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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

987–988

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Riedl, Anna Maria, Ostheimer, Jochen, Veith, Werner, u. Thomas Berenz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Interdisziplinarität – eine Herausforderung für die Christliche Sozialethik.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. 182 S. = Forum Sozialethik, 13. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-402-10638-9.

Rezensent:

Volker Stümke

Das Forum Sozialethik an der Universität München hat auf seiner Tagung 2012 die Interdisziplinarität der Sozialethik zum Thema erhoben. Denn trotz der »offensichtlich grundlegenden Bedeutung des interdisziplinären Austausches fehlt es vielfach an einer fundierten Reflexion« (9). Dieses Nachdenken steht unter vier Fragestellungen, nämlich erstens einer präzisen Begriffsklärung, zweitens einer Verhältnisbestimmung von Sozialethik und den empirischen Wissenschaften, drittens einer Näherbestimmung, welche empirischen Wissenschaften für die Sozialethik besonders relevant sind, und viertens der Konklusion, ob Sozialethik eine angewandte Ethik sei. Diese letzte Frage wird in allen acht Beiträgen mit Ja beantwortet, wenngleich festgehalten wird, dass es un­terschiedliche Begriffe für diese grundlegende Praxisorientierung der Sozialethik gibt (Angewandte Ethik, Bereichsethik, Ethikfelder).
Nachdem in der Einleitung vorläufige Antworten auf diese Fragen formuliert werden, widmen sich die folgenden Beiträge drei Schwerpunkten: Zuerst geht es in vier Aufsätzen um den Status und die Arbeitsweise christlicher Sozialethik, es folgt leider nur ein Aufsatz zum Themenfeld: »Binnentheologische Bezüge der Christlichen Sozialethik« und am Ende stehen zwei Studien zu Menschenbildern als interdisziplinärer Basis. Die durchgehende Rede von einer christlichen Sozialethik markiert eine klare ökumenische Ausrichtung, zu der es nicht im Widerspruch steht, dass die Studien zumeist auf katholische Positionen und Entwicklungen rekurrieren.
Die Arbeitsweise der christlichen Sozialethik wird als Vermittlungsprozess beschrieben. Dabei geht es, wie Andreas Rauhut herausarbeitet, zum einen um einen Ausgleich zwischen Theorie und Praxis, zum anderen um eine Diskussion der unterschiedlichen Perspektiven, sowohl mit anderen Wissenschaften wie mit anderen Religionen und Weltanschauungen. Die folgenden Beiträge von Sibylle Trawöger und Michael Hartlieb vertiefen die Analyse des wissenschaftlichen Diskurses und halten fest, dass es nicht nur inhaltliche Differenzen zwischen der Sozialethik und anderen Wissenschaften gibt, sondern dass bereits Begriffe und Positionsbeschreibungen unterschiedlich verwendet werden. Und Jochen Ostheimer ergänzt, dass demzufolge nicht nur Interessen divergieren und Überzeugungen konfligieren können, sondern dass vor allem bereits die Tatsachen unterschiedlich benannt und methodisch erhoben werden. Mit diesen vier Beiträgen wird eine solide und umfassende Problemanalyse geboten, die einen ersten und unverzichtbaren Schritt für das vertiefte interdisziplinäre Arbeiten der Sozialethik vollzieht. Was jedoch fehlt, ist die komplementäre Wahrnehmung der anderen Wissenschaften (und Weltanschauungen). Dass christliche Sozialethik sich auf einen Diskurs einzulassen hat, um praktisch gesehen ein Problem zu lösen oder Verbesserungen vorzuschlagen, und dass dieser Diskurs theoretisch einerseits Offenheit, andererseits eine Kontur erfordert, wird klar und weitaus differenzierter als hier referiert herausgearbeitet. Aber die Frage, was sich andere Wissenschaften, andere Institutionen oder andere gesellschaftliche Kräfte von der christlichen Sozialethik erhoffen, wird leider nicht gestellt – der Diskurs kann und sollte also durchaus weitergeführt werden. So könnte der dargelegte Befund, dass sich die christliche Sozialethik auf wenige Autoren (wie Habermas, Rawls und Nussbaum) stützt, korrigiert werden.
Das gilt vergleichbar für das zweite Themenfeld. Emanuel Ra­sche beschreibt in einer überaus lesenswerten historischen Rekonstruktion, wie sich die Praktische Theologie immer stärker auf sozialethische Themen und Arbeitsweisen eingelassen hat, so dass er am Ende seines Aufsatzes konkrete Vorschläge für einen wechselseitigen innertheologischen Dialog entwickelt. Auch dieser Im­puls verdient eine Vertiefung, indem die theologischen Fächer nicht primär voneinander abgegrenzt werden (wie in der klassischen Enzyklopädie), sondern »eine fächerübergreifende projektbezogene Zusammenarbeit innerhalb der Theologie« (70, zitiert Norbert Mette) protegiert wird. Weil die unterschiedlichen theologischen Disziplinen ihrerseits wissenschaftlich vernetzt sind, könnte so Interdisziplinarität gleichsam in einem Biotop entfaltet und vertieft werden.
Ethik setzt anthropologische Prämissen voraus, die aber in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr allgemein akzeptiert sind – für diesen Befund hat sich die Rede von Menschenbildern eingebürgert. Michael Zichy und Jochen Sautermeister präzisieren dieses Problemfeld und folgern, dass gerade Menschenbilder nur in einem interdisziplinären Diskurs analysiert, systematisiert und gegebenenfalls kritisiert werden können. Kategoriale Bestimmungen des Menschseins stehen allerdings unter Problemdruck – und zwar nicht nur im Bereich der Medizin. Auch die Frage, warum ein Soldat einen Kombattanten (unter bestimmten Bedingungen) töten, aber niemals foltern darf, steht im Raum. Somit gilt für den dritten Schwerpunkt wie für den Tagungsband insgesamt, dass einerseits wichtige Fragen gestellt und deren Implikationen klug aufgezeigt worden sind, andererseits eine weitere Vertiefung – sei es durch Beteiligung anderer Wissenschaften, sei es als Weiterführung in praktische Themenfelder – wünschenswert ist.