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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

1001–1003

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bucher, Rainer

Titel/Untertitel:

An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen und österreichischen katholischen Kirche.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2014. V, 526 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-429-03687-4.

Rezensent:

Walter Andreas Euler

Der deutsche Theologe Rainer Bucher, seit 2000 Leiter des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Universität Graz, gehört zu den profiliertesten und produktivsten katholischen Pastoraltheologen im deutschsprachigen Raum. Von vielen anderen Vertretern dieses Faches unterscheidet er sich dadurch, dass er in seinen Arbeiten nicht nur die religiös-kirchliche Situation mit Hilfe der empirischen Sozialwissenschaften analysiert und vor diesem Hintergrund pastorale Konzepte entwickelt, sondern zugleich zu fundamentaltheologisch anmutenden Grundlagenreflexionen tendiert, die den eigentlichen Sinn von Religion, Glaube und Kirche in den Blick nehmen.
Der vorliegende Band vereinigt 45 Arbeiten »zu pastoraltheologischen Fragestellungen im Kontext von Kirchenbildungsproblemen im deutschsprachigen Raum« (1). Mit Ausnahme von zwei Vorträgen zur Hochschulpastoral (255–259) sowie zum Weihepries­tertum (341–350) wurden alle Beiträge bereits veröffentlicht, und zwar im Zeitraum zwischen 2003 und 2013. Auf das Pontifikat von Papst Franziskus wird nicht Bezug genommen. Die Hoffnung B.s, dass sich aus dieser Sammlung ein »Umriss der aktuellen Konstitutionsprobleme der deutschen und – mit gewissen spezifischen Differenzierungen: österreichischen – katholischen Kirche ergibt« (2), ist berechtigt. Auch ein nicht mit allen Details des pastoraltheologischen Diskurses vertrauter Leser gewinnt einen sehr guten Einblick in die heutige Situation der katholischen Kirche, vor allem die tieferen Ursachen der gegenwärtigen Krise werden präzise be­nannt. Die vagen Überlegungen zur Zukunft der Kirche sind dagegen weniger belangvoll. Den Schlüssel für eine Neugeburt der katholischen Kirche im 21. Jh. hat auch B. noch nicht gefunden.
Die einzelnen Beiträge werden sechs Abschnitten zugeordnet. Im Kapitel »Lagen« thematisiert B. insbesondere die prekäre Lage der katholischen Kirche im Zeitalter der Postmoderne. Er spricht von einem »massiven Transformationsstress« (9), der dadurch entstehe, dass die Kirche sich plötzlich »auf dem Markt von Sinn, Lebensbewältigung und Weltorientierung« (61) bewähren müsse. Dies könne nur gelingen, wenn die Kirche sich praktisch neu erfinde, jedenfalls verinnerliche, dass sich die Machtverhältnisse zwischen dem »Individuum und den ehemals mächtigen Verwaltern der Religion« vollständig umgekehrt hätten (134). B. zufolge mangelt es in der katholischen Kirche an Ehrlichkeit mit Blick auf Selbst- und Fremdwahrnehmung (vgl. 227). Bedeutsam sind die Überlegungen zum Thema »Ehe und Familie« (67–86). Die fatalen Konsequenzen der »personalistischen Aufladung der alten, primär juridisch verfassten Ehelehre« (81) werden präzise analysiert. Auch die knappe Analyse der aktuellen Situation der katholischen Kirche in Österreich (51–60) ist aufgrund ihrer sachlichen Differenziertheit beeindruckend.
Der Abschnitt »Sozialformen« befasst sich mit den Themen Gemeindetheologie, Gemeindeleitung von Priestern und Laien, zukünftige Sozialgestalt der Kirche und ökumenische Pastoral. Zum letzten Problem wird nur wenig Konkretes gesagt, immerhin bekennt sich B. zur Vorstellung einer ekklesialen »Perichorese«, einer gegenseitigen Durchdringung der Gnadengaben der verschiedenen Kirchen, »die tatsächlich einander brauchen« (175).
Unter der Überschrift »Orte« geht es um Diakonie bzw. Caritas, City-Pastoral, Kirche im ländlichen Raum, katholische Schule, Jugend-, Bildungs- und Hochschulpastoral, kirchliche Elitenförderung, katholische Intellektualität sowie den Verkauf von Kirchen. B.s theologische Begründung für das diakonische Handeln der Kirche lautet: »all unsere kläglichen Versuche der Zuwendung zu anderen« wurzeln »in der zuvorkommenden Liebe Gottes zu uns […], einer Zuwendung, die unbedingt, unverdient und ungeschuldet ist« (193). Pastoral definiert er als »kreative Konfrontation von Evangelium und Existenz in Wort und Tat« (242). Mit Blick auf die genannten »Orte« der Pastoral versucht er, diese Bestimmung zu konkretisieren. Den Verkauf von scheinbar überflüssigen Kirchengebäuden betrachtet B. als Krisensymptom. Er plädiert für ihre multifunktionale Nutzung, sie sollten nicht nur liturgisch, sondern auch zu Versammlungszwecken sowie für die Diakonie Verwendung finden. Den Umgang mit dieser Frage nennt B. ein »Indiz« dafür, ob die Kirche nochmals eine Chance auf einen »pastoralgemeinschaftlichen Aufstieg« erlangen könne (311).
Im Abschnitt »Akteure« wird das pastorale Personal der katho-lischen Kirche in den Blick genommen: Weihepriester, Diakone, Pastoralreferentinnen und -referenten sowie ehrenamtliche Laien. Als Konsequenz der Ablehnung des Frauenpriestertums befürchtet B. eine »schleichende Exkulturation« der katholischen Kirche, da die Gesellschaft eine »symmetrische Geschlechterchoreographie« fordere und »essentialistische Begründungsmuster für Geschlechter-asymmetrien« kaum mehr Akzeptanz fänden (342). Alle Bemühungen, die schwierige Situation des Weihepriestertums in der Gegenwart durch Formen der Abwertung der Laien zu stärken (verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die römische Instruktion »Zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester« von 1997), nennt B. »organisationspsychologisch fatal«. Die Begründung dafür lautet: »Wer so gestärkt werden muss, ist offenkundig höchst gefährdet, wer diese rechtliche, ständisch denkende Unterstützung braucht, wird als schwach identifizierbar.« (344)
Das Kapitel »Pastorale Konzepte« bietet Beiträge zu den Themen: Zielgruppenmodelle, Organisationsentwicklung in der Kirche, Com­munio-Ekklesiologie und pastorale Heilungspraktiken. Be­mer­kenswert ist B.s recht scharfe Kritik an der Communio-Theologie, die vielen seit Mitte der 1980er Jahre als Inbegriff des konziliaren Kirchenverständnisses gilt. Er bezeichnet den Begriff dagegen als »multiple Projektionsformel«. Die Communio-Ekklesiologie laufe tendenziell auf »Gegenwartsverweigerung, Selbst­immunisierung und eine grundlegende Verfälschung konziliarer Positionen« hinaus (401).
Die letzten Aufsätze befassen sich mit B.s Einschätzung des II. Vaticanums. Er knüpft dabei vor allem an eine These seines Doktorvaters, des Würzburger Fundamentaltheologen Elmar Klinger, an, der Gaudium et spes als »Schlüssel zum Konzil« betrachtet. »Die Pastoralkonstitution liefert die Software der katholischen Kirche auf höchster lehramtlicher Ebene« (445). Die Rezeption des Konzils sei gerade in Deutschland immer noch unzureichend, da die deutsche Kirche dessen »Zentrum […], den pastoralen Auftrag der Kirche«, noch nicht erfasst habe (467). Die deutsche Kirche habe das Konzil lediglich als »Erneuerungsprogramm einer sozialformorientierten Kirchenbildung, nicht aber als Projekt einer aufgaben- und damit pastoralorientierten Kirchenbildung mit Sozialformkreativität« begriffen (471).
Obwohl die wichtigsten pastoraltheologischen Thesen und manche Redewendungen B.s in den aus ganz verschiedenen Anlässen verfassten Beiträgen vielfach wiederholt werden, ist die Lektüre des vorliegenden Sammelbandes nicht ermüdend. Trotz der großen inhaltlichen Bandbreite knüpfen die Artikel durchaus organisch aneinander an und lassen sich als Teile einer breit angelegten Gesamtschau lesen.