzliche Auffassungen darüber getrennt, wie der Mensch vor Gott bestehen kann. Diese Diagnose steht am Anfang von Luthers ju­dentumstheologischen Ausführungen. Sie wird breit dargelegt in der ersten erhaltenen Vorlesung Luthers, der die allmähliche Herausbildung seiner reformatorischen Position spiegelnden ersten Psalmenvorlesung Dictata super Psalterium aus den Jahren 1513–1515,1 sowie in den Predigten jener Zeit,2 und er hält bis zum Ende an ihr fest. Was Luther an der jüdischen Auffassung kritisiert, fasst er in dem Vorwurf zusammen, die Juden wollten vor Gott durch ihre eigene Gerechtigkeit bestehen,3 durch ihre eigenen Werke gerechtfertigt werden: Iudaei sunt, qui suis operibus quaerunt iustificari,4 während man sich vor Gott nur auf eines verlassen könne, seine Gnade.5 Darin komme religiöser Hochmut (superbia) zum Ausdruck.6 Ja, darin werde Götzendienst geübt,7 weil nur der, der sich auf nichts als Gott verlasse, »yhn lessit sein got sein«8. In ihrer falschen Einschätzung der eigenen Werke gleichen die Juden nach Luther den scholastischen Theologen.9 D. h., es verhält sich nicht so, dass die Juden gar nicht von Gottes Gnade sprächen. Doch für sie sei es nicht »die Gnade allein« (sola misericordia, sola gratia), die im Verhältnis zu Gott zähle, sondern die Gnade zusammen mit dem eigenen Tun, während doch in Wirklichkeit der Mensch vor Gott »leer« (vacuus) dastehe.10 Begründet sei diese falsche Einschätzung ihrer selbst – und damit auch Gottes – in einer falschen Einschätzung des von Gott gegebenen Gesetzes (lex): Die Juden seien der Ansicht, es gehe vor Gott darum, das Gesetz zu halten. Darin komme die irrige Meinung zum Ausdruck, der Sinn des Gesetzes erschöpfe sich in seinem wörtlichen Verständnis und sein Ziel in der buchstäblichen Befolgung bzw. Unterlassung, die in der Tat durchaus zu leisten sei. In Wirklichkeit aber gehe es um die allem Handeln zugrundeliegende Ausrichtung des Herzens auf Gott. So, also richtig verstanden, zeige das Gesetz, dass der Mensch, im Innern auf sich selber hin »verkrümmt« (curvus), es wurzelhaft nicht erfülle, dass er Sünder sei. Und so werde es ihm zum Anstoß, tatsächlich allein auf Gottes Gnade zu hoffen11 – wodurch dann auch rechtes, d. h. richtig motiviertes Handeln möglich sei.12 Ja, wie Luther schreibt, ist das Gesetz in erster Linie eben dazu da, diesen Anstoß zu bieten. Erst nachträglich, lange nach den Gnadenverheißungen der Urgeschichte und der Abrahamgeschichte, gegeben, sollte es den Juden dazu dienen, ihre Sünden zu erkennen und so, ihrer Gnadenbedürftigkeit bewusst, desto stärker auf Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen. Sie hingegen benutzten es als Mittel, sich auf die Erfüllung seiner Forderungen, auf ihre guten Werke zu verlassen 13 und damit eben Götzendienst zu tun.

Was Luther hier vorbringt, sind unverkennbar die Grundzüge seiner Rechtfertigungslehre mit ihren Eckpfeilern sola gratia und sola fides sowie usus theologicus legis und guten Werken als Konsequenz, nicht als Realisierung der Rechtfertigung. Diese Rechtfertigungslehre wird kritisch ebenso gegen das Judentum wie gegen die zeitgenössische römische Theologie und Frömmigkeitspraxis vorgebracht, ja vielfach gegen das eine mit dem anderen.14 Freilich haben die rechtfertigungstheologischen Ausführungen ein Zentrum, das in den Reflexionen über die Juden je länger desto mehr das Feld beherrscht: die Christologie. Erst von Jesus Christus her wird eindeutig, was Gnade ist, was es mit dem Glauben auf sich hat, was der theologische Sinn des Gesetzes, was der Rang der Werke ist. So wird schon in den Dictata super Psalterium, die auf Schritt und Tritt das Vertrauen auf die Gnade als allein angemessene Haltung Gott gegenüber herausstellen, dieses Vertrauen auf den barmherzigen Gott immer wieder ausbuchstabiert als Vertrauen auf Jesus Christus. Das falsche Vertrauen auf die eigenen Werke ist deshalb Widerspruch gegen Christus, die unüberbietbare Erscheinung der göttlichen Barmherzigkeit: Iudaei sunt, qui suis operibus quaerunt iustificari: ideo nolunt audire, quod Christus eorum iustitia sit.15 So kann Luther den traditionellen Vorwurf, die Juden hätten Christus getötet, rechtfertigungstheologisch mit den Worten deuten, sie hätten das zwar nicht handgreiflich, sondern nur mit Willen und Wort getan;16 aber mit ihrer werkorientierten, Gottes Gnade in Jesus Christus ablehnenden inneren Haltung täten sie das bis in die Gegenwart17 – eine Dauerkreuzigung Christi, in der den Juden freilich viele Christen mit ihrem glaubenslosen Leben nicht nachstünden.18

II Christologie


Dass Rechtfertigungslehre und Christologie zwei Seiten einer Medaille sind, hat Luther immer verfochten. Doch brachte er es in unterschiedlicher Weise zur Geltung. Während er den römischen Gegnern gegenüber das sola gratia sola fide als Kehrseite des – offiziell hier nicht strittigen – Christusbekenntnisses explizierte,19 stellte er den Juden gegenüber je länger desto mehr vor allem Werk und Rang Jesu Christi als Grundlage des im Glauben empfangenen Heils heraus. Ja, in den sogenannten Judenschriften, also jenen Schriften, die das zeitgenössische Judentum und den Umgang mit ihm zum Thema haben, treten die explizit rechtfertigungstheologischen Ausführungen fast völlig zurück, spielt der Vorwurf der Werkgerechtigkeit etc. kaum eine Rolle.20 Hier geht es vielmehr um den Punkt, der »[f]rom time immemorial« im Zentrum der Kontroversen zwischen Juden und Christen stand, um den Gegensatz in der Christologie21 – dieser Punkt sei das »Heuptstück« des Streits.22 Und so ist es der christologische, nicht der im engeren Sinne rechtfertigungstheologische Gegensatz, mit dem Luther schließlich seine destruktiven antijüdischen Forderungen legitimiert. Offensichtlich bildete für ihn das Bekenntnis zu Jesus Christus als Erlöser und Gottessohn das Fundament des Christentums in einer Weise, wie das hinsichtlich der rechtfertigungstheologischen Explikation trotz aller Zusammengehörigkeit beider nicht galt.23 So war der jüdische Widerspruch an dieser Stelle von schlechthin grundstürzender Wucht.24

Mit dem Neuen Testament stellt Luther fest, dass in Jesus von Nazareth der dem jüdischen Volk in seiner Geschichte vor der Zeitenwende immer wieder verheißene Messias gekommen sei – auf Griechisch-Lateinisch: der Christus. Deshalb geht es an der Realität vorbei, wenn die Juden noch auf die Erfüllung der Messiasverheißungen warten.25 Ja, indem sie weiterhin darauf warten, verweigern sie sich der grundlegenden Heilstat Gottes und weisen seine Gnade zurück. Das ist umso unverständlicher, als Jesus in erster Linie als Erlöser dieses Volkes gekommen ist, zu dem er auch ethnisch gehört. Das Judesein Jesu macht Luther namentlich in seiner ersten Judenschrift von 1523 Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei zum Ausweis seiner heilsgeschichtlich primären Sendung zum jüdischen Volk, der auch die ausschließlich jüdischstämmige Zusammensetzung des Apostelkreises entspreche.26 Und wie für diese ersten, aus dem Judentum kommenden Christen sei es auch für die Juden seiner Gegenwart eigentlich sonnenklar, woran sich die Bedeutung Jesu für sie ablesen lasse, aus ihrem eigenen heiligen Buch, insbesondere aus den Verheißungen des Alten Testaments, die denn auch immer wieder des Langen und Breiten vorgeführt werden.

So sehr der Messias Jesus zunächst zum Heil für die Juden gekommen ist, so wenig beschränkt sich nun aber seine Sendung auf das eigene Volk. Vielmehr bezieht sie auch die »Fremdlinge«, die Nichtjuden ein.27 Und das nicht nur, weil sich so viele Juden ihrem Messias verweigert haben, sondern weil Gottes Heilsabsicht von vorneherein der ganzen Welt gegolten hat. Die erste Messiasverheißung, das Protevangelium (»aller erst Euangelion«)28 Gen 3,10, erging lange vor der Entstehung des Volkes Israel kurz nach dem Sündenfall und galt der ganzen durch diese Katastrophe betroffenen Menschheit. Und auch spätere messianische Weissagungen sprachen von einer Herrschaft des Messias nicht nur über die Juden, sondern über alle Welt.29 So kam Jesus denn auch, um das Gottesreich in aller Welt aufzurichten30 – ein Prozess, der mit dem Beginn seines öffentlichen Wirkens nach der Taufe begann31 und der mit Ostern universale und überzeitliche Reichweite erlangte,32 bevor er mit Christi – von Luther für die baldige Zukunft erwarteter33 – Wiederkunft am Jüngsten Tag zur Verwandlung der Welt als ganzer führen wird.34

Luther hält den Juden nicht nur vor, dass der in Jesus gekommene Messias-Christus, wiewohl zunächst zu ihnen gesandt, das Heil für alle Menschen gebracht habe, sondern er betont auch, dass Geschick, Worte und Taten dieses Mannes zeigten, wie sich die Herrschaft des Messias bis zum Jüngsten Tag vollziehe: Er habe ein »geystlich[] konigreich« aufgerichtet,35 d. h. ein solches, in dem er »die gewissen mit dem heyligen Euangelio [regiert]«36 oder, anders gesagt, »ym glauben [regiert]«37 Abgelehnt wird damit die Erwartung, der Messias bringe »eyn leiplich konigreich […] ym sterblichen vergenglichen guttern und weßen«38. Immer wieder wirft Luther den Juden vor, die Erwartung zu hegen, ein Messias in »Pracht, Gewalt und Kraft«39 werde ein solches »leibliches Königreich« mit »fleischlichen« Gütern aufrichten,40 von ihm sei die Wiederherstellung ihrer politische Herrschaft wie zur Zeit des alten Israel samt Vernichtung ihrer heidnischen Feinde zu erhoffen,41 ja, die Errichtung jüdischer Weltherrschaft.42 Durch die offensichtlich nicht erfüllte und deshalb weiterhin gehegte Erwartung, der Messias solle »in der Weise kommen, in der es ihnen gefiel (eo modo, quo sibi placuit)«, nämlich als politischer Herrscher, hätten sie sich der Einsicht verschlossen und täten es noch, dass er bereits »auf andere Weise (alio modo) gekommen sei«43. Diese »andere Weise« seien Niedrigkeit und Leiden Christi, die in so offensichtlichem Gegensatz zur von den Juden erwarteten Macht und Herrlichkeit des Messias stünden,44 sein Kreuzestod, der nach dem von ihnen Gottes Weisheit vorgeschriebenen »mas und begriff, wie er solle Messias senden«, ganz unmöglich sei, den Gott aber nach seiner eigenen »wünderlichen, unbegreiflichen weisheit« dem Messias zugedacht habe.45

Mit der Messianität ist freilich noch nicht die gesamte Wirklichkeit Jesu Christi erfasst. Denn damit kommt Christus erst als Mensch, wenn auch als besonderer Mensch, in den Blick. Ihn wahrhaft zu erfassen, dazu bedarf es der Einsicht, dass in diesem Jesus Gott selbst erschienen ist, mit der Sprache des Dogmas, dass er »ein Mensch und doch wahrer Gott« ist.46 Luther räumt in seiner Schrift von 1523 ein, dass das Bekenntnis zum Gottsein Jesu für Juden besonders anstößig sei, und schlägt vor, diesen Punkt zunächst zu­rückzustellen. Nach dem Vorbild paulinischer Pädagogik (1Kor 3,1 f.) solle man sich bei dem Christuszeugnis gegenüber den Juden erst einmal auf die »Milch« der Messianität beschränken. Damit werde der Grund gelegt, später auch den »Wein« des Bekenntnisses zur Gottessohnschaft Jesu genießbar zu machen. 47 Dass dieses Bekenntnis selbst keine quantité negligable ist, darüber lässt Luther gleichwohl nirgends einen Zweifel aufkommen. Dass mit Jesus Christus Gott selber in die Welt gekommen ist, dass sich in ihm Gott wesenhaft zeigt und gar nicht anders zu denken ist denn als der, der zugleich Vater und Sohn – und Heiliger Geist – ist, mit dieser Überzeugung steht und fällt für Luther der christliche Glaube.48

So gewiss Luther ist und sein Leben lang bleiben wird, dass jedenfalls die Messianität Jesu sich mit unbestreitbarer Evidenz aus dem Alten Testament ablesen lasse,49 so wenig rechnet er damit, dass sich die Juden in großer Zahl dieser Evidenz beugen würden. Selbst in der Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei hält er es eher für wahrscheinlich, dass es nur »einige« (»ettliche«) sein würden. Das kann angesichts des eindeutigen exegetischen Befundes nur als Ausdruck von »Halsstarrigkeit« betrachtet werden.50 Solche Halsstarrigkeit kennzeichnet in Luthers Augen die große Masse der Juden, er geht fast durchweg davon aus, dass sie darin, von Ausnahmen abgesehen, gemäß Koh 1,15 »unverbesserlich« (incorrigibilis) seien und das ihnen zugedachte Heil verspielt hätten.51 Nur in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 und in einigen verwandten Passagen weicht er von dieser Einschätzung ab und entnimmt Röm 11,25–27, nach dem Apostel Paulus würden am Ende der Zeiten die Juden in ihrer Gesamtheit gerettet werden.52 Dabei steht es Luther im Einklang mit seiner vom solus Christus bestimmten Theologie außer Frage, dass jene endzeitliche Rettung von dem Retter aller Welt zu erwarten ist, von Jesus Christus, der damit in einer letzten großen Gnadentat sein Werk vollenden wird: Den Juden in ihrer großen Mehrheit bislang noch fern, wird Chris-tus am Ende in einer von Gott bestimmten »geheimnisvollen Ankunft« (adventus mysticus) aus Zion als Erlöser auch zu ihnen kommen (Röm 11,26b mit Jes 59,20)53 und sie zum Glauben an ihn,54 zu ihrem Messias »zurückkehren« (redire)55 lassen.56 Dann werden »die Juden […] noch sagen tzu Christo: Gebenedeyett sey der do kommet ynn dem namen des herrn«57.

Wie gesagt, diese Aussagen sind bei Luther selten, und sie be­schränken sich auf wenige Jahre; ansonsten geht er durchweg davon aus, dass die Mehrzahl der Juden bei ihrer halsstarrigen Christusferne bleiben wird. Aber so bedrückend dieser Sachverhalt ist, weil sie sich damit um ihr Heil bringen, ist Luther die meiste Zeit seines Lebens der Meinung, dass der jüdische Widerspruch die Christen selbst nicht sonderlich bekümmern müsse, abgesehen davon, dass die Juden ihnen zur Warnung dienten, nicht ebenso durch Unglauben die Gnade zu verspielen. 58 In seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei zeigt er sich ausdrücklich desinteressiert an der Frage, wie viele Juden Christus gegenüber »hallstarrig« bleiben würden – unter den Christen gebe es ja auch viele, die keine »gutte[n] Christen« seien.59

Doch wenige Jahre später kam es zu einem Ereignis, das diesen Gleichmut auf die Probe stellte und langfristig von großer Tragweite war: 1525/26 machte Luther in einem Gespräch mit Juden, vermutlich dem einzigen, das er je geführt hat, nicht nur die Erfahrung, dass sie seine messianischen Schriftbeweise wenig überzeugend fanden. Sondern er musste auch erleben, wie die Gesprächspartner einen vom ihm ausgestellten Empfehlungsbrief zurückwiesen, weil die Empfehlung im Namen Jesu ausgesprochen war. Ja mehr noch, sie bezeichneten diesen Jesus, mit dem sie nichts zu tun haben wollten, als »Gehenkten« (Thola) und legten ihm damit ein deftiges Schmähwort bei. 60 Dieses Erlebnis hat Luther, wie immer neue mündliche und schriftliche Wiederholungen der Episode bis in seine letzten Lebensjahre hinein zeigen, offensichtlich zutiefst getroffen und einen deutlichen Einfluss auf seine Einstellung den Juden gegenüber gehabt. Denn soviel er schon von jüdischer Ablehnung Jesu Christi geschrieben hatte – jetzt begegnete sie ihm lebendig und konkret. Welche Betroffenheit das Erlebnis in ihm auslöste, zeigt sich, wenn es in dessen frühestem literarischen Echo ganz ungeschützt heißt, die jüdischen Schmähungen gerade des Gekreuzigten täten »allen fromen Christlichen hertzen« »fast [sehr] wehe.« 61 Am Ende, in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen, wird er die Beleidigung des Messias Christus und seiner jungfräulichen Mutter, des ewigen Gottessohnes und der ganzen Trinität als Hauptgrund für die antijüdischen Maßnahmen nennen, zu denen er die protestantischen Obrigkeiten auffordert. Was es auch immer mit jenen Beleidigungen auf sich hat – in diesem Vorwurf kommt noch einmal in zugespitzter Form der christologische Gegensatz als der eigentliche Stein des Anstoßes zur Geltung.

III Hermeneutik des Alten Testaments


In den bisherigen Abschnitten kam immer wieder eine bibelhermeneutische Voraussetzung zur Sprache, die für Luthers Haltung zum Judentum schlechterdings grundlegend ist, die christliche Lektüre des Alten Testaments. Luthers Kritik am Judentum ging nicht mit einer Distanzierung vom Alten Testament einher, wie sie etwa bei Erasmus von Rotterdam festzustellen ist.62 Vielmehr vollzog sie sich als Kampf um das Alte Testament.63 Dass dieses Buch nicht nur ein Buch der Juden, sondern auch ein Buch der christlichen Kirche sei, ja, dass post Christum natum nur die Christen es richtig, nämlich als ein selbst christliches Buch verstünden und dass die Lektüre des Alten Testaments als christliches Buch für das Christentum selber grundlegend sei – dieser hermeneutische Cantus firmus durchzieht Luthers Ausführungen zum Judentum bei mancherlei Variationen im Einzelnen sein Leben lang. Dabei ist die hermeneutische Grundannahme, dass das Alte Testament auf das Neue hinauslaufe und so als dessen Voraussetzung zu verstehen sei, bei Luther weder spezifisch noch neu; sie gilt bereits für das Neue Testament und mit großer Selbstverständlichkeit auch für die Kirchenväter und die mittelalterliche Theologie. Doch bei Luther wird sie mit besonderem Nachdruck zur Geltung gebracht. Nicht umsonst war er, anachronistisch gesprochen, seiner akademischen Disziplin nach »Alttestamentler«. Von den zweiunddreißig Jahren seiner Vorlesungstätigkeit waren achtundzwanzig dem Alten Testament gewidmet, darunter das letzte Lebensjahrzehnt ausschließlich dem Buch Genesis. 64 Kein Geschäft betrieb er intensiver als die Arbeit an der Übersetzung des Alten Testaments65 und deren immer neuer Revision66 – einer Übersetzung, die dieses Buch so nachdrücklich im deutschen Protestantismus verankerte, dass die Nationalsozialisten sie Luther als unverzeihliche Sünde anlas-teten.67

Wie im Neuen, so findet Luther auch im Alten Testament Gottes Wort in seiner doppelten Gestalt, als Forderung und Gnadenbotschaft, »Gesetz« und »Evangelium«. Doch haben beide für die Christen unterschiedliche Relevanz. Das alttestamentliche Gesetz ist die Lebensordnung, die Gott einst durch Mose den Juden gegeben hat, ein Corpus ethischer und ritueller Regeln, welche kontingent für dieses Volk bestimmt waren;68 andere Völker ging und geht der jüdische »Sachsenspiegel« nichts an, sie hatten und haben ihre eigenen.69 Allerdings steckt in einem Teil der jüdischen Gesetze, namentlich im Dekalog, ein Kern, der nicht kontingent und an das jüdische Volk gebunden ist. Dieser Kern ist das »natürliche«, allgemeine Sittengesetz, welches Gott allen Menschen ins Gewissen geschrieben hat und das alle Menschen bindet.70 Zugleich hat das Gesetz noch jene theologische, religiös gesehen wichtigste Funktion, von der bereits die Rede war: Es lässt den Menschen seine Sünden erkennen und treibt ihn so auf die Gnade, auf Christus hin – eine Funktion, die freilich erst von Christus her durchsichtig wird.

Diese Sicht des Gesetzes ist Teil von Luthers Rechtfertigungslehre und durchzieht sein ganzes Werk. Auffälligerweise steht nun aber in seinen sogenannten Judenschriften nicht das Gesetz im Mittelpunkt. Im Zentrum steht hier vielmehr das Evangelium im Alten Testament, die Botschaft von der Gnade Gottes in der Ge­schichte der Ureltern, der Erzväter und des Volkes Israel.71 Grund ist die schon genannte Konzentration dieser Schriften auf die Chris­tologie. Denn die alttestamentliche Botschaft von der Gnade Gottes läuft nach Luther auf das hinaus, worum es in der ganzen Heiligen Schrift letztlich geht, auf den Messias Jesus Christus: »sonderlich ists Gott zu thun umb die offenbarung und erkentnis seines Sons, durch die gantze Schrifft, Alts und Newen Testaments, Alles gehets auff den Son, Denn die Schrifft ist gegeben umb des Messia […] willen, der alles wider zurecht bringen sol« 72. Anders gesagt: Dass es auf den Messias hindeutet, ist das »Heubtstück« des Alten Testaments,73 er ist der »punct im Circkel«, von dem her alles in diesem Buch »aufgezogen« ist.74

Die Gegenwart Christi im Alten Testament ist eine doppelte, die des Subjektes und die des Objektes: Christus ist es, der darin spricht und in seinen Geschichten heilvoll handelt, und er ist es, dessen Kommen darin verheißen wird.75 Was die erste Weise seiner Gegenwart betrifft, so ist sie in der trinitarischen Einheit Gottes wie in der Einheit seines Heilswillens begründet. »Es ist kein andrer Gott«76, der die Welt geschaffen, Erzeltern, Patriarchen und Volk Israel geleitet hat und der als Gekreuzigter und Auferstandener die Erlösung der Welt vollbringt,77 wenngleich in trinitarischer Differenzierung und Relation zu sich selbst.78 Und es ist ein und derselbe Wille Gottes, die Welt in der Gemeinschaft mit sich zum Heil zu bringen, der die Geschichte von Anfang an durchzieht und nicht erst in der Inkarnation einsetzt.79 Wenn Luther in dieser Weise Christus bereits im Alten Testament am Werk sieht, dann tut er damit nichts Neues, sondern er schließt sich dem Neuen Testament an, dem Apostel Paulus, der in dem Felsen, von dem die Israeliten in der Wüste tranken, bereits Christus verborgen wirksam sah (1Kor 10,4),80 ja, Jesus selbst, der ausdrücklich gesagt hat: »[Mose] hat von mir geschrieben« (Joh 5,46).81

Doch in der vorinkarnatorischen Heilsgeschichte, von der das Alte Testament berichtet, handelt Christus nicht nur. Er spricht auch im Alten Testament; ja, vielfach besteht sein Handeln in seinem darin heute noch hörbaren Sprechen. Mit besonderem Nachdruck hört Luther ihn – anknüpfend an ältere Tradition – im Psalter, dessen Auslegung die erste Palmenvorlesung (Dictata) sogar mit einer Psaltervorrede aus Christi eigenem Mund (PRAEFATIO IHESU CHRISTI filii dei et domini nostri in Psalterium DAVID) beginnen lässt.82 Darin stellt Christus sich mit Joh 10,9 als »Tür« (ostium)83 zum Verständnis der Psalmen, indirekt des ganzen Alten Testamentes vor.84 Auf die Dauer wichtig sind die Psalmen als Chris­tuszeugnis für Luther freilich weniger, weil Christus in ihnen spricht, als deshalb, weil viele von ihm sprechen, weil sie Weissagungen Davids sind, die ihn, sein Leiden, Sterben und Auferstehen wie seine Herrschaft verheißen.85 Damit steht David neben den Propheten, die von dem kommenden Messias und seinem Reich gesprochen haben,86 neben anderen Gestalten des Alten Testaments, die dasselbe taten,87 aber auch neben Verheißungen, die Gott ohne Propheten hat ergehen lassen, nämlich denen an Adam in Gen 3,15 und an Abraham in Gen 22,18, die Luther ebenfalls als Ankündigungen des Messias deutet. Ja, quer durch das gesamte Alte Testament, seine Ansprachen und Geschichten gibt es immer wieder inhaltliche Überschüsse, die sich nach Luther nur als Hinweise auf den zu erwartenden Messias verstehen lassen – kein Wunder, ist dieser doch eben das »Hauptstück«, der »Mittelpunkt«, um den sich im Alten Testament letztlich alles dreht. 88

Indem die Propheten und anderen Verkünder von Messiasverheißungen Christus ankündigten, wollten sie nicht einfach zu­künftige Ereignisse voraussagen. Vielmehr wollten sie ihre Hörer dazu bringen, auf das zu erwartende Christusheil und damit auf den zu erwartenden Christus selbst zu vertrauen: »Hie [Hab 2,1] sihestu, das den propheten alles zuthun gewest ist, das sie das volck im glauben hielten auff den kunfftigen Christum.«89 Mit ihrer Verkündigung auf Christus hin haben sie dasselbe getan wie die Prediger des Neuen Testaments.90 Und das heißt im Blick auf ihre Adressaten: Indem sie den ihnen zuteilgewordenen Verheißungen des Messias vertrauten, waren Ureltern, Erzväter und Teile des Volkes Israel bereits ante Christum natum Christen.91 Die einzigen Unterschiede zu den später ausdrücklich so genannten Christen liegen darin, dass sie Christen waren auf das nur einer kleinen Gruppe, nicht schon aller Welt verkündigte Evangelium92 und auf das zukünftige, nicht auf das bereits geschehene Erscheinen des Erlösers hin – letzterer ein relativierbarer Unterschied, insofern auch die Christen post Christum natum im Glauben und noch nicht in der offenbaren Herrlichkeit leben.93

Da Luther mit der altkirchlichen und mittelalterlichen Theo-logie94 davon ausgeht, dass das Alte Testament evident auf Jesus Christus ausgerichtet ist, muss es ihm schlicht unverständlich erscheinen, dass so viele Juden, die das Alte Testament post Christum natum lesen, sich dieser Evidenz nicht beugen.95 Er kann ihren Widerspruch gegen das Offensichtliche nur als Ausdruck von Starrsinn betrachten, ja, ihre »Unverbesserlichkeit«96 je länger je mehr nur auf den Teufel97 oder auf Gottes Zorn98 zurückführen. Seine sogenannten Judenschriften arbeiten sich an dieser – wie er es sah – absurden Realitätsverweigerung ab. Sie bestehen zum größten Teil aus Exegesen alttestamentlicher Passagen, die immer wieder und immer neu die Ausrichtung des den Juden mit den Christen gemeinsamen Buches auf Christus hin aufweisen sollen.99 Und da es sich um den Aufweis eines evidenten Sachverhaltes handeln soll, ist der Modus, in dem er geboten wird, nicht der der Verkündigung, sondern des rationalen, vornehmlich des historischen Beweises.100 Gefragt ist nicht der Glaube, sondern der unvoreingenommene Verstand. Und so wird mit sich von Schrift zu Schrift wiederholenden und vermehrenden101 historischen Indizien und Berechnungen, die nicht nur die Geschichte Israels, sondern des Alten Orients und der Antike überhaupt ins Spiel bringen, das Erfülltsein der alttestamentlichen Verheißungen in Jesus Christus schlagend evident gemacht102 – hier »[treffen] schrifft und geschicht so geweltiglich mit eynander uber eyn«, dass »die Juden nichts [haben], das sie dawider muggen sagen«103.

Luthers Verfahren ist nicht neu, mit rationalen »Beweisen« und »Gegenbeweisen« hatten seit Jahrhunderten Christen und Juden ihren Anspruch auf das Alte Testament plausibel zu machen versucht;104 er kannte einschlägige christliche Werke und darin behandelte jüdische Argumente,105 übernahm Beweisgänge und verschiedentlich auch ganze Passagen daraus.106 Auffällig aber ist die zunehmende Verbissenheit, mit der Luther argumentiert und die schließlich, im Jahre 1543, zu einem Ausstoß von drei langen Schriften107 führt, welche überwiegend aus derartigen Beweisen bestehen, gewürzt mit der immer neuen Feststellung, angesichts solcher Evidenz könne der anhaltende Widerspruch der Juden nur auf Halsstarrigkeit zurückgehen. Diese erbitterte Redundanz verrät, dass Luther der jüdische Widerspruch mittlerweile gefähr-licher erschien, als er ihn früher eingeschätzt hatte. Bei der Vor-bereitung seiner exegetischen Vorlesungen hatte er ausführlich Sekundärliteratur studiert, der zu entnehmen war, wie rabbinische Theologen mit dem Alten Testament umgingen. 108 Hier trat ihm der Widerspruch gegen die christliche Deutung des Alten Testaments als geschlossene Auslegungstradition entgegen, die verstärkte Abwehr zu fordern schien.109 Einen wesentlichen Grund für den Irrweg, den diese Tradition darstelle, sah Luther im Talmud – auch das im Gefolge mittelalterlicher Theologen,110 allerdings beide kritisch parallelisierend: Das Judentum werde durch den Talmud wie die römische Theologie durch ihre nachbiblische Tradition daran gehindert, »die Schrift allein« und damit unvoreingenommen zu lesen.111

Doch so geballt Luther dem jüdischen Widerspruch die Evidenz der christlichen Auslegung des Alten Testaments entgegenstellte – Ausdruck der Erwartung, damit Juden in größerer Zahl zu überzeugen, war der Kraftakt nicht.112 Die eigentliche Herausforderung, der er mit den unermüdlichen christologischen »Beweisen« seiner späten Judenschriften begegnen wollte, sah Luther an anderer Stelle: Er fürchtete, die eigenen Leute könnten von den jüdischen Argumenten beeindruckt und selbst an der christlichen Deutung des Alten Testaments irrewerden.113 Bei einigen christlichen Hebraisten seiner Zeit meinte er solche »Ansteckung« bereits studieren zu können.114 Dieser Gefahr zu begegnen, war das exegetische Ziel seiner Judenschriften von 1543. Die Lösung des Humanisten Erasmus, das Alte Testament preiszugeben, kam für ihn nicht in Betracht.115 Das Alte Testament gehörte nach seiner theologischen Überzeugung wesenhaft zum Christentum hinzu, mit ihm würde den Christen auch das Neue Testament und damit ihr Glaube selbst verloren gehen.116 Indem er die Zusammengehörigkeit beider Testamente zum Gegenstand von Beweisen machte, statt sie der Einsicht des Glaubens zu überlassen, widersprach der Theologe des sola fide freilich seinen ureigensten Anliegen, denen er mit seiner Auslegung der Heiligen Schrift eigentlich dienen wollte.117

IV Ekklesiologie


In Jesus, dem Messias-Christus, ist Gott Mensch geworden als Erlöser aller Welt. Dieser universalistischen Christologie Luthers entspricht eine ebenso universalistische Ekklesiologie. Die Gemeinde der Erlösten ist an keinerlei lokale, temporale, ethnische, staatliche usw. Grenzen gebunden; sie ist katholisch in des Begriffes ur­sprünglicher Bedeutung. Geschaffen und verbunden ist sie durch das Evangelium, das, gleichermaßen universal, Menschen überall und zu allen Zeiten zum Glauben führt und darin erhält. So bilden sie Christi geistliches Königreich, 118 das auf Erden bestehen wird bis zum Ende der Welt.

Die Konsequenz dieser wohlbekannten Basissätze der Lutherschen Ekklesiologie liegt auf der Hand: Ein Gottesvolk, das ethnisch bestimmt und begrenzt oder auch territorial gebunden, staatlich verfasst oder an eine einzelne Organisation gekoppelt ist, kann es jedenfalls seit der Ankunft dieses Erlösers nicht geben. Es ist eine Konsequenz, die Luther gegen die römische Kirche ins Feld führt,119 die er aber vor allem den Juden vorhält. Ihr Anspruch, Volk Gottes im ethnischen Sinne zu sein, sei post Christum natum un­haltbar geworden.

Post Christum natum – d. h., vor diesem großen Einschnitt verhielt es sich anders. In der vor-inkarnatorischen Heilgeschichte hat für Luther das jüdische Volk durchaus als ethnische Einheit eine besondere Rolle gespielt. Nicht gleich zu Beginn, doch nach Adam und seinen frommen Nachkommen, nach Noah und seinen Söhnen und nach den Patriarchen120 hat Gott das Volk, das aus Abraham, Isaak und Jakob hervorging, erwählt und zum »volck Israel« gemacht, »sein[em] eygen volck«121. Ja, das »volck Juda« wurde zum »heubtstuck vom gantzen menschlichem geschlecht«, von »got ubir alle erhaben und geliebt«.122 So hat Gott dieses Volk auf seinem langen, im Alten Testament geschilderten Weg begleitet,123 hat er ihm ein Land verliehen und es ihm nach dem Exil wiedergegeben. Vor allem aber hat Gott ihm die Heilige Schrift, das Gesetz und die Propheten anvertraut,124 hat er ihm immer wieder den Messias verheißen.125

Wenn Luther in solcher Weise vom »Volk Israel« spricht, das Gott zu seinem eigenen gemacht habe, meint er ein Volk im ethnischen Sinn, das neben anderen Völkern steht. Er kann diese ethnische Dimension mit starken Worten hervorheben, etwa in seiner ersten Judenschrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, wo er, wie schon der Titel zeigt, den »Blutzusammenhang« des jüdischen Volkes bis hin zu Christus und den Aposteln, ja bis zu seinen jüdischen Zeitgenossen betont und einräumt, dass die Nichtjuden von diesem Vorzug ausgeschlossen seien.126 In der Römerbriefvorlesung, in der er angesichts des auszulegenden Textes diese Zusammenhänge erstmals eingehender bedachte, heißt es anlässlich von Röm 3,1–9 ausdrücklich, von Gott bevorzugt sei »das fleischliche Israel, das zugleich das Israel der Verheißung und Erwählung und das fleischliche Israel« sei (Carnalis Israel, qui simul est promissionis et electionis Israel et Israel carnalis).127 Andererseits lässt Luther keinen Zweifel daran, dass das Ethnische nicht genügt, der »Blutzusammenhang« allein (Carnalis Israel secundum semen tantum) keine hinreichende Grundlage für die Erfüllung der Verheißung ist.128 Die Erwählung zum Volk Gottes zielt vielmehr darauf, dass die Erwählten ihrem Erwähltsein geistlich entsprechen. Das ge­schieht, wenn sie anerkennen, dass sie, wie es in der Magnificatauslegung heißt, erwählt sind aus »lautter gnad und barmherzickeit gotis«, dass Gott »Israel angenummen [hat] […] umb seynisz eygen vorsprechensz willen.«129 Dies anzuerkennen heißt, Gott »sein got« sein zu lassen,130 auf ihn zu vertrauen, ihm zu glauben131– der rechtfertigungstheologische Zusammenhang von gratia und fides, der nach Luther von Anfang an und immer, seit der Urgeschichte bis zum Jüngsten Tag, das Verhältnis von Gott und Mensch be­stimmen soll.

Die Verbindung von Erwählung und ethnisch bestimmtem Gottesvolk, von Gnade und Blutszusammenhang findet Luther im Römerbrief und nach dessen Lektüre ausgiebig im Alten Testament. Dabei macht ihm ein Befund zu schaffen, der ebenfalls schon das Alte Testament beschäftigt: Nicht alle, die zu dem erwählten Volk gehörten und seine Gaben und Verheißungen empfangen hatten, entsprachen der ihnen damit erwiesenen Gnade Gottes, ja, die große Mehrheit tat es nicht. Statt sich ganz auf Gott zu verlassen und ihn so »ihren Gott« sein zu lassen, setzten sie ihr Vertrauen auf andere Götter. Luther sieht solchen Götzendienst nicht nur in der Hinwendung von Angehörigen des Volkes Israel zu anderen explizit so genannten Göttern, sondern vor allem in ihrem Vertrauen auf die eigene Kraft und Stärke, in die eigenen guten Werke. 132 Schon von den Propheten wurde das Volk immer wieder gemahnt, sein Vertrauen allein auf den gnädigen Gott zu setzen, doch die Mehrheit folgte den Mahnungen nicht, ja verfolgte die Mahner nur.133 Zugehörigkeit zum Blutszusammenhang des Gottesvolkes und Lebensvollzug traten auseinander.

Eine der Konsequenzen, die Luther aus diesem Befund zieht, ist ein doppelter Israelbegriff. In der Magnificatauslegung betont er zunächst die Heilsanwartschaft des ganzen erwählten Volkes, der gesamten Nachkommenschaft Abrahams, aller Juden. Doch dann stellt er fest: Die Gottes Barmherzigkeit an seinem Volk preisende Maria »scheydet […] den Israel in zwey stuck«, in das »teyl […], das got dienet«, indem es ihn »sein got sein« lässt,134 und jene, die das nicht tun. Israel, das erwählte Volk im engeren und eigentlichen Sinn sind Letztere nicht mehr, bei ihnen ist der Konnex zwischen der – ja weiterhin gegebenen – ethnischen Blutsverwandtschaft und Gottes Gnade zerrissen. Solche Scheidung innerhalb des Gottesvolkes hat es ausweislich des Alten Testamentes immer wieder gegeben,135 mehrmals schrumpfte der Teil, der das wahre Israel bildete, sogar auf einen bloßen »Rest« (reliquiae) zusammen.136 Einen solchen Rest gab es freilich immer. »Denn Gott bewahrte sich immer ein Volk, das an seinem Wort festhielt« (Semper enim reservavit Deus sibi populum, qui retineret verbum).137 Das aber hieß umgekehrt, dass das wahre Israel inmitten des ethnischen immer dort war, wo Gottes Wort war.138

Mit Jesus Christus erreichte diese die ganze alttestamentliche Geschichte durchziehende Differenzierung zwischen dem ethnischen und dem wahren Gottesvolk ihren Schlusspunkt. Zum einen, weil die Mehrheit der Juden Christus ablehnte. Anders als die Zurückweisung der Propheten hatte die Ablehnung des Messias Konsequenzen für den Status des bisherigen Gottesvolkes: »es ist wahr, das durch das wortlin ›Israel‹ allein die Juden verstanden werden und nit wir heyden, doch weil sie nit wollten yhn [den Messias] haben, hat [Gott] […] hynfurt geistlich Israel gemacht.« 139 D. h., Gott hat den Glauben, das Merkmal, das bislang das wahre Israel innerhalb des ethnischen charakterisiert hatte, vom Abstammungszusammenhang gelöst und zur alleinigen Grundlage der Zugehörigkeit zum Gottesvolk gemacht. In dem so definierten »geistlichen Israel« kann niemand mehr »von fleischlicher gepurt sich rumen, wie die juden thun«140. Zum anderen und vor allem aber wird »Israel« nun zu einer nicht mehr ethnisch, sondern rein geistlich bestimmten Größe, weil der Messias-Christus Jesus der Erlöser aller Welt, der Nichtjuden nicht weniger als der Juden, ist.141 Deshalb ist in dem Volk, das er sammelt, gleichermaßen Raum für Menschen, die aus den Heidenvölkern stammen. Sie werden mit den Juden, die sich dem Messias öffnen, durch Glauben und Taufe zum geistlichen Israel zusammengeschlossen. Die prophetische Gottesrede »Du bist mein Volk« (Hos 2,25), die an die Glaubenden im ethnischen Israel gerichtet war, wird entschränkt zu Christi Satz »Wer glaubt und getauft wird, der wird gerettet werden«, der den Glaubenden jedweder Herkunft gilt. 142 Dieses entschränkte, keine ethnischen Kategorien mehr kennende, rein geistliche Israel ist die Kirche.143

Wenn Gott »hynfurt geistlich Israel« ohne Voraussetzung blutmäßiger Verwandtschaft »gemacht« hat, heißt das dann, er gehe einfach darüber hinweg, dass er seine Gnadenverheißungen einst auf der Grundlage blutmäßiger Verwandtschaft gab? In der Magnificatauslegung kommt Luther diesem möglichen Einwand zuvor, indem er darauf hinweist, dass nicht alle Juden abseits geblieben sind, das »geistliche Israel« also nicht nur aus Gliedern besteht, die heidnischen Völkern entstammen. In den Juden, die Jesus Christus annahmen, kamen wie bei den wahrhaft glaubenden Juden der Zeit vor Christus ethnisches Israel und geistliches Israel noch einmal zusammen. Und in ihnen löste Gott, der sie sich dazu erwählt hat, die in der Bindung an die Abstammung ergangenen Verheißungen ein. Die Jesus Christus annehmenden Juden, das heißt vor allem die gesamte Urgemeinde und Apostelschar, aber auch jene, die sich seither gegen die Mehrheit ihrer Abstammungsgenossen ihrem Messias-Christus anschließen, sind das Scharnier, das das ethnisch-geistliche und das rein geistliche Israel verbindet. 144 Solches Scharnier sind sie aber als Teil des entschränkten, größeren Ganzen, des Gottesvolkes, das Menschen aus allen Völkern, aus »Juden und Griechen« (1Kor 1,24; 12,13) umfasst.145 Diese Entschränkung zurückzuweisen und sich stattdessen weiterhin auf die einst an den Blutszusammenhang gebundenen partikularen Gnadenvorzüge zu berufen, heißt für Luther, die allen Menschen gleichermaßen geltende Voraussetzungslosigkeit zu leugnen, die in Jesus Christus als Kennzeichen der Gnade Gottes offenbar ge­worden ist, und stellt so in seinen Augen den Inbegriff des Hochmuts dar.146

Anderslautende Äußerungen finden sich bei Luther ganz selten. Es sind nur jene Passagen aus der Vorlesung über den Römerbrief und verwandten Stellen, von denen schon die Rede war.147 Im Römerbrief sieht Luther eine Einlösung der Heilsverheißung Gottes angedeutet, die sich nicht auf die schon zu Christus bekehrten und noch bekehrungswilligen einzelnen Juden beschränkt, sondern am Ende der Zeiten das gesamte Volk als ethnische Einheit – die tota Massa Iudaici populi – umfasst.148 Verwirklicht wird die Verheißung aber auch hier nicht anders als bei denen, die schon vorher dazugestoßen sind: durch Christus, der der Erlöser der Menschen aus allen Völkern ist, und im Glauben an ihn, zu dem am Ende der Zeiten auch die vorderhand ablehnenden Juden gelangen werden.149 So wird, was Luther sonst im Christusglauben von Apos­telschar und Urgemeinde und der ihnen folgenden Juden eingelöst sieht, nach diesen Passagen für alle Juden eingelöst: dass ethnische und geistliche Dimension wieder zur Deckung kommen und Gott seine Verheißung auch gegenüber dem ethnischen Israel er­füllt.150

V Zwei-Regimenten-Lehre


Alles in allem, so lässt sich das bisher Gesagte zusammenfassen, bewegen sich Martin Luthers Aussagen über die Juden hinsichtlich der vier behandelten Topoi in den Koordinaten seiner auch sonst vertretenen Theologie – mit der allerdings bemerkenswerten und folgenreichen Ausnahme seines Umgangs mit dem Alten Testament, der von diesen Koordinaten abweicht, insofern dessen chris­tologische Lesart nicht als Sicht des Glaubens vorgetragen, sondern über ein rationales Beweisverfahren eingefordert wird. Auch nennenswerte theologische Veränderungen lassen sich hinsichtlich jener Themen in Luthers Ausführungen über die Juden nicht feststellen, sieht man von der zeitweilig vertretenen Auffassung ab, dass im Blick auf das Judentum auch nach dem Erscheinen Jesu Christi ein ethnischer Volksbegriff religiös relevant sei. Aufs Ganze gesehen geht aus Luthers Ausführungen über das Judentum das einheitliche Bild eines Glaubens hervor, welcher sich vom Chris-tentum durch tiefgreifende, heilsrelevante Gegensätze unterscheidet, und das, obwohl er, anders als alle Fremdreligionen, in sich beweisbar auf Jesus Christus hin geordnet ist, weshalb die Gegensätze den Anhängern dieses Glaubens selber anzulasten sind.

So durchgängig sich bei Luther dieses eine selbe Bild ergibt, lässt sich aber doch ein Punkt ausmachen, an dem seine Haltung gegenüber dem Judentum sich tiefgreifend gewandelt hat. Dramatisch ablesbar ist der Wandel an der Differenz zwischen seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei von 1523 und der Schrift Von den Juden und ihren Lügen von 1543. Dabei ist vorweg zu sagen, dass sich hinsichtlich der theologischen Einschätzung des Judentums diese beiden Schriften nicht unterscheiden; auch der kleine Traktat von 1523 zeichnet im Wesentlichen dasselbe Bild, das gerade skizziert wurde. Tief geschieden aber sind die Schriften von 1523 und 1543 in der Frage, wie die christliche Mehrheitsgesellschaft mit denen umzugehen hat, die ihrem, dem christlichen, Glauben so fundamental widersprechen. Die erste Schrift schließt mit dem bahnbrechenden, auch unter den jüdischen Zeitgenossen Aufsehen erregenden Appell, von der bisherigen Politik der Diffamierung, Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden abzulassen, sie unbeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen und ihnen fair und liebevoll zu begegnen. 151 Die zwanzig Jahre später erscheinende Schrift fordert die protestantischen Obrigkeiten auf, Juden, falls es sie in ihren Gebieten gebe, nach dem Vorbild anderer europäischer Länder zu vertreiben oder, wenn das nicht möglich sei, zumindest ihre religiöse und soziale Infrastruktur zu zerstören und ihnen einen sklavenähnlichen Zustand zuzuweisen.152

Dieser Wandel, dessen Zwischenstufen wir hier überschlagen, wurde und wird häufig damit erklärt, dass Luther 1523 nur deshalb für ein anderes Verhalten gegenüber den Juden plädiert habe, um sie effektiver zu missionieren, und dass er, als er sich in dieser Er­wartung enttäuscht sah, umso heftiger auf sie eingeschlagen habe. Doch greift diese Erklärung zu kurz. Gewiss bescheinigt Luther 1523 dem bislang üblichen Umgang mit den Juden, sie vom Chris­tentum regelrecht abgestoßen zu haben,153 hofft er, mit einer glaubwürdigeren Präsentation des Evangeliums »villeicht auch der Juden ettliche […] tzum Christen Glauben [zu] reizen«154. Doch gehen seine Argumente im Konversionsstrategischen nicht auf. Nicht allein, weil Luther mit keinem großen, geschweige denn flächendeckenden Missionserfolg, sondern nur mit »einigen« (ettlichen) rechnet, die »herbeikommen möchten«155. Sondern vor allem, weil er feststellt, wenn nur einige Juden Christen würden, andere aber »halsstarrig« blieben, mache das nichts aus – seien die Anhänger der Mehrheitsreligion »doch auch nicht alle gute Christen.«156 D. h., ebenso wie das Nebeneinander von wahrhaften und scheinhaften Christen in der Kirche zu ertragen ist, so auch das Nebeneinander von Anhängern des wahren, christlichen Glaubens und dessen religiös in die Irre gehenden jüdischen Bestreitern in der Gesellschaft. Den Versuch früherer Zeiten, dieses Nebeneinander durch politisch-sozialen Druck aufzulösen und so ein religiös geschlossenes corpus Christianum herzustellen, weist er zurück.157

Es ist kein Zufall, dass Luther in demselben Frühjahr 1523, in dem er an Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei saß, eine andere Schrift zum Druck brachte: Von weltlicher Obrigkeit.158 Also die Schrift, in der er erstmals jene Einsichten präsentierte, die gemeinhin als seine Konzeption von den »Zwei Regimenten« oder »Zwei Reichen« bezeichnet werden. Im judenpolitischen Plädoyer des Schlussabschnitts von Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei klingen genau diese Einsichten an. Dass politischer Druck in Fragen des Glaubens schlechthin illegitim sei, weil über die Seele nur Gott herrsche,159 was er allein und unverfügbar durch sein Wort tue;160 und dass das politische Gemeinwesen auch die Auseinandersetzung mit falscher theologischer Lehre dem Wort Gottes überlassen und deren Verbreitung zulassen müsse161 – ebendiese in der Obrigkeitsschrift vorgebrachten Maximen werden in Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei auf das Verhältnis zu den Juden angewandt.162 Das ist in der Tat nichts Geringeres als die Infragestellung der alten politischen Leitidee des Abendlandes, der Leitidee des kirchlich-weltlichen corpus christianum. Stattdessen wird die Vereinbarkeit eines gleichberechtigten gesellschaftlichen Zusammenlebens einerseits und religiöser Differenz mit konkurrierenden Wahrheitsgewissheiten und Heilserwartungen andererseits ins Auge gefasst. »Wie gewagt und in ihrer langfristigen Tragweite unabsehbar Luther selber offenbar diese Infragestellung« des jahrhundertelang Selbstverständlichen erschien, »zeigt seine ab­schließende Ankündigung,< /span>163 er werde nach einiger Zeit überprüfen, was er mit seiner Schrift ausgelöst habe«164.

Luther hat auf die Dauer nicht durchgehalten, was er 1523 zu denken und zu fordern wagte – darin liegt der schreiende Gegensatz begründet, der die Schrift Von den Juden und ihren Lügen von ihrer zwanzig Jahre älteren Schwester trennt. Wenn er nun das damalige Plädoyer für ein ungehindertes Zusammenleben von Christen und jüdischen Bestreitern des Christentums revidierte und deren obrigkeitliche Vertreibung oder verschärfte Unterdrü-ckung verlangte, dann steht dahinter die Abkehr von wesentlichen Einsichten der Zwei-Regimente-Konzeption, die Rückkehr zum Modell des corpus christianum im Sinne eines Raumes ein und derselben öffentlich zu praktizierenden Religion.165 In dieser Rückkehr zur überlieferten gesellschaftspolitischen Leitidee, die sich auch an anderen Punkten feststellen lässt, schlägt sich die gegenüber den frühen zwanziger Jahren veränderte Lage der Reformation nieder, die aus einer Bewegung kleiner, sich Schritt für Schritt neu organisierender Gruppen zur kirchlichen Institution geworden war. In dem Maße, in dem das geschah, passte man sie in den territorial-volkskirchlichen Rahmen ein, der vom Mittelalter her geläufig war, den Rahmen der von Kirche und Obrigkeit bei rechter Lehre und Glaubenspraxis gehaltenen christlichen, nun evangelisch-christlichen Gesamtgesellschaft. Für eine den christlichen Glauben so fundamental infrage stellende Gruppe wie die Juden konnte dort kein Platz mehr sein.

Nirgendwo zeigt sich diese Abkehr von den Einsichten des Jahres 1523 so deutlich wie an dem Argument, mit dem Luther seine judenpolitischen Forderungen von 1543 vor allem begründet, dem schon genannten Vorwurf der Gotteslästerung: Juden müssten aus einem christlichen Gemeinwesen vertrieben oder hier zumindest extrem eingeschränkt werden, weil sie Lästerreden gegen den Gottessohn, die Trinität, die Gottesmutter führten. Denn im Alten Testament werde gefordert, erbarmungslos gegen Gotteslästerer einzuschreiten, weil es sich bei dieser Sünde nicht nur um einen ihr eigenes Seelenheil betreffenden, sondern einen öffentlichen, das ganze Land ins Verderben ziehenden Tatbestand handle (Dtn 13, 13–19; Ex 32,25–28166).167 Mit anderen Worten: Luther nimmt nicht nur die alte Leitidee des christlichen Gemeinwesens wieder auf, sondern er stützt sie auch noch ab mit dem Rückgriff auf das theokratische Modell des Alten Testaments. Nicht umsonst verweisen seine judenfeindlichen Ratschläge bis in einzelne Formulierungen hinein auf alttestamentliche Vorschriften zur Abwehr falscher Re­ligion – auch die Maxime, dass »der Juden Sachsenspiegel« Chris­ten nicht binden könne, ist vergessen. Der Reformator, der gefordert hatte, Glaube und Politik zu entkoppeln, war in religionsgeschicht­lich archaische Vorstellungen, der Verfechter einer theologisch be­gründeten Selektion im Umgang mit der Heiligen Schrift 168 in unkritischen Biblizismus zurückgefallen.

Schluss


Von Philipp Jakob Spener, der einflussreichsten Gestalt der deutschen evangelischen Kirchengeschichte nach Martin Luther, stammt der Satz: Luther ist »nicht in allem unser Lehrer«.169 Der Elsässer Theologe, der mit Luthers Œuvre vertraut war wie kaum ein Zeitgenosse neben ihm und der die Lutherrezeption für Jahrhunderte in neue Bahnen lenkte,170 wusste, was er sagte. »Nicht in allem unser Lehrer« – das heißt zugleich: in anderem doch. Das eine vom anderen zu unterscheiden ist die Meisteraufgabe, die luthe-rische Theologen zu lösen haben.
Abstract


The article deals with the question of how Martin Luther’s atti-tude to the Jews is related to his theology. It pursues three aims: a) to understand more precisely the theological motives behind Luther's attitude towards the Jews, b) to find out whether question­able traits of his theology as such come to the fore in his attitude towards the Jews, c) to see what would be the costs of possible changes in the theological view of Judaism for the whole of theol­ogy. The inquiry focusses on the following theologicaltopics: the doctrine of justification, Christology, hermeneutics, of the Old Testament, ecclesiology, and the conception of the two kingdoms.

*) Vortrag auf der Klausurtagung der Lutherischen Bischofskonferenz am 15. März 2015 in Meißen.

Fussnoten:

1) WA 55/1 und 2. Da Luther, mit dem Großteil der Tradition, den Psalter chris­tologisch deutet und da er ihn näherhin, anknüpfend an Mt 27,35.39.43.46 par., dem Literalsinn nach als Wort Christi, des Inkarnierten, von dessen Geburt bis zu Tod und Auferstehung versteht, sieht er in den Feinden, die in den Psalmen auftauchen, vor allem die zeitgenössischen Feinde dieses Christus, die Juden jener Zeit, die in den Juden seiner, Luthers, eigenen Zeit ihre Nachfolger haben. Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas »Der gantz Jüdisch glaub« [1530/31]. Stuttgart 2002, 73 f.: Weil für Luther in den Psalmen »der inkarnierte und der mit diesem identische gekreuzigte Christus« spricht, »werden die Feinde Gottes oder des Gottesvolkes in den Psalmen geradezu unvermeidlich zu Feinden des Crucifixus«. So ausdrücklich in einer Bemerkung zum Psalter des Faber Stapulensis, von dem Luther gerade hinsichtlich seiner christologischen Deutung stark abhängig ist: quia de domino loquitur [sc. Ps. 1], ergo de impiis sibi contemporaneis (WA 4, 468,25 [Adnotationes Quincuplici Psalterio adscriptae]). Die Tatsache, dass in sehr vielen Psalmen über die Feinde geklagt und Gottes Eingreifen gegen sie erfleht wird, führt unter der genannten hermeneutischen Voraussetzung dazu, dass die Rede von den Juden als inimici in den Dictata eine außerordentlich große Rolle spielt. Vgl. aus der reichhaltigen Literatur zu den Dictata für unsere Zusammenhänge besonders Gerhard Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: Ders., Lutherstudien I. Tübingen 1971, 1–68; dens., Luthers Psalterdruck von 1513, a. a. O., 69–131; Tarald Rasmussen, Inimici Ecclesiae. Das ekklesiologische Feindbild in Luthers »Dictata super Psalterium« (1513–1515) im Horizont der theologischen Tradition. Leiden u. a. 1989; Osten-Sacken, a. a. O., 47–74.
2) WA 1, 20–122.
3) WA 55/2, 69,20 f. (Dictata super Psalterium).
4) WA 1, 81,18 f. (Predigt vom Bartholomäustag 1516); s. auch 55/2, 54,22 f. (Dictata super Psalterium); 56,40,26 f. (Römerbriefvorlesung, 1515/16); 7, 567,26 f. (Magnificatauslegung, 1521).
5) WA 1, 110,5.19 f. (Predigt vom Vierten Advent 1516); 55/1, 52,10 (Dictata super Psalterium); 56, 37,11 f. (Römerbriefvorlesung).
6) WA 1, 110,25–111,14 (Predigt vom Vierten Advent 1516); 56, 40,26 (Römerbriefvorlesung).
7) WA 14, 626,7 f. (Deuteronomion cum ann., 1525).
8) WA 7, 595,35 (Magnificatauslegung). Vgl. WA 5, 449,1–19 (Operationes in Psalmos, 1519–1521).
9) WA 1, 110,2–10 (Predigt vom Vierten Advent 1516); 5, 449,19–26; 453,10–31 (Operationes in Psalmos).
10) WA 55/2, 52,10–15 (Dictata super Psalterium); 1, 109,32–110,5 (Predigt vom Vierten Advent 1516); 56, 37,9 (Römerbriefvorlesung).
11) WA 1, 110,12–36 (Predigt vom Vierten Advent 1516); s. auch 56, 264,31–34 (Römerbriefvorlesung).
12) WA 56, 35,21–36,1 (Römerbriefvorlesung); 7, 567,26–28 (Magnificatauslegung).
13) WA 7, 600,10–16 (Magnificatauslegung).
14) Das fällt besonders in der ersten Psalmenvorlesung (Dictata) auf, in den folgenden Jahren tritt im Zuge der sich steigernden Auseinandersetzung mit der römischen Front die Kritik an den Juden zurück, »werden die Juden seit ca. 1520/21 sogar milder beurteilt« (Thomas Kaufmann, Luthers Juden. Stuttgart 2014, 53). Auch aus theologischen Gründen wird ihr Bild, und zwar schon seit der Römerbriefvorlesung (1515/16), heller (s. u. 1041 f.). Seither werden die papis-tischen Theologen weniger zusammen mit den Juden kritisiert als wegen ihres überheblichen Verhaltens gegenüber den Juden an den Pranger gestellt (WA 56, 436,13–20), was in scharfe Kritik an der Unterdrückung und Verfolgung der Juden durch die zeitgenössische Christenheit mündet (z. B. a. a. O., 436,22 f.; WA 57/III, 168,5–7 [Hebräerbriefvorlesung, 1517/18]; WA 5, 428,32–429,6 [Operationes in Psalmos]), wie sie dann programmatisch in Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei vorgebracht wird. In späteren Zeiten taucht die Parallele von Juden und römischer Kirche, jetzt weniger rechtfertigungstheologisch zugespitzt denn als – oft noch um weitere Gegner wie die Türken bereicherte – Phalanx endzeitlicher Feinde der wahren Kirche präsentiert, mit Macht wieder auf (z. B. WA 45, 615,2–4 [Auslegung von Joh 14 und 15, 1538]; 53, 449,22–28 [Von den Juden und ihren Lügen, 1543]; 54, 37,33–6; 99,29–31 [Von den letzten Worten Davids, 1543]).
15) WA 1, 81,18 f. (Predigt am Bartholomäustag 1516).
16) WA 55/2, 112,10 f.; 167,14–20; 835,13 f.
17) WA 55/2, 14,2–4: »Ideo adhuc hodie eum ›crucifigunt in semetipsis‹, ut eos Apostolus arguit [Hebr 6,6], Quia tenent veritatem confixam et in mendacio suo ferreo et durissimo (qui sunt ›clavi‹ eorum) eam configunt.« Nicht anders hätten sie das einst mit ihren Propheten getan und täten es mit der falschen Auslegung von deren Worten bis heute (WA 55/2, 14,6 f.). In diesem existentialen Sinne gilt, was Osten-Sacken (wie Anm. 1), 50, schreibt, dass nämlich »A und O von Luthers Aussagen über die Juden in seiner ersten Psalmenvorlesung […] die ihnen angelastete Kreuzigung Jesu [sei]«; im traditionellerweise vorherrschenden Sinn der Tötung Jesu auf Golgatha spielt dieser Vorwurf eine weit geringere Rolle.
18) WA 55/2, 167,7–8: »Christus usque hodie conspuitur, occiditur, flagellatur, crucifigitur in nobis ipsis« (im Text gesperrt). Vgl. auch 540, 185–189: »Et videbimus, quomodo psalmus totus in nos, i. e. Iudaeos, hereticos et superbos, verba dirigit […]. Et quidem Iudaei tempore Christi et Apostolorum hoc primo faecerunt, deinde heretici, Tercio nos miseri pessimi Christiani« (erster Satz im Text gesperrt). S. auch WA 9, 653,15–17 (Predigt vom Karfreitag 1521): »Wan ich sehe, das ichs zcwgericht habe, daß Christus ßo leyden muß, ist nicht muglich, das ich eynnen sunder müge vorachten auff erden.«; WA 28, 233,11–15 (Wochenpredigt vom 21. Nov. 1528): »Wer nu Christus leiden recht lesen wil, der sol nicht zornig sein auff Judam und die Jüden, sondern anschawen diese Person, so da sagt ›Ich bins‹.«, ferner die Umdichtung des vorreformatorischen Passionsliedes »O du armer Judas«, in dem Luther an die Stelle des antijüdischen Originals die Zeilen setzte: »Drumb wir dich, armer Juda, darzu der Jüden schar, Nicht feintlich dürfen schelten; die schult ist unser zwar« (AWA 4,314). Vgl. Heiko Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Berlin 1981,164. Zur Solidarität der Schuld mit den Juden und ihren Grenzen speziell in der ersten Psalmenvorlesung vgl. Osten-Sacken (wie Anm. 1), 55–57.
19) Vgl. etwa die Schmalkaldischen Artikel, II. Teil, Art. 1. Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion. Tübingen 2015, 9, hebt Luthers Einordnung des einen und des anderen voneinander ab, indem er zwischen den im Verhältnis zu den römischen Gegnern unstrittigen »Grundlagen« der christlichen Religion und dem mit ihnen strittigen »Grundverständnis« unterscheidet.
20) In Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523) wird den Juden ausschließlich ein christologisches Defizit bescheinigt, es gibt keinerlei rechtfertigungstheologische Kritik, sieht man von gelegentlich gestreiften (WA 11, 330, 16–20) rechtfertigungstheologischen Implikationen der christologischen Kritik ab – ja, es wird ausdrücklich gesagt, dass sich den Juden die richtige Rechtfertigungslehre erst erschließen könne, wenn sie Christus richtig sähen, und dass sie deshalb solange zurückzustellen sei (WA 11, 330,20–22; s. auch 328,19 f.). In den Schriften Wider die Sabbather (1538) und Von den letzten Worten Davids (1543) wird der Vorwurf der Werkgerechtigkeit überhaupt nicht erhoben, in der Schrift Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (1543) einmal (WA 53, 622,12 f.). Auch in Von den Juden und ihren Lügen (1543) stehen die christologischen Argumente ganz im Vordergrund. In einem kürzeren Teil über den falschen »Rhum vom Geblüt, Beschneittung und Gesetz« (WA 53, 442,9 f.), d. h. über den Anspruch der Juden, durch Abstammung, Beschneidung, Empfang des göttlichen Gesetzes sowie die einstigen Gaben des Landes Kanaan, der Stadt Jerusalem und des Tempels (446,20) vor allen anderen Menschen als auserwähltes Volk hervorgehoben zu sein, wird im Zusammenhang der Beschneidung die rechtfertigungstheologische Kritik vorgebracht, die Juden hätten aus diesem Ritus ein opus operatum gemacht wie die Papisten aus der Messe (a. a. O., 435,15–437,14; 438,5, Verallgemeinerung 439,14 f.; 447,20 f.; 448,3–27).
21) David Berger, Christians, Gentiles, and the Talmud: A Fourteenth-Century Jewish Response to the Attack on Rabbinic Judaism (in: Bernard Lewis/Friedrich Niewöhner [Hrsg.], Religionsgespräche im Mittelalter. Wiesbaden 1992, 115–130), 115. Zu diesem Zentralpunkt in den christlichen Beiträgen zur mittelalterlichen christlich-jüdischen Kontroverse, deren Argumente zum Teil bei Luther wiederkehren, vgl. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.–13. Jahrhundert). Frankfurt u. a. 1991 (2. Aufl.), und ders., Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13.–20. Jahrhundert). Frankfurt 1994, Teil I–IV, passim.
22) WA 53, 449,3 (Von den Juden und ihren Lügen). Deshalb geht die Aussage Södings an den Quellen vorbei, dass die destruktiven Forderungen in Luthers späten Judenschriften auf »das Prinzip ›Allein der Glaube‹ (sola fide [sic!])« und damit auf die reformatorische Rechtfertigungslehre zurückzuführen seien – wenn überhaupt, müsste man sagen, sie gingen auf das »Allein Christus« (solus Christus) zurück (Thomas Söding, Ich bin ein Christ. Ratlos vor religiöser Gewalt? Die Verantwortung der Kirche, in: Christ in der Gegenwart 67 [2015], 41). Wie wenig jene Ableitung zutrifft, zeigt auch Luthers – mit seiner ablehnenden Haltung zu den Juden unmittelbar verbundene – Hermeneutik des Alten Testaments, in der er das sola fide zugunsten eines Pochens auf Vernunftevidenz gerade beiseiteschiebt (s. u. III).
23) Mit der oben (Anm. 19) angeführten Unterscheidung von Schwarz zwischen den »Grundlagen« der christlichen Religion und deren »Grundverständnis« könnte man Luthers Einschätzung so charakterisieren, dass, während etwa im Verhältnis zu den römischen Gegnern das »Grundverständnis« strittig ist, die »Grundlagen« aber gemeinsam sind, von den Juden auch die »Grundlagen« bestritten werden.
24) Insofern trifft es den Sachverhalt nicht genau, wenn Kaufmann mit schlichter Parallelisierung formuliert, Luthers Bild von den Juden sei die »Schattenseite seiner Christusliebe, seines Rechtfertigungsglaubens« – es ist die »Schattenseite« der ersteren in einem fundamentaleren und unmittelbareren Sinn, weshalb auch Luthers Verletztheit und Empörung an dieser Stelle ausbricht (Thomas Kaufmann, Luthers Bild der Juden. Die Schattenseite seines Rechtfertigungsglaubens. In: Blickpunkte. Materialien zu Christentum, Judentum, Israel und Nahost 2015, Nr. 1, 5–11, Zitat: 10; der Titel des Beitrags, der Kaufmanns Satz verkürzt, entfernt sich noch weiter von diesem Sachverhalt).
25) WA 11, 35,25 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei); 50, 322,26 f. (Wider die Sabbather); 53, 620,33–37; 621,26 f. (Vom Schem Hamphoras).
26) WA 11, 315,19.31 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
27) WA 11, 315,26.
28) WA 11, 317,11; s. auch 42, 141–147 (Genesisvorlesung, 1535–1545); 53, 28 (Suppositatio annorum mundi, 1541); 484,11–14 (Von den Juden und ihren Lügen); 638,30–34 (Vom Schem Hamphoras); 54, 70,9–72,31 (Von den letzten Worten Davids). Vgl. zu diesem Thema Ulrich Asendorf, Lectura in Biblia, Luthers Genesisvorlesung (1535–1545). Göttingen 1998, Kapitel II.1.
29) WA 11, 326,26 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
30) WA 11, 326,35 f.
31) WA 11, 333,25–33.
32) WA 11, 328,9–17.
33) WADB 12/2, 124,15–20 (Vorrede zum Danielbuch, 1545).
34) WA 7, 219,26–220,4; 223,23 f. (Eine kurze Form des Zehn Gebote, des Glaubens, des Vaterunsers, 1520); 10/1/2, 116,17–117,13 (Adventspostille, 1522); 14, 72,1–4/15–25 (Predigten über 2. Petrus- und Judasbrief, 1523/24); 37, 68,35–39 (Os- ­terpredigt 1533); 39/1, 177,5 f. (Disputatio de homine, 1536); 49, 505,10–20/29–39; 509,13.37–510,17/32 (Predigt am 6. Juli 1544).
35) WA 11, 329,25; s. auch 328,2 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
36) WA 11, 330,16.
37) WA 11, 328,18 f. S. auch WA 53, 543,24–37 die breite Schilderung der geistlichen Güter, die der Messias Christus gebracht habe und immer wieder bringe: Gottes Vergebung, Freude, die Gewissheit des ewigen Lebens.
38) WA 11, 328,30.
39) WA 55/2, 532,724 (Dictata super Psalterium).
40) WA 55/2, 68,2 f.; 565,919 f.; s. auch 45, 47,24 f.l (Von den letzten Worten Davids).
41) WA 42, 450,33–36 (Genesisvorlesung): [Iudaei] expectant Messiam, qui omnes Gentes contundat, et Iudaeis corporale regnum restituat in omnes gentes. Sicut Assuero factum est. Tum enim magna fuit Iudaeorum potentia et dignitas.
42) WA 53, 608,25 (Von den Juden und ihren Lügen).
43) WA 1, 109,24–29: Sic de Iudaeis cognovimus, quod et ipsi Christum expectabant, sicut et adhuc expectant, hoc autem imperiti, quod eum voluerunt eo modo venire, quo sibi placuit […]. Quia vero alio modo venit, adhuc eum expectant et non recipiunt, Scilicet quia in apparatu seculari et pompa carnis non venit, non suscipiunt eum, qui carnaliter sapiunt (Predigt am Vierten Advent 1516).
44) WA 55/2, 532,721–724: Quod enim Iudei eum non cognoscunt et absconditus ac sublatus est ab eis, facit humilitas, afflictio, angustia et Iudicium et damnatio, quam sustinuit. Ipsi enim suum Messiam talem non sperant, Sed solum in gloria, potestate, virtute etc.
45) WA 53, 608,19–25 (Von den Juden und ihren Lügen).
46) WA 11, 336,14 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
47) WA 11, 336,14–19 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
48) In Von den Juden und ihren Lügen wird er fordern, den Juden die Lehren von der Gottessohnschaft Christi und der Trinität von vorneherein nicht zu ersparen, und damit sein pädagogisches Zugeständnis von 1523 zurücknehmen (WA 53, 532,7–33). In der kurz darauf geschriebenen Schrift Von den letzten Worten Davids (WA 54, 28–100) »beweist« er dann die Erkenntnis des Gottseins Christi und der Trinität ausführlich als verpflichtende Wahrheit aus dem Alten Testament (s. z. B. 55,21–56,4). Damit liefert er, obwohl diese Schrift eigentlich nur noch der innerchristlichen Selbstvergewisserung dienen soll, in gewisser Weise den 1523 in Aussicht gestellten »Wein« nach (vgl. Osten-Sacken [wie Anm. 1], 141 f.).
49) S. u. Abschnitt III.
50) WA 11, 336,22–24.33 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei). Damit nimmt er die Argumentation der Kirchenväter und der mittelalterlichen Judentumstheologie auf (s. u. 1046 f.).
51) WABr 1, 24,43 f. (Brief an Spalatin vom Februar 1514); entsprechende Belege gibt es, von den sogleich zu nennenden Ausnahmen abgesehen, aus allen Lebensphasen, z. B. WA 19, 606,21 (Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn, 1526); 50, 335,24 f. (Wider die Sabbather, 1538).
52) WA 56, 436,25–438,26. Die anderen Stellen sind die in Anm. 56 genannten Passagen der Hoseavorlesung. Ferner eine Passage zu Ps 14 in der zweiten Psalmenvorlesung Operationes in Psalmos (WA 5, 427,22–32, vgl. dazu Osten-Sacken [wie Anm. 1], 83, dort [Anm. 256] auch der Hinweis auf das Psalmlied Luthers nach Ps 14 »Es spricht der Unweisen Mund wohl«, das die Gedanken der Vorlesung aufnimmt). Weiter die Kirchenpostille von 1522, genauer, die darin enthaltene Evangeliumspredigt zum Stephanstag (WA 10/1/1, 287,15–289,10), die, ausgehend von Mt 23,34–39, aber Bezug nehmend auch auf Röm 11,25 f., von der Errettung ganz Israels am Ende der Zeiten spricht. Die Lutherische Orthodoxie veränderte diese Stelle, weil sie nicht in Einklang mit den von den orthodoxen Theologen hochgehaltenen Aussagen Luthers steht, wonach nicht mit einer Bekehrung aller Juden zu rechnen ist. Im Pietismus wurde hingegen, unter heftigem orthodoxen Trommelfeuer, der ursprüngliche Wortlaut wiederhergestellt und die Stelle für die pietistische Überzeugung von der Umkehr der Juden ins Feld geführt (vgl. Johannes Wallmann, Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden [in: Hartmut Lehmann {Hrsg.}, Glaubenswelt und Lebenswelt. Geschichte des Pietismus Bd. 4. Göttingen 2004, 143–165], 146–149). Nach zwei späteren Predigten (1539) über Mt 23 und 24 will Luther die endzeitliche Bekehrung ganz Israels jedenfalls nicht für unmöglich erklären (WA 47, 545,7 f.; 571,2–4), an der ersten Stelle mit deutlichem Anklang an die demselben Text geltende Predigt der Kirchenpostille, die freilich mit Bestimmtheit sagt, was die spätere Predigt nur nicht ausschließen will. Angesichts des Kontrastes dieser Stellen zu allen sonstigen Äußerungen Luthers seit Jahren fragt Heinrich Bornkamm, Luther und das Alte Testament. Tübingen 1948, 67, Anm. 5, ob hier nicht von Aurifaber bei der Bearbeitung der Matthäuspredigten von 1537–1540 die Akzente verschoben wurden. Andererseits spricht der Befund, dass die späteren Predigten eben nicht den gewissen Ton der früheren Predigt übernehmen, sondern sich deutlich zurückhaltender äußern, dafür, dass diese Sätze auf Luther selbst zurückgehen, der möglicherweise auf seine eigene frühere Predigt über denselben Text zurückgriff, nun aber nicht mehr genauso sprechen wollte.
53) WA 56, 438,19–21: Christus ergo Iudaeis nondum venit, Sed veniet, scil. in novissimo […]. Sic enim oportet Apostolum Exponi, de adventu mystico in Iudaeos. S. auch WA 5, 428,27–30: Addit enim ›ex Zion‹, ut ostendat, non aliam illis aut ullis hominibus salutem dandam esse nisi eam, quae in Christo est, quae in Zion data est et inde in omnem terram propagata, ac per hoc esse Iudaeos ad Christum convertendos, quantumlibet in eum nunc insaniant.
54) WA 56, 436,25 f.: Ex isto textu [sc. Röm 11,25–27] accipitur communiter, Quod Iudaei in fine mundi sint redituri ad fidem […].
55) Die Walchsche Übersetzung von redire mit »sich bekehren«, die von der Osten-Sacken übernimmt (wie Anm. 1, 80), überspielt die Pointe, dass es sich hier um die Rückkehr zum eigenen, in den eigenen Weissagungen vorausgesagten Erlöser und damit zum eigentlichen jüdischen Glauben handelt.
56) WA 13, 13,20 f. (Hoseavorlesung, 1524): Iudaei redituri sunt ad Christum, ut Paulus indicat factum per euangelium (Hoseavorlesung 1524). Während Luther sich für diese Aussagen in der Römerbriefvorlesung auf die Auslegung der Kirchenväter (authoritas patrum) (WA 56, 436,26) und auf andere Bibelstellen (a. a. O., 437,2–18) stützt, weil die Aussagen des Paulus am Ende des elften Kapitels in sich »dunkel« (obscurus) seien und keineswegs eindeutig auf den dargelegten Sinn hinausliefen (WA 56, 436,26 f.; 438,22 f.), trägt er diese Auslegung in der Hoseavorlesung ohne solche Reserve vor. Das Kapitel des Propheten (Hos 3), in dessen Auslegung er das tut, gehört in der Römerbriefvorlesung zu den biblischen Belegen, die die skizzierte Interpretation der dunklen Pauluspassage stützen (WA 56, 437,9–13). Insofern ist der Satz Osten-Sackens (wie Anm. 1, 82) einzuschränken, dass Luther in der Römerbriefvorlesung »die Zukunftsgewissheit für das jüdische Volk letztlich nicht aus den Aussagen des Paulus selbst, sondern eindeutig allein aus dessen Interpretation durch die Kirchenväter erheben zu können« meint. Im Zusammenhang der zur folgenden Anm. genannten Auslegung der Kirchenpostille führt Luther Röm 11,25 f. wieder ohne Reserve (WA 10/1/1, 289,5–10) und daneben einige der schon in der Römerbriefvorlesung genannten weiteren Bibelstellen an (u. a. wieder Hos 3,4 f.).
57) WA 10/1/1, 288,8 f. (Kirchenpostille) als Auslegung von Mt 23,39.
58) WA TR 5, 205,19–27; WA 53, 511,3–6 (Von den Juden und ihren Lügen). Diese Warnung ist auch das Hauptanliegen von Luthers Predigten über Lk 19,41 ff. (Jesu Klage über die vorausgesehene Zerstörung Jerusalems) am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem wegen dieses Predigttextes später sogenannten Judensonntag – ein Tag, der übrigens keineswegs »durch Luther und den Reformatoren [eingeführt]« wurde (so behauptet von Sibylle Biermann-Rau, An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen. Stuttgart 2014 [2. Aufl.], 33 u. ö.), sondern für den Luther wie auch sonst schlicht der vorreformatorischen Perikopenordnung folgte (vgl. die Rezension von Johannes Wallmann, in: ThLZ 140 [2015], 510): Jener Predigttext diente ihm dazu, angesichts der Zerstörung Jerusalems, die nach Jesu Klage Frucht der Unbußfertigkeit der Juden gewesen sei, das deutsche Volk zur Buße aufzurufen, damit es nicht die Zerstörung des eigenen Landes erfahre (s. z. B. WA 17/I, XLVIII).
59) WA 11, 336,33 f. Vgl. u. 1055.
60) Zu dieser Episode und ihren schriftlichen wie mündlichen Echos vgl. Osten-Sacken (wie Anm. 1), 103–110.
61) WA 19, 611,2 (Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn, 1526). Die Anspielung auf die Thola-Episode kurz zuvor, 608,4 f.
62) Brief an Wolfgang Capito vom 13. März 1518 (Opus Epistolarum, ed. Percy Stafford Allen, Bd. 3. Oxford 1941, Nachdr. 1992, 253,25 f.).
63) So zu Recht Osten-Sacken (wie Anm. 1), 142, insbesondere im Blick auf die Genesisvorlesung, und Kaufmann (wie Anm. 14), 127 u. ö., im Blick auf die Schriften von 1543.
64) Vgl. die Tabelle von Luthers Auslegungen alttestamentlicher Texte bei Bornkamm (wie Anm. 52), 229–234 (Anhang).
65) Vgl. dazu Lothar Perlitt, Luther als Übersetzer des Alten Testaments. Göttingen 2014.
66) Zur Arbeit Luthers und des Wittenberger Revisorenteams s. die Protokolle und Eintragungen in WA DB 3 und 4.
67) Vgl. die als Zitat Hitlers vorgetragenen Sätze: »›Seine [Luthers] Übertragung [des Alten Testaments] mag meinethalben der deutschen Sprache genützt haben, der deutschen Urteilskraft hat sie heillos geschadet. Herr des Himmels, was für ein Glorienschein liegt jetzt über der Satansbibel!‹« In: Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir. München 1925, 33. Auch wenn fraglich ist, ob Dinter tatsächlich von Hitler selbst gesprochene Worte vorbringt, geben jene Sätze eine im Nationalsozialismus verbreitete Anschauung wieder.
68) WA 16, 371,4/13/26–375,1/14/29; 378,11/23 (Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen, 1525); 50, 324,16–18; 325,16–18 (Wider die Sabbather).
69) WA 18, 81,14–17 (Wider die himmlischen Propheten, 1525); s. auch 16, 378,11/23 (Wie sich die Christen in Mose schicken sollen, 1525).
70) WA 16, 378,6/379,9/24–380,3/11/25 (Wie sich die Christen in Mose schicken sollen); 50, 33–331,6 (Wider die Sabbather). Moses auch für Nichtjuden bleibendes Verdienst liegt darin, dass er das von Gott längst vor ihm den Menschen eingeschriebene natürliche Gesetz der Menschheit noch einmal in unübertrefflicher Weise mündlich niedergelegt hat (WA 18, 81,18–20 [Wider die himmlischen Propheten]), freilich verbunden mit spezifisch für das Judentum bestimmten Vorschriften (WA 50, 331,15.33–36).
71) Vgl. Bornkamm (wie Anm. 52), 176–183; speziell zur Ur- und Patriarchengeschichte als Gnadengeschichte in der langen Genesisvorlesung vgl. Asendorf (wie Anm. 28).
72) WA 54, 88,10–13 (Von den letzten Worten Davids); s. auch 92,31–33: »Und gewis ist, das Jhesus Christus der HERR uber alles ist, dem die Schrifft sol zeugnis geben, als die allein umb seinen willen gegeben ist.«
73) WA 53, 647,7–9 (Vom Schem Hamphoras).
74) WA 47, 66,21 f. (Auslegung des dritten Kapitels Johannis, 1538) nach Joh. 3,14. Vgl. u. Anm. 88.
75) Das heißt für die christologischen Weissagungen, dass in ihnen die beiden Weisen der Gegenwart Christi unmittelbar zusammenkommen, weil er darin zugleich »als der Sprechende und als der Geweissagte [anwesend ist]« (Bornkamm [wie Anm. 52], 171).
76) So die christologische Aufnahme von Ps 46,8 im Lied »Ein feste Burg«.
77) Vgl. die lange Aufzählung der Heilstaten Gottes im Alten wie im Neuen Testament in WA 54, 67,1–14, deren Subjekt immer Christus sei, mündend in den Satz: »Ja Jhesus Nasarenus, am Creutz für uns gestorben, ist der Gott, der in dem Ersten Gebot spricht: ›Ich der HERR bin dein Gott‹« (67,12–14 [Von den letzten Worten Davids]).
78) Diese wird angemahnt, und vor einer Vermengung der trinitarischen Personen wird gewarnt gerade auch dort, wo Luther von der uranfänglichen Präsenz des Sohnes spricht, so etwa bei der Auslegung von Joh 1,1–3 in Verbindung mit Gen 1, die beide gleichermaßen von Vater und Sohn in der Schöpfung sprächen (WA 17/2, 316,34–317,37 [Festpostille, 1527, Bearbeitung einer Weihnachtspredigt von 1524, 800,23–801,14]). Vgl. Bornkamm (wie Anm. 52), 173–176.
79) Deshalb legt Luther so großes Gewicht auf Gen 3,15, die Erlösungsverheißung, die direkt nach dem Fall erging (s. o. 1039).
80) WA 17/2, 135,7–28 (Festpostille); 54, 66,28–30 (Von den letzten Worten Davids).
81) WA 54, 55,3 f. Damit habe Mose, »heubtbrun, Quelle, Vater und Meister aller Propheten« (Z. 1 f.), die christologischen Äußerungen aller anderen Propheten begründet (5–7).
82) WA 55/1, 6,1–3. Zur christologischen Psalterdeutung in den Dictata vgl. o. Anm. 1.
83) Der sogleich folgende Hinweis auf Apk 3,7 bestätigt die Aussage, indem er Christus auch als Träger des »Schlüssels Davids« (clavis Dauid) ausweist (a. a. O., 6,5–7).
84) WA 55/1, 6,1–5. Zur Praefatio der Dictata vgl. Ebeling, Luthers Psalterdruck (wie Anm. 1), 109–131. In der zweiten Psalmenvorlesung (Operationes in Psalmos) tendiert Luther dazu, Psalmen eher auf David und seine Zeit zu beziehen, allerdings nicht durchweg, er weist auch weiterhin mehrere Christus zu (Osten-Sa-cken [wie Anm. 1], 88). Nach den Summarien zu den Psalmen aus den 1530er Jahren, in denen er diese in unterschiedliche Gattungen einteilt, sind eine Reihe von Betpsalmen Gebete in persona Christi (Bornkamm [wie Anm. 52], 90, Anm. 3).
85) An der Spitze stehen hier die Königspsalmen 2 und 110. S. zu diesem Komplex Bornkamm (wie Anm. 52), 90–92.
86) Zu diesen Propheten gehört auch Mose, s. o. Anm. 81.
87) Etwa Jakob nach Gen 49,10–12 in WA 11, 325,26–331,22 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei); 53, 450,19–462,15 (Von den Juden und ihren Lügen).
88) S. o. 1044. Vgl. an der dort (Anm. 74) genannten Stelle WA 47, 66,19–24 die konkrete Durchführung für die Bücher Mose: Wie man den Worten Jesus selbst nach Joh 3,14 entnehmen könne, sei klar, »das Moses mit allen seinen geschiechten und Bildern auff in deute und auff Christum gehöre und ihnen meine, nemlich, das Christus sej der punct im Circkel […] Den er ist das mittel punctlein im Circkel, und alle Historien in der heiligen schriefft, so sie recht angesehen werden, gehen auff Christum.«
89) WA 19, 388,31 f. (Habakukauslegung, 1526).
90) A. a. O., 394,26–26.
91) WA 11, 317,23–26 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei): »Diß Euangelion haben nu die Veter von Adam an gepredigt und getrieben, […] sind auch rechte Christen geweßen wie wyr.«; s. auch 318,29–36; WA 19, 389,1 f. (Habakukauslegung): Die Hörer der Propheten wurden durch deren Verheißungen »also mit dem wort an Christum gehenget, das sie an yhn gleubten, so wol als wir itzt an yhm hengen und gleuben.«
92) WA 11, 317,28 f.; 318,36–319,2 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
93) WA 49, 510,5–17 (Predigt vom 4. Sonntag nach Trinitatis 1544).
94) Vgl. nur Augustin, De civ. XVIII, 46, dessen judentumstheologische Ausführungen für die einschlägige Argumentation der lateinischen Kirche grundlegend wurden.
95) Aufgrund dieser auch im Mittelalter durchweg herrschenden Evidenzannahme kann ein Theologe wie Petrus Venerabilis (gest. 1156) geradezu fragen, ob die Juden, die sich dem Offensichtlichen nicht beugen und damit Mangel an einem so grundlegenden menschlichen Vermögen wie der Vernunft (ratio) an den Tag legen, überhaupt Menschen seien: »Nescio plane utrum Iudaeus homo sit, qui nec rationi humanae cedit, nec autoritatibus divinis et propriis acquiescit« (zitiert bei Kurt Schubert, Das christlich-jüdische Religionsgespräch im 12. und 13. Jahrhundert [in: Alfred Ebenbauer/Klaus Zatloukal {Hrsg.}, Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Wien u. a. 1991, 223–250], 233).
96) S. o. 1041 zu Anm. 51.
97) WA 19, 599,10 f. (Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn [Auslegung von Ps 109], 1526); 53, 511,7–9 (Von den Juden und ihren Lügen). Zu den Vorläufern dieser Gedankengänge und Formulierungen in der mittelalterlichen Theologie vgl. Schubert (wie Anm. 95), 233.
98) WA 53, 551,3 (Von den Juden und ihren Lügen); WA Br 1, 24,42. Beide Verstockungsinstanzen kombiniert in 53, 479,24–30 (Von den Juden und ihren Lügen).
99) Vgl. dazu Schwarz (wie Anm. 19), Kapitel 2.4: Die messianischen Verheißungen in Luthers Stellungnahmen zu den Juden.
100) Luther verwendet auch immer wieder das Wort »beweisen« (z. B. WA 11, 318,4 f.; 325,6; 330,24 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sein); WA 53, 465,24 f.; 468,29 [Von den Juden und ihren Lügen]), oder er spricht davon, dass eine bestimmte Bibelstelle gar nicht anders als auf Christus gedeutet werden »mag« [kann] (WA 11, 326,31 f.). Der wichtigste, von Luther immer wieder gebotene historische »Beweis« dafür, dass in Jesus der verheißene Messias bereits gekommen sei, wird skizziert von Schwarz (wie Anm. 19), 67–70.
101) Noch zurückhaltend argumentiert er in der ersten, auf die in den Bahnen des Neuen Testaments auch sonst zur Verankerung der Christusverkündigung im Alten Testament herangezogenen (s. Schwarz [wie Anm. 19], Kapitel 2.3) messianischen Verheißungen Gen 3,15, Gen 22,18, 2Sam 7,12 sowie Jes 7,14 gestützten Beweisrunde von Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (WA 11, 316,5–325,5); hier geht es ihm vor allem darum, sich selbst gegen die Vorwürfe zu verteidigen, er vertrete »judaisierende« Aussagen über Maria und Christus, und die dazu dienenden Argumente werden nur in zweiter Linie auch gegenüber den Juden ins Feld geführt. Die zweite Runde (325,16–336,13) liefert dann schon, wenngleich noch auf kleiner Textbasis, ein rationales Beweisverfahren, wie es in den späteren Judenschriften in extenso geboten wird. Vgl. Schwarz, 71: In seiner Schrift von 1523 »befindet er [Luther] sich im ersten Teil bei den messianischen Heilszusagen an Abraham und David im Einklang mit dem neutestamentlichen Rückgriff auf alttestamentliche Verheißungstexte. Im zweiten Teil seiner exegetischen Argumentation hingegen entfernt er sich – im Gefolge mittelalterlicher Beweisführung – erheblich vom neutestamentlichen Umgang mit den Verheißungstexten. Denn im Neuen Testament haben die Referenzen auf alttestamentliche Messiasverheißungen eindeutig Bekenntnischarakter. Sie wollen nicht einem vernünftigen Beweis dienen; sie entnehmen deshalb den Verheißungstexten keine historischen Voraussagen, wie das in der von Luther aufgegriffenen Tradition geschieht. Die in dieser Tradition besonders geschätzten Texte, Gen 49,10–12 und Dan 9,24–27, werden hingegen im Neuen Testament nicht als Stützen des Christus-Bekenntnisses herangezogen.«
102) Vgl. Luthers Feststellung WA 11, 333,23 f., dass er für Leute rede, »die da wissen die historien der konigreichen, denn wer die nicht weys, wirt mich nicht wol verstehen.« Wenn man Bescheid wisse, dann könne man aufgrund biblischer Zeitangaben zurückrechnen – hier ausgehend von den Versen Dan 9,24–27, deren beweisförmige Auswertung er Nikolaus von Lyra verdankt. Zu seinen intensiven Beschäftigungen mit der Geschichte, die sich auch in den Judenschriften niederschlugen, vgl. die Supputatio annorum mundi (1541) (WA 53, 22–184).
103) WA 11, 335,33–35 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei). S. auch 335,20: Man kann »nit leugken, dißer spruch [Dan 9,26] und das werck fur augen [die Zerstörung Jerusalems unter Kaiser Titus] sey eyn ding«.
104) Vgl. Schubert (wie Anm. 95); Jeremy Cohen, Towards a Functional Classification of Jewish anti-Christian Polemic in the High Middle Ages (in: Lewis/Niewöhner [wie Anm. 21], 93–114).
105) Vgl. WA 11, 332,4 f. (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
106) So bedient er sich für die historischen Beweise seit Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei insbesondere bei Nikolaus von Lyra und Paul von Burgos. Vgl. Schreckenberg, 13.–20. Jahrhundert (wie Anm. 21), 356 f.382–387.498–501; zu seinen Quellen überhaupt Osten-Sacken (wie Anm. 1), 40 f.
107) Von den Juden und ihren Lügen (WA 53, 417–552), Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (53, 579–648) und Von den letzten Worten Davids (WA 54, 28–100).
108) Kaufmann (wie Anm. 14), 103.123.
109) Vgl. seine Warnungen, sich von rabbinischen Auslegungen beeinflussen zu lassen, z. B. WA 53, 30–32 (Vom Schem Hamphoras); 54, 30,19–25; 100,23 f. (Von den letzten Worten Davids). Scharfe Ablehnung der rabbinischen Deutung bei Übernahme einzelner sprachlicher und historischer Informationen findet sich auch in der Genesisvorlesung, deren Ausarbeitung ja eben von der Lektüre entsprechender Sekundärliteratur begleitet war (Osten-Sacken [wie Anm. 1], 150 f.).
110) Seit dem 13. Jahrhundert stand der Talmud – das Werk »›that holds Jews obstinate in their perfidy‹« – im Focus christlicher Attacken (Cohen [wie Anm. 104], 104 (dort das zitierte mittelalterliche Zitat); Berger [wie Anm. 21], 115 f.). Er galt christlichen Gegnern freilich nicht nur als Fundgrube, der sie in ihren Augen falsche Lehren und Bräuche sowie antichristliche Polemiken, Blasphemien und Flüche der Juden entnahmen (William Chester Jordan, Marian Devotion and the Talmudic Trial of 1240 [in: Lewis/Niewöhner {wie Anm. 21}, 61–76], 75; Cohen, 107; Berger [wie Anm. 21], 119 f.), sondern auch als Quelle nachbiblischer Belege für die Messianität Jesu (Jordan, 79; Cohen, 104; Berger, 116) – eine doppelgesichtige Rezeption der nachalttestamentlichen jüdischen Literatur, die sich noch bei Reuchlin finden wird.
111) WA 50, 313,1–5 (Wider die Sabbather); vgl. Kaufmann (wie Anm. 14), 37.50.71.
112) So ausdrücklich WA 53, 419,16–21.
113) Dasselbe Motiv stand hinter einem Großteil der jüdischen antichristlichen Literatur im Mittelalter; sie sollte weniger die Christen treffen als die eigenen Gemeinden gegen deren Argumente wappnen (Hanne Trautner-Kromann, Shield and Sword. Jewish Polemics against Christianity and the Christians in France and Spain from 1100–1500. Tübingen 1993, 192).
114) Diesen Kontext der späten Judenschriften weist Kaufmann (wie Anm. 14), 113–121, überzeugend nach, ansatzweise ist er auch schon auch schon bei Osten-Sacken (wie Anm. 1), 144, angesprochen. Dasselbe Motiv leitet, wie Wilfrid Werbeck, Jacobus Perez de Valencia. Untersuchungen zu seinem Psalmenkommentar. Tübingen 1959, 112–137, besonders 126 f. zeigt, die Einstufung der chris­tologischen Deutung des Psalters als dessen sensus literalis, die sich nicht erst bei Luther (s. o. Anm. 1), sondern bereits im Spätmittelalter, besonders ausgeprägt bei Perez de Valencia, findet und dort das Ziel hat, neben der nichtchris­tologischen jüdischen Interpretation die von dieser beeinflussten christlichen Interpreten der Psalmen zu widerlegen.
115) Bei Erasmus, der die Arbeit der christlichen Hebraisten auch kannte, stand hinter dem Wunsch, die christliche Kirche möchte sich vom Alten Testament distanzieren, neben seiner allgemeinen Abneigung gegen die Juden auch die Furcht, die von jenen Hebraisten ausgelösten Debatten könnten zu Meinungsverschiedenheiten unter den Christen führen, welche Folgen für die Unversehrtheit des Neuen Testaments haben würden (Brief an Johannes Caesarius vom 3. November 1517 [Opus Epistolarum Bd. 3 {wie Anm. 62}, 127,35 f.]).
116) WATR 5, 220,25 f.
117) Zu Recht stellt Bornkamm (wie Anm. 52), 104, fest, dass Luther das Alte Testament »mit den Augen des von Christus Erlösten [liest]«, oder formuliert Ferdinand Cohrs, dass Luther bei seiner Auslegung des Alten Testaments vom Neuen geleitete »Glaubensexegese« treibt (WA 54, 24). In der letzten sogenannten Judenschrift Von den letzten Worten Davids gibt es immer wieder Sätze, in denen Luther selbst ebendiese Abhängigkeit seiner Deutung des Alten Testaments vom Christusglauben zum Ausdruck bringt – etwa: »Wir Christen, aus dem Neuen Testament erleucht, können hie zu richtig, deudlich und fein antworten«, oder: »Wir haben aber das Neue Testament […] daran wir Christen (wie nu offt gesagt) gnug haben, das Alte Testament auff unsern verstand zu zihen […] So ist Christus selbs da, mit seinen Aposteln, die zeugen und zeigen uns diesen verstand mit reichen worten und wercken« (WA 54, 49,5 f.; 51,7–12). Doch zugleich bleibt er dabei, dass sich die auf Christus gerichtete Deutung des Alten Testaments beweisen lasse und dass es folglich den Juden als halsstarrige Leugnung des Evidenten anzulasten sei, dass sie sie nicht teilen.
118) WA 11, 328,2 f. (Dass Jesus Christus eine geborener Jude sei).
119) S. etwa WA 2, 236,15–17 (Resolutio super propositione XIII. de potestate papae, 1519); 405,14–18 (Resolutiones super propositionibus suis Lipsiae disputatis, 1519); 6, 297,37–40 (Von dem Papstthum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520).
120) Vgl. Bornkamm (wie Anm. 52), 178–182; Asendorf (wie Anm. 28), 248–289. Im Hintergrund von Luthers Sicht auf die erste, Israel vorausgehende Etappe der Heilsgeschichte steht deutlich der geschichtstheologische Entwurf Augustins in De civitate; zu den Differenzen vgl. Bornkamm, 178; Asendorf, 485–490.
121) WA 7, 601,24 (Magnificatauslegung).
122) A. a. O., 601,26 f.
123) WA TR 3, 665,22 f./666,20 f.; WA 53, 524,31 (Von den Juden und ihren Lügen).
124) WA 11, 315,33–316,1 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei); WA 56, 223,11 f. (Römerbriefvorlesung.).
125) WA 11, 320,21­–336,11 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei); WA 56, 223,3.11 f. (Römerbriefvorlesung).
126) WA 11, 315,25–316,1, besonders 315,26–29: »wyr sind schweger und frembdling, sie sind blut freund, vettern und bruder unsers hern. Darumb wenn man sich des bluts und fleyschs rhumen solt, so gehoren yhe die Juden Christo neher tzu denn wyr«.
127) WA 56, 224,6 f., leitendes Substantiv des Zitats dort im Dativ: Carnali Israel, qui … Hervorhebung von mir, D. W.
128) WA 56, 224,8, im Original ebenfalls Dativ.
129) WA 7, 597,27–29. S. auch 56, 394,25.
130) WA 7, 595,35 (vgl. o. zu Anm. 8).
131) WA 56,10,4–11,1 (Römerbriefvorlesung).
132) Vgl. o. 1035.
133) WA 7, 600,18–25 (Magnificatauslegung).
134) A. a. O., 595,33–35.
135) Ja, solche Scheidung prägt die Heilsgeschichte nicht erst in der Geschichte Israels, sondern von Anfang an, schon zur Zeit Adams und der Erzväter, wie anderthalb Jahrzehnte später die Genesisvorlesung ausführt: Von den Söhnen Adams behielten nur Abel und Seth, nicht aber Kain den göttlichen Segen. Unter den Söhnen Noahs trug nur Sem die dem Vater zuteilgewordene Verheißung weiter, unter den Nachkommen des Verheißungsträgers Abraham, die doch alle gleichermaßen von ihm abstammten, ging das Heil nur an Isaak und nicht an Ismael, an Jakob und nicht an Esau (vgl. Bornkamm [wie Anm. 52], 178–182, über die »Patriarchenkirche«). Und so verhielt es sich eben auch, als aus den erwählten Erzvätern ein ganzes erwähltes Volk geworden war. Es war immer nur ein Teil des Volkes, das, Gottes Gnade entsprechend und ihn allein für »seinen Gott« haltend, das wahre, eigentliche Volk Israel bildete.
136) WA 42, 423,19; 424,11–13 (Genesisvorlesung); 18, 650,29 (De servo arbitrio).
137) WA 42, 423,24 f. (Genesisvorlesung).
138) WA 13, 13,3 f. (Hoseavorlesung).
139) WA 7, 597,1–4 (Magnificatauslegung).
140) WA 7, 597,6 f. (Magnificatauslegung).
141) WA 11, 326,35–327,3 (Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei).
142) WA 13, 13,6–10 (Hoseavorlesung): »Iesrael est spiritualis […] Ex utroque populo ecclesia congregata est, quae ante misericordiam nondum erat consecuta, quando Christus dicit: qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit, quid aliud est quam dicere ad credentes: populus meus es tu.« Freilich gibt es auch hier den Abfall vom Vertrauen auf Gott, droht auch hier die Scheidung in die zwei »stuck« der Glieder, die wahrhaft und die nur äußerlich zum Gottesvolk gehören, weshalb Luther neben dem Gegensatz, in dem die Glieder des christusgläubigen geistlichen Israel aus Juden und Heiden zu den Christus ablehnenden Juden stehen, auch die Gemeinsamkeit der Sünde hervorheben kann, in der beide vor Gott auf einer Stufe stehen (s.o. 1037).
143) S. das Zitat der vorigen Anm. Vgl. auch WA 5, 452,16–18 (Operationes in psalmos): Bis Christus »wart ihr mein Volk als äußere Synagoge (fuistis populus meus externa synagoga). Jetzt aber, nach Erfüllung der Verheißung und des Gesetzes, ist mein Volk nicht aus Blut, sondern aus Geist (populus meus non est ex sanguine, sed ex spiritu)«. Nach der Genesisvorlesung sieht Luther diese Entschränkung schon angedeutet in der noch von der ethnischen Perspektive bestimmten Geschichte Israels selbst, insofern schon dort der Zaun zwischen Juden und Nichtjuden durchlässig gewesen sei. Habe sich doch durch die vielen eingeheirateten Frauen anderer Herkunft, von denen die Bibel berichtet, längst »das Heidnische mit dem Abrahamssame gemischt« (gentile mixtum est cum Abrahae semine, WA 44, 312,2 f.). D. h., »Juden und Heiden sind schon ein Fleisch aus einem Fleisch gezeugt« (Ergo Iudaei et gentes iam sunt una caro ex una carne prognati, a. a. O., 312,18 f.) und somit »Blutsverwandte oder Verwandte und Brüder« (consanguinei sive cognati et fratres, a. a. O., 312,10–12, dort acc.), die Nachkommen Abrahams sind über ihre Mütter selber ethnisch gemischt (Post Isaac […] non sunt tantum Abrahae semen, a. a. O., 311,42 f.), und zugleich sind die Heiden auch mit Christus verwandt, dessen eigener Stammbaum ebenfalls solche heidnischen Ahninnen aufweist (a. a. O., 312,7 f.). Das Motiv dieser Ausführungen ist nicht »Eifersucht« auf die Juden wegen ihres ethnischen Erstgeburtsrechts, sondern die Relativierung des Ethnischen schon in jener Zeit, als es heilsgeschichtliche Bedeutung hatte (gegen Osten-Sacken [wie Anm. 1], 149 f.).
144) So WA 7, 597,1–4 (Magnificatauslegung) ohne obige (zu Anm. 139) Auslassungen: »Aber es ist war, das durch das wortlin ›Israel‹ allein die Juden vorstanden werden unnd nit wir heyden, doch weil sie nit wolten yhn [den Messias] haben, hat er doch etlich ausz yhnen erleszen, damit dem namen Israel gnug than und hynfurt geistlich Israel gemacht.« Demgemäß bedeutet die Treue Gottes zu seiner Zusage an »Abraham und seine Kinder ewiglich« (Lk 1,55), dass es unter den Nachkommen Abrahams immer solche geben werde, die sich zu Christus bekehrten – eine Zusage, die niemand unter den Heiden auf Erden habe (600,35–601, 1)
145) WA 55/1, 682,2 f. (Dictata super Psalterium); s. auch 55/2, 998,3099–3101.
146) Z. B. WA 44, 217,14–16 (Genesisvorlesung): »Quod enim unus Pharisaeus de se dicit [Lk 18,11]: ›Non sum sicut caeteri homines‹, idem omnes Iudaei impudentissime iactant. Nos sumus populus Dei, inquiunt, gens sancta, ornata divinitus magnis donis.« S. auch a. a. O., 312,20 f.; 7, 597,6 f. (Magnificatauslegung, s. o. zu Anm. 140); 53, 427,21; 431,27; 446,20 (Von den Juden und ihren Lügen).
147) S. o. 1041.
148) WA 56, 439,8. Luther kann hier sogar aus der Tatsache, dass die ursprünglichen Christen, die Apostel, dem Judentum entstammten, den Schluss ziehen, dass diese nur die »Erstlinge« ihres Volkes waren und durch die ethnische Verwandtschaft mit ihnen – weil es »von derselben Masse und Natur« ist – das ganze Volk trotz seines Unglaubens geheiligt und Anwärter auf die endgültige Erlösung ist: Si Apostoli sunt sancti, qui ab eis [den Juden] velut primitiae et precipua pars sumpti sunt, ergo et tota gens, cum sint eiusdem massae et naturae; ergo non sunt despiciendi propter incredulitatem illorum (a. a. O., 435,6–9).
149) S. o. 1041.
150) WA 56, 440,3–5: Non enim penitet eum sui doni et vocationis promissae, Quia illi nunc sunt indigni et vos digni. Non mutatur vobis mutatis, ideo revertentur et adducentur tandem ad veritatem fidei.
151) WA 11, 336,24–33.
152) WA 53, 523–526,16; 536,23–538,13; 541,30 f.; die Forderung nach Vertreibung auch in der auf Luthers letzte Predigt folgenden Vermahnung wider die Juden, WA 51, 196,16 f.
153) WA 11, 314,28–315,6.
154) WA 11, 314,27 f.
155) WA 11, 336,23 f.: »so mochten yhr ettliche herbey komen.«
156) WA 11, 336,33 f.: »Ob ettliche hallstarrig sind, was ligt dran? sind wyr doch auch nicht alle gutte Christen.« Auf diesen Satz geht Kaufmann, der annimmt, Luther habe unter den Juden eine »Bekehrungswelle« auslösen wollen (wie Anm. 14, 67), mit keinem Wort ein, wie er auch die Nähe zur Obrigkeitsschrift nicht anspricht.
157) D. h., er wies nicht nur die in vielen Ländern befolgte Maxime der Vertreibung der Juden zurück, sondern »brach« auch mit der in anderen Gegenden geltenden »Handlungslogik des befristeten Judenschutzes aufgrund weltlich-obrigkeitlicher Privilegien« (Kaufmann [wie Anm. 14], 71).
158) WA 11, 245–281. Die Obrigkeitsschrift erschien im März 1523 (auf der Grundlage im Oktober 1522 gehaltener Predigten), mit der Schrift Dass Jesus Christus eine geborener Jude sei begann er nach dem Januar 1523, sie erschien spätestens im Mai (vgl. WA 11, 229 f.307).
159) WA 11, 262,9 f.: »Denn uber die seele kan und will Gott niemant lassen regirn denn sich selbs alleyne«; s. auch 265,32 f.
160) A. a. O., 262,20 f.; 269,14; 271,17–21.
161) A. a. O., 268,19–269,15; 271,11–16: Gegen Ketzerei anzugehen ist allein Sache der kirchlichen Amtsträger, die diese Aufgabe ohne staatliche Macht zu erfüllen haben, denn »yhr regirn ist nicht anders denn Gottis wort treyben, damit die Christen füren und ketzerey uberwinden« (271,15 f.).
162) Kritik am Umgang der zeitgenössischen Christenheit mit den Juden, der ein abschreckendes Bild des Christentums biete, und Forderung nach Verhaltensänderung gibt es schon vor der Schrift Dass Jesus Christus eine geborener Jude sei, nämlich in der Römerbriefvorlesung (WA 56, 436,13–23), in den Operationes in Psalmos (WA 5, 32–429,18) und in der Magnificatauslegung (WA 7, 600,33–601,5) – ebenso wie Luther sich auch schon vor der Obrigkeitsschrift gegen staatliche Antiketzereimaßnahmen ausgesprochen hatte. Doch finden sich solche Aussagen in jenen Schriften en passant. In Dass Jesus Christus eine geborener Jude sei dagegen gewannen sie einerseits programmatischen und in Parallele zur Obrigkeitsschrift grundsätzlichen Charakter und wurden sie andererseits in die politische Forderung nach ungehindertem Zusammenleben umgesetzt. Nicht zufällig wurden sie ja auch erst jetzt in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.
163) WA 11, 336,35.
164) Die Reformation und die Juden. Eine Orientierung. Erstellt im Auftrag des wissenschaftlichen Beirats für das Reformationsjubiläum. 2014 (www.luther2017.de), Ziff. 11 (vgl. diese Schrift auch zum Folgenden). Kaufmann (wie Anm. 14), 71, sieht in diesem Satz Luthers die Ankündigung, der Reformator wolle später den missionarischen Erfolg seines judenpolitischen Programms von 1523 überprüfen. Doch Luthers vorherige Bemerkung, es mache nichts aus, wenn sich nicht viele Juden zu Christus bekehrten, passt zu dieser Deutung des Schlusssatzes ebenso wenig wie zu einem primär missionsstrategischen Verständnis der judenpolitischen Plädoyers der Schrift überhaupt (s. o. Anm. 156).
165) Diese Präzisierung ist notwendig, denn restlos waren jene Abkehr und Rückkehr nicht: Zwar sah Luther nun, anders als 1523, die Obrigkeit in der Pflicht, falsche Lehre und öffentliche Glaubenspraxis mit ihren Machtmitteln zu unterbinden. Doch blieb er dabei, dass der Glaube Sache des unverfügbar wirkenden Wortes Gottes und nicht der Obrigkeit sei (so auch noch ausdrücklich in Von den Juden und ihren Lügen, WA 53, 528,18 f.; 531,34 f.), weshalb er sich trotz Rekurses auf die Obrigkeit gegen abweichende öffentliche Lehre dafür aussprach, persönlichen Irrglauben gewähren zu lassen, und inquisitorische Erforschung und Ahndung falschen Glaubens ablehnte (vgl. WA Br 5, Nr. 1466, 5–9; Nr. 1467, 1–7; für den Hinweis auf diese Stellen wie die aus WA Br 5 in Anm. 167 danke ich Reinhard Schwarz). Er blieb auch bei der Ablehnung des Großen Bannes.
166) Anders als an diesen Stellen vorgeschrieben – und in der Verwendung von Dtn 13 für die Ketzerverbrennung geltend gemacht –, begründet Luther mit ihnen allerdings die Forderung nach Verbrennung und Zerstörung von Gebäuden, nicht auch nach Tötung ihrer Bewohner (Kaufmann [wie Anm. 14], 129).
167) WA 53, 523,13–16; 541,30–33. Entscheidend für diesen Gedanken ist ers­tens die Diagnose der Öffentlichkeit jüdischer Lästerung und zweitens das korporativ-religiöse Verständnis der Öffentlichkeit. In beiden Hinsichten hatten sich bei Luther Verschiebungen ergeben. Was die Diagnose gegebener oder nicht gegebener Öffentlichkeit betrifft, hatte Luther 1530 in einem Gutachten festgestellt, die Protestanten könnten in ihren Territorien keine Mönche mehr dulden, weil die mit deren antireformatorischen Worten und Aktivitäten gegebene Läs­terung öffentlich sei; die Juden hingegen könnten geduldet werden, weil ihre Lästerung unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehe (WA Br 5, Nr. 1715, 66–70.76 f.). 1543 hingegen kam er zu dem Schluss, dass auch die Lästerungen der Juden hinter verschlossenen Türen, ja sogar die Lästerungen im Herzen, die mit dem Festhalten am Judesein und der Ablehnung des christlichen Glaubens zwangsläufig gegeben seien, als öffentliche gelten müssten, weil die Christen davon wüssten (WA 53, 523,8–11; 531,29–33; 532,2–5; 538,1–7). Was den zweiten Punkt betrifft, so hatte Luther unter Öffentlichkeit in früheren Zeiten (z. B. 1529 nach WA Br 5, Nr. 1466 f. [vgl. Anm. 165] und 1530 nach der oben genannten Stelle [vgl. dazu noch a. a. O., 616, Anm. 6]) schlicht die Gesamtheit der an einem Ort lebenden Menschen verstanden, die durch in hörbarer oder sichtbarer Läs­-terung einer Gruppe manifest werdende religiöse Gegensätze Beeinträchtigung ihres Friedens ( seditio) erfahre (a. a. O., Nr. 1467, 8; s. auch Nr. 1466, 11 f.). 1543 aber war Öffentlichkeit für ihn diese Gesamtheit als ethisch-religiöses Corpus, das durch Lästerung religiös befleckt (WA 53, 538,8) und, falls es sie nicht mit aller Macht unterbinde, daran mitschuldig (1Tim 5,22, WA 53, 522,31 f.; 527,17 f.; 538,8 f.) und samt den Lästerern dem Zorn Gottes ausgeliefert werde (WA 53, 542,1 f.; s. auch 536,16–18).
168) Zu diesem theologisch begründeten selektiven Umgang mit der Bibel im Blick auf das Alte Testament s. o. 1044. Ebenso verfuhr Luther im Blick auf das Neue Testament, wie etwa seine Relativierung des Jakobusbriefes und des Hebräerbriefes zeigt (WA DB 7, 384–386 [Vorrede auf den Jakobus- und den Judasbrief, 1522]; 344 [Vorrede auf den Hebräerbrief, 1522]). Darin spiegelt sich sein inhaltlich, am Kriterium des Evangeliums von Jesus Christus (»was Christum treibet«, a. a. O., 385,27), und nicht juristisch, an einem bestimmten Quantum normativer Schriften, orientiertes Schriftverständnis, welches einen festen Kern biblischer Bücher zu identifizieren (z. B. WA DB 6, 10,9–33 [Vorrede auf das Neue Testament, 1522]; WA 12, 260,8–28 [Auslegung des Ersten Petrusbriefes, 1523]), andere aber davon abzusetzen, ja, ihr Gewicht in der Schwebe zu lassen erlaubt (vgl. WA DB 7, 386,17–19 und die Anordnung der Schriftenliste WA DB 6,12 f.).
169) Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666.1686, Bd. 2, hrsg. von Johannes Wallmann, Tübingen 1996, Nr. 131, 112 f.
170) Mit Spener beginnt nach der Lutherischen Orthodoxie, die sich vornehmlich am älteren Luther orientiert hatte, die die Lutherrezeption bis in die Gegenwart prägende programmatische Hinwendung zum frühreformatorischen Luther. Das heißt für das Thema »Luther und die Juden«, mit Spener beginnt auch die Orientierung an Luthers Schrift von 1523 und die teils stillschweigende, teils explizite Zurückweisung, ja das Verschwinden aus dem allgemeinen Bewusstsein der Judenschriften von 1543 (vgl. Johannes Wallmann, The Reception of Martin Luther’s Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19 th Century [Luth. Quarterly 1 {1987}, 72–97], besonders 83).