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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

988–991

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schoenauer, Hermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sozialethische Dimensionen in Europa. Von einer Wirtschaftsunion zu einer Wertegemeinschaft.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2013. 235 S. = Dynamisch Leben gestalten. Innovative Unternehmensführung in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft, 6. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-17-024279-1.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wegner, Gerhard: Moralische Ökonomie. Perspektiven lebensweltlich basierter Kooperation. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. 224 S. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-17-024150-3.


Die hier anzuzeigenden Studien beschäftigen sich beide mit den vielfach ökonomisch geprägten Grundlagen der europäischen und deutschen Gesellschaft.
In dem von Hermann Schoenauer, dem Rektor und Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Neuendettelsau, herausgegebenen Sam­melband soll es darum gehen, »Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die Gestaltung eines solidarischen und sozialen Europas (zu) wecken« (11). Der Vielgestalt Europas entsprechend sind auch die darin präsentierten katholischen, orthodoxen, evangelischen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Beiträge vielgestalt:
Zunächst macht U. H. J. Körtner mit der Arbeit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und ihrer sozialethischen Arbeit bekannt (13 ff.), bemerkenswerterweise unter Einbeziehung des »Pluralismus als Markenzeichen« (22). Aktuelle »Perspektiven katholischer Sozialethik für eine soziale Gestaltung Europas« (33) stellt nun I. Gabriel vor und fordert konkret eine »Vorrangige Option für die Armen« (43) vergleichbar wie von evangelischer Seite H. Bedford-Strohm (73). Sehr viel grundsätzlicher legt R. Uertz einen erhellenden Überblick über die Entwicklung der katholischen Sozialethik »im Transformationsprozess der Industrialisierung und Modernisierung« (53) vor. In seiner von 1830 bis 1991 reichenden Rechenschaft verweist er letztlich auf das »christliche Menschenbild« als wichtigstem Merkmal und Grundsatz christlicher Sozialethik« (72). Als weiterer katholischer Autor rät dann R. Marx, für das europäische Projekt Erfahrungen des Zweiten Konzils zu nutzen (83). Und für die rumänische orthodoxe Tradition referiert S. Joanta über den Beitrag seiner Kirche für eine soziale Gemeinschaft (90). Ferner sieht S. Losansky aus evangelischer Perspektive als Aufgabe »öffentlicher Kirchen« in Europa vor allem die »Verantwortung für Bildung« (105), »diakonisches Engagement« (106) sowie »politische Verantwortung« (107). Als Stimme der evangelischen Diaspora schildert sodann M. Bünker das Profil europäischer evangelischer Kirchen in der Donau-Region (113). Sozialethisch charakterisiert M. Honecker den moralischen (133) sowie wissenschaftlichen und ethischen (135) Pluralismus als »europäisches Markenzeichen« (130), weil die europäische Kultur eben vielfältig sei (137). Er wendet sich gegen die übliche nationalstaatliche Beschränkung des Gemeinwohls (147), bemängelt »ein Defizit im europäischen Recht« (149) und ermuntert die Kirchen, Einsicht, Vertrauen und Begegnung zu fördern (151). Anschließend stellt H. Roy »Eurodiaconia« als führendes Netzwerk diakonischer Arbeit in Europa vor (153–163). G. Wegner mahnt europäische Solidarität an (164) und sieht um der Schwächsten willen keine Alternative zur Schaffung einer Fiskalunion (174 f.). Sodann setzt sich A. Schoenauer mit Gefahren für das deutsche kirchliche Individualarbeitsrecht durch europäische Vorgaben, insbesondere das AGG, auseinander (177 ff.), diagnostiziert aber eine weitgehende Bewahrung der kirchlichen Rechtsposition. Das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.2014 (BVerfG, 2 BvR 661/12) dürfte hier seine Einschätzung bestätigen.
Als Politiker hat sodann M. Kastler als Ziel christlicher Politik eine »gerechte Gesellschaft und Wirtschaftsordnung« (198) mit einer besonderen Bedeutung von Ehe und Familie (198) vor Augen. Abschließend fragt E. Nass nach einem europäischen, einen »islamischen Humanismus« (222) einschließenden Konsens bezüglich der Unantastbarkeit der Menschenwürde (210 ff.).
Wenn auch zu fragen ist, warum bei einem derartigen Überblick über das »Europäische Haus« der bestimmt nicht unwichtige osteuropäische Teil unerwähnt bleibt, so ist doch dem Herausgeber zu danken, dass er angesichts der anwachsenden Europa-kritischen Diskussion mit diesem Sammelband zu einer Besinnung auf den Kern der europäischen Idee aufruft. Und der ist eben nicht nur die Ökonomie, sondern das friedliche hilfreiche Miteinander – mit großen Aufgaben für Kirche und Diakonie.
Der von Gerhard Wegner, dem Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, vorgelegte Sammelband umfasst zwölf Aufsätze und Stellungnahmen, die guten Teils bereits anderenorts veröffentlicht sind, weshalb Doppelungen in Kauf genommen werden müssen. Bereits in der Einleitung wird unter der wichtigen Thematik der »Kooperation aller Geschöpfe« in Erinnerung ge­bracht, dass es aus christlicher Sicht und auch realistischerweise nicht so sei, wie es im herkömmlichen ökonomischen Handeln unterstellt wird, dass »zunächst das Geld verdient werden müsste, das man dann nutzen kann, um Kinder zu erziehen oder Menschen zu pflegen«. Vielmehr sei es genau umgekehrt: »Kinder und Pflege als elementare Kooperationssituationen sind die Voraussetzungen dafür, dass sich überhaupt Geld vermittelte Beziehungen herausbilden können.« (12, vergleichbar: 38.56.89.214)
Die Beiträge, in denen ein Blick auf »Grundstrukturen der Ge­sellschaft« geworfen werden soll (13), werden sodann in vier Teile gruppiert. Im ersten Teil geht es zunächst um Beteiligungs- oder Teilhabegerechtigkeit in der Gesellschaft unter berechtigter Kritik am »altliberalen« Akteursmodell, das lediglich von dem »vollmündigen, erwachsenen, sich selbst erhaltenden und selbstverantwortlichen (womöglich männlichen) Menschen« (30.149) ausgehe. Er wendet sich gegen eine totale »Vermarktlichung« und fordert, »Marktbeziehungen stets subsidiär zu installieren«. Dabei werde Beteiligungs- oder Teilhabegerechtigkeit »in der sich herausbildenden ›neuen‹ Sozialstaatlichkeit immer mehr durch eine ›inklusive‹ Bürgergesellschaft gewährleistet werden« müssen (41).
Unter der Überschrift »Verweltlichung« (44–62) fragt W. nach Maßstäben für ein christliches Handeln in der Welt (45). Als durchaus überzeugende »Leitbegriffe« präsentiert er u. a. Care und Fürsorge (56) sowie Treuhänderisches Handeln (57). Er versteht diese Konzeption als Einspruch gegen die »klassischen Sätze von Adam Smith« (61), allerdings, ohne sich im Kern mit den Ideen moderner Ökonomie auseinanderzusetzen (erst 80). An seinem Beitrag »Aus Luthers Geist erwachsen« (63–76), in dem es dann um den Quietismusvorwurf Webers und Troeltschs gegen das Luthertum geht, besticht die Beobachtung, dass zwar zu lutherischen Kirchen weniger eigene soziale Aktivitäten gehörten, sie aber »dazu tendieren, diese Aufgaben dem Staat zuzuweisen, der ermahnt wird, betont christliche soziale Zielvorstellung zu verfolgen« (72). Beispielhaft seien hier die Kirchen in Skandinavien. In dem folgenden Beitrag »Die Entdeckung der Zivilität« widmet sich W. den Fernwirkungen der Reformation auf das Verhältnis von Religion, Zivilgesellschaft und säkularem Staat (77–82) und betont, dass Zivilität letztlich nur möglich sei, »wenn der Raum für Gott offen bleibt und keine weltliche Instanz diesen Raum verdunkelt oder selbst einnimmt« (82).
Der zweite Teil steht unter der Frage nach der Gerechtigkeit im Wirtschaftssystem, wozu W. im ersten Beitrag die Grundgedanken »Moralischer Ökonomie« vorstellt (83–101). Für ihn hätten sich im Rahmen der Entwicklung des »Kapitalismus« die Marktbeziehungen ausgedehnt und alle Güter und Lebensmittel in Waren verwandelt und damit die überkommene Form einer Kooperationsgemeinschaft zerstört, »wie sie unter den Menschen vorhanden war und sich trotz insgesamt niedrigen Wohlstandsniveaus breiter Anerkennung erfreute und als legitimiert galt«. Dagegen erschie nen nun Geiz und Gier legitimiert (86). Jedoch ist nicht auszuschließen, dass er dabei die vorindustrielle Zeit etwas verklärt. Gegen M. Webers Vorstellung von der notwendigen Eigengesetzlichkeit der Lebensgebiete will W. nun mit dem Begriff einer »zivilen Ökonomie« Widersprüchliches produktiv zusammenführen: nämlich eine im Kern moralfreie, investiv betriebene autoakkumulative Wirtschaft sowie die »moralisch ökonomische(n) Vorstellungen als Interessen aufeinander angewiesener und kooperativer Bürger« (100, siehe auch 123). Anschließend befasst sich W. mit der »Arbeitssouveränität« (102–122) unter Berücksichtigung von Im­pulsen aus aktueller Protestantischer Arbeitsethik, namentlich unter berechtigter Betonung des Berufsgedankens (111 ff.).
Im dritten Teil seiner Arbeit geht W. unter der Überschrift »Das zivilgesellschaftliche WIR« auf Sozialräume ein, die er als »Kraftfelder« (129) versteht oder gar als »Orte der Gottesbegegnung« (130). Dabei reiche jedoch der »Bezug auf den Kirchen- und Gottesdienstraum« nicht aus (143 f.), sondern dazu gehörten vor allem »Erziehung und Bildung des je Einzelnen zur Entwicklung des ihm oder ihr inhärenten Potenzial« (143). Zu Recht streicht W. in seinem nächsten Beitrag gegen das klassische liberale Leitbild der »totalen Autonomie – letztlich des Allein-Leben(s)-Könnens« heraus, dass niemand dauerhaft ohne tragende Beziehungen zurechtkäme (149). Dabei sieht er Kirchen in der Rolle von »Inklusionsagenten« (162). Originell sind seine darauf folgenden Beobachtungen zu »Sozialraumunternehmern« (165–177, siehe auch 200), von denen einige mittlerweile »zu Identifikationsfiguren eines zivilgesellschaftlichen Engagements geworden« seien und belegten, dass es sich lohne, sich »trotz nicht unbeträchtlichen Risikos für andere einzusetzen« (176).
Im vierten Teil seiner Studie »Natalität und Entweltlichung« (191–215) beschäftigt sich W. mit der Frage nach der »Kraft, etwas Neues zu beginnen«, welche er auch als »Natalitäts-Faktor« bezeichnet (191). Dabei verweist er vor allem auf eine Kirche, die sich von der Fülle Gottes zu den Menschen hintragen lasse (203). Und im letzten Beitrag W.s unter der Überschrift »Entweltlichung als Weltbe-ziehung« (204–215) zeigt er zu Recht auf heilsame Grenzen »der Ef-fizienz der Kirche« (204). Denn sie habe »gegenüber vielfältigen Tendenzen zur Ökonomisierung oder Neoliberalisierung ihrer Governance-Strukturen vorsichtig« zu sein, weil das Wesentliche der Kirche »unverfügbares Geschehen« bleibe (205). Für ihn stellten die Menschen gleichsam ein »Gefäß« für die Liebe Gottes dar (213). Das sei verbunden mit der Vision einer gerechten Gesellschaft (214).
Insgesamt markiert W. so grundsätzliche Defizite in der heutigen Gesellschaft hinsichtlich der Bewertung der Kooperation und der Wertschätzung der Familie. Er schaut aus der Perspektive evangelischer Tradition zu Recht kritisch auf heutige angebliche ökonomische Selbstverständlichkeiten und warnt davor, sie unbefragt auf kirchliche Verhältnisse zu übertragen. Er gibt zum Teil aber auch originelle Anstöße und mahnt, kirchlich beim »Wesentlichen« zu bleiben. Insofern handelt es sich um eine Sammlung Mut machender Beiträge, die ihren Weg in Kirche und Gesellschaft finden sollten.