Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

822–825

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Boeglin, Jean-Georges

Titel/Untertitel:

La Question de la Tradition dans la Théologie Catholique Contemporaine.

Verlag:

Paris: Cerf 1998. 472 S. 8 = Cogitatio Fidei, 205. Kart. fFr 250.-. ISBN 2-204-05566-2.

Rezensent:

Paul-Gerhard Müller

Das Buch bietet die erweiterte Doktordissertation des Vf.s, die an der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg angenommen wurde. Der Vf., Jahrgang 1959, ist z. Zt. Pfarrer an der Christkönig-Pfarrei Bischheim nahe Straßburg. Er veröffentlichte bereits: Christus Lehrer des geistlichen Lebens bei Johannes vom Kreuz, Paris (Saint Paul), 1992.

Um die Frage der Tradition in der gegenwärtigen katholischen Theologie zu erörtern, greift der Vf. weit aus mit einer gedrängten Darstellung der Voraussetzungen des Traditionsdenkens in der Reformation (25-40). Er behandelt Luther, Calvin, Zwingli, Huss und Wycliff in ihrem typischen Traditionsverständnis. Er beschreibt den geistesgeschichtlichen und kulturellen Hintergrund des Programms "Zurück zu den Quellen" im Humanismus und die Positionen zur Frage "Schrift und Tradition", die Überordnung der Schrift über das Lehramt und die logisch folgende Zurückdrängung der Tradition zugunsten des Schriftprinzips "Sola Scriptura", vor allem des Anspruchs der Tradition in der Gestalt des Papstes, der Konzilien, des Lehramtes, des kirchlichen Brauchtums, der hergebrachten Frömmigkeitsformen, des Ämterwesens und seiner Zeremonien. Zitiert wird Luthers berühmter Ausspruch aus dem Traktat gegen die Messe vom November 1521: "Alles was nicht in der Schrift steht, ist ganz einfach eine Zufügung Satans". Genau gegen diese radikale Position will das Trienter Konzil einschreiten (40-63).

Seit Februar 1546 wurde in zehn Sitzungen der Generalkongregationen die Auseinandersetzung mit Luther aufgenommen, bevor das Dekret vom 8. April 1546 veröffentlicht wurde. Als man sich in den Vorbereitungskommissionen mit der Abgrenzung des Kanons befaßte, votierte eine beachtliche Fraktion für die Entscheidung Luthers zugunsten des kleinen Kanons, weil sie schon bei Hieronymus eine ähnliche Reduktion sah. Andere votierten für den großen Kanon, der beim Unionskonzil von Florenz 1441 mit den Jakobiten bevorzugt worden war.

Schließlich wies man die Ausgrenzung der sogenannten deuterokanonischen Bücher zurück. Bei der Debatte über "Schrift und Tradition" wurde eine Liste mit 34 "apostolischen Traditionen" wie Glaubensbekenntnis, Kreuzzeichen, Kindertaufe u.s.w. abgelehnt. Eine Gruppe wies sogar darauf hin, daß die Kirche die apostolische Tradition, kein Fleisch von Ersticktem zu essen, aufgegeben hat, ebenso wie das Zinsverbot. Der Vf. analysiert im einzelnen das Konzilsdekret vom 8. April 1546 und dessen Wirkungsgeschichte bei John Driedo, Albert Pighius, John Fischer, Johannes Eck, Melchior Cano und Robert Bellarmin. Die Entwicklung im 17. und 18. Jh. wird nicht eigens angesprochen. Es folgt sofort die Traditionsdebatte im 19. Jh. (65-85). Johann Adam Möhler aus der katholischen Tübinger Schule lehnt die Vorstellung von zwei Quellen "Schrift und Tradition" ab und sieht die Tradition der Kirche als Kontinuum der Geistwirkung in der Communio-Einheit der Kirche. Die Kirche verbürgt die reine Tradition der Kirche von Jesus an über die Schrift bis in Gegenwart und Zukunft. Diese Pneumatologie der Tradition sieht ihr Wesen in dem "eigentümlich in der Kirche vorhandenen und durch die kirchliche Erziehung sich fortpflanzenden christlichen Sinn (sensus fidelium), der jedoch nicht ohne seinen Inhalt zu denken ist. Diesem Sinn als Gesamtsinn, Gesamtverständnis im kirchlichen Bewußtsein, ist die Auslegung der Hl. Schrift anvertraut". Mit Irenäus und allen Kirchenvätern betont Möhler, daß die Schrift immer nur innerhalb der Kirche, niemals gegen sie und ihre Tradition gelesen und ausgelegt werden kann. Die mündliche Tradition, das gelebte Evangelium und das Wort der Predigt werden von Möhler als Korrektur des Sola-Scriptura-Prinzips ins Feld geführt. - John Henry Newman betont im Kontrast zur anglikanischen Auffassung die Dogmenentwicklung als legitime Aufgabe des kirchlichen Lehramts. Die römische Schule unter Giuseppe Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader und Johann-Baptist Franzelin betonen im Rahmen der Neuscholastik und im Kampf gegen Rationalismus und Positivismus stärker den Aspekt der Kirche als mystischer Leib Christi in ihrer Ekklesiologie. Sie betonen den dynamischen Charakter des Depositum fidei im Zeugnis des Lehramts und die Regula fidei als oberste Richtschnur des Glaubens. Ein Sonderfall in dieser Epoche stellt der Versuch dar, die Definition und Promulgierung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens mit der Bulle Ineffabilis Deus vom 8. Dezember 1854 aus der Schrift zu begründen und ohne Konzilsbeschluß, allein durch ein Votum der Mehrheit des Weltepiskopats durch päpstliche Proklamation als Offenbarungswahrheit universell einzuführen.

Das I. Vatikanische Konzil äußert sich nur spärlich zur Traditionsfrage und stützt sich weitgehend auf das Trienter Konzil. In Kap. III der Konstitution De fide catholica wird festgehalten: "Vom göttlichen und katholischen Glauben muß man all das glauben, was im Wort Gottes, geschrieben oder (durch die Tradition) überliefert, enthalten ist, und was die Kirche als göttlich geoffenbart vorlegt, sei es durch feierliche Entscheidung, sei es durch ihr ordentliches und universelles Lehramt". Die Priorität der Kirche vor der Bibel ist unverkennbar.

Im 20. Jh. (86-102) wird die Traditionsdebatte auf dem Hintergrund und unter den Herausforderungen des Modernismus, Liberalismus und Evolutionismus geführt. Pioniere sind Maurice Blondel und Louis Billot S.J. Dann werden die Studien zum Traditionsbegriff von J. R. Geiselmann, H. Lennerz, Joseph Ratzinger, André Liégé, Irénée-Henri Dalmais, Yves Congar und Peter Lengsfeld (MystSal I,2 von 1965, daher noch vorkonziliar) behandelt, die uns an den Vorabend des II. Vatikanischen Konzils bringen. An dieser Stelle schaltet der Vf. ein Kapitel ein, das eigentlich vom Buchtitel her nicht zu erwarten wäre, das aber außerordentlich informativ ist. Er stellt die Entwicklung des Traditionsdenkens in den protestantischen und orthodoxen Milieus dar (125-168). Hier werden Karl Barth, Gerhard Ebeling und Oscar Cullmann behandelt. Barth geht von der Selbstüberlieferung Jesu in seiner Menschwerdung aus, seiner Paradosis in der eucharistischen Tradition "bis er wieder- kommt". Weil die menschliche Kirche grundsätzlich fehlbar bleibt, kann sie weder den Kanon der Schriften definitiv festlegen noch deren Auslegung garantieren. Die Kirche bleibt dem Wort Gottes unterworfen. Ebeling bringt das Schlagwort vom "Kanon im Kanon" und eine phänomenologische Analyse der Geschichtlichkeit von Tradition in die Debatte ein. Cullmann sieht in der Verfügung der Kirche über den Kanon einen schweren Abfall, weil die mündliche Überlieferung der nachapostolisch-frühkatholischen Kirche seit etwa 150 n. Chr. keinen normativen Wert mehr hätte. Dann werden zwei reformierte Theologen Jean-Louis Leuba und Daniel Jenkins referiert, die die pneumatische Dimension im Uberlieferungsvorgang betonen. Aus der orthodoxen Kirche werden Vladimir Soloviev, Vladimir Lossky und Panagiotis Trembelas vorgestellt.

Im 2. Teil des Buches (169-297) behandelt der Vf. die Traditionslehre des II. Vatikanischen Konzils und der nachkonziliaren Ära bis zur Gegenwart. Zunächst wird das Vorlage-Schema "De fontibus revelationis" von 1961 und seine sukzessiven Veränderungen analysiert, der wichtige Beitrag des Sekretariats für die Einheit vom November 1962 und die Vorschläge von Karl Rahner, Yves Congar und Henry de Lubac. Dann wird die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung (Dei Verbum) vom 18.11.1965, die nach vierjährigen Ringen und heftigen Auseinandersetzungen als Kompromiß zustandegekommen war, ausführlich dargestellt. Auch wird die Wertung der Tradition in den anderen Konzilsdokumenten erhoben. Den Beitrag des Ökumenismus vor, während und nach dem Konzil würdigt der Vf. S. 241-297. Es werden die Reaktionen der nichtkatholischen Konzilsbeobachter und der nichtkatholischen Theologie und Welt dargestellt: Roger Schutz, Max Thurian, Edmund Schlink, Karl Barth, aber auch die Ausstrahlung der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung von Montreal 12.-26. Juli 1963 mit Delegierten von 138 Kirchen, die praktisch dasselbe Thema wie "Dei Verbum" behandelte. Dann sichtet der Vf. die Rolle der Tradition in den interkonfessionellen ökumenischen Gesprächen der Neuzeit, etwa von Chambésy 1975 oder Nairobi 1985, wo die Bedeutung des kirchlichen Lehramts, der apostolischen Sukzession, des Schriftprinzips, der Interpretationsnormen immer wieder auftreten. Die Geist-Theologie des orthodoxen Theologen Jean Zizioulas 1985 wird eigens als ökumenisch aufschlußreich vorgestellt.

Im 3. Teil des Werks behandelt der Vf. (299-433) "Bezeichnende Gesichtspunkte des zeitgenössischen Nachdenkens über die Tradition" seit dem II. Vatikanischen Konzil bis heute. Er weist auf die Akzentverschiebung in der theologischen Forschung in Richtung Hermeneutik hin. Ein anderer Schwerpunkt ist die Liturgie mit ihren Schlüsselbegriffen "Gedächtnis- Memoria - Anamnesis". Die Verwirklichung des Christlichen in der Welt ist die dritte Achse. Die Evangelisation und Inkulturation als missionarische Dimension des Kircheseins in der Welt bilden die vierte Achse. Unter dem Titel "Lebendige Tradition und Theologie. Auf eine Theologie der Interpretationen zu" stellt er das hermeneutische Projekt Rudolf Bultmanns, die Rückfrage nach dem historischen Jesus und die Kerygmatheologie dar. Dann wird das Verständnis von Schriftinterpretation als ekklesial-dogmatisches Sprechen nach Ch. Wackenheim, Walter Kasper, Joseph Ratzinger, Karl Rahner und dem Dokument der päpstlichen Bibelkommission vom 23. April 1993 "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" (SBS 161) dargestellt. Dann wird der Ansatz von Claude Gefreé, P. Gisel, Paul Ricur behandelt. Dem folgt "Lebendige Tradition und Liturgie" über die Predigt des Wortes Gottes, die Homilie und mystagogische Katechese als schöpferische Vergegenwärtigung und erzähltes Ereignis. Hier stützt sich der Vf. auf Odo Casel, E. Schillebeeckx, Alexander Schmemann und L. Deiss. Dann behandelt der Vf. das Bezugsverhältnis zwischen Tradition und christlicher Lebenspraxis und Erfahrung mit Blick auch auf die Befreiungstheologie von Leonardo Boff und Juan Luis Segundo sowie im Anschluß an die "Theologie der Welt" und "Politische Theologie" von Johann-Baptist Metz. Schließlich wird unter "Lebendige Tradition, Inkulturation, Evangelisation" (393 ff.) das Thema "Tradition" in einem weltweiten, globalen Horizont multikultureller Begegnung der Religionen und Systeme dargestellt. Hier werden besonders die Rollen der Laien, der Ordensleute und des zentralen Lehramtes für eine Communio-Weltkirche hervorgehoben. Die Ergebnisse der Studie werden S. 425-433 zusammengefaßt. Abkürzungsverzeichnis und reiche Bibliographie (437-460) sowie Inhaltsverzeichnis schließen den Band ab. Autoren- und Sachregister fehlen.

Während der 1. Teil der Studie naturgemäß auf Sekundärliteratur beruht, sind die beiden Hauptteile weitgehend aus den Quellentexten erarbeitet, so vor allem die Traditionslehre des II. Vatikanischen Konzils. Der Vf. zeigt eine beeindruckende Belesenheit in der einschlägigen Fachliteratur zur Entwicklung des Traditionsbegriffs in den einzelnen Schulen und Strömungen, deren Darstellung präzise und zutreffend ist. Die vielfachen neuzeitlichen Versuche eines Gesprächs der Theologie mit den Humanwissenschaften bezüglich des Traditionsphänomens bleiben unerwähnt. Die kultur-anthropologischen, historischen, soziologischen, psychologischen, linguistischen, kommunikationstheoretischen Implikationen des Traditionsprozesses und der Traditionsinhalte bleiben ausgeklammert in dieser Studie, die sich strikt auf einen dogmatischen Traditionsbegriff beschränkt. Auch der Fortgang der exegetischen Traditionsdebatte seit O. Cullmann 1952 wird nicht rezipiert, wodurch die Studie wohl auch überfordert gewesen wäre.

Seltsamerweise werden D. Wiederkehr, Das Prinzip der Überlieferung, sowie "Normen, Kriterien und Strukturen der Überlieferung" (HFTh 4, 1988), P.-G. Müller, Der Traditionsprozeß im Neuen Testament (Fr 1982), R. Kampling (NHThG 5, 1991) sowie andere wichtige Literatur zum Thema nicht herangezogen, so daß die fundamentalanthropologische Analyse des Traditionsphänomens, der gerade im katholischen Forschungsbereich erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wurde, weitgehend außer acht bleibt. - Abgesehen von dieser Einschränkung ist die Studie ein faszinierender Durchblick durch die Entwicklung des Traditionsgedankens von der Reformation bis heute. Die Studie gibt Hoffnung, weil sie zeigt, wie Protestanten, Orthodoxe und Katholiken intensiv um den Traditionsbegriff ringen, und wie sie sich in diesem Ringen teils annähern. Für den notwendigen weiteren Disput der Ökumene und der Communio willen ist dieses Buch ein hilfreiches Instrument der Information und Argumentation über die normative Rolle von Tradition in den Kirchen.