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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

982–983

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wendte, Martin

Titel/Untertitel:

Die Gabe und das Gestell. Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVI, 516 S. = Collegium Metaphysicum, 7. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-152400-4.

Rezensent:

Bo Kristian Holm

Bei der beeindruckenden Leistung, die hier in Buchform vorliegt, handelt es sich um Martin Wendtes Habilitationsarbeit, die in Tübingen bei Christoph Schwöbel geschrieben wurde, dem er auch von Heidelberg aus an dessen neue Wirkungsstätte gefolgt ist. Das Be­eindruckende bezieht sich vor allem darauf, dass hier, wie bereits im Titel angedeutet, viele Diskurse erst neben- und schließlich ineinander laufen: Martin Heideggers Technik-Kritik und Anton Friedrich Kochs Erstphilosophie (statt Metaphysik) formen die Voraussetzung für ein ausführliches Gespräch mit Luthers später Abendmahlslehre.
Seit Erwin Metzkes kleiner und in gewisser Hinsicht alleinstehender Arbeit Sakrament und Metaphysik (Stuttgart 1948/Witten 1961) hat sich die Lutherforschung bisweilen mit der Frage nach der ontologischen Basis der späten Abendmahlslehre Luthers beschäftigt, ohne dabei die gewünschte Einbettung von Luthers Verständnis göttlicher Gegenwart in seine Gesamttheologie zu erreichen. W.s Anliegen ist es aber nicht nur, diese Lücke zu füllen, sondern auch die Spättheologie Luthers als argumentationskräftige Posi-tion in der Gegenwart stark zu machen. Um dieses ambitiöse Ziel zu erreichen, bedarf es zunächst einer tiefgreifenden Gegenwartsanalyse, die W. vor allem mit Heidegger durchführt (21–94), sowie an­schließend einer philosophischen Position, die Luthers Spät theologie für die Gegenwart Stärke verleihen kann und die W. in Kochs Erstphilosophie findet (95–283). Beides wird letztlich in Zusammenhang mit einem nuancenreichen, aber konsistenten Luther-Verständnis gebracht, das W. durch eine Auseinandersetzung mit führenden, aber gleichzeitig sehr verschiedenen Positionen der Lutherforschung des 20. Jh.s erlangt (285–470). Ernst Bizer, Oswald Bayer und Eilert Herms, Ingolf U. Dalferth und Albrecht Beutel, die finnische Lutherforschung sowie der französische Philosoph Jean-Luc Marion sind hier die bedeutendsten Diskussionspartner.
Jeder der drei Hauptteile ist in sich zweigeteilt: Heidegger wird erst als Philosoph der Technik präsentiert, danach seine Philosophie zu einer Kritik an der liquid modernity weiterentwickelt. Letztere finde in dem Abendmahl als anti-totalisierende focal practice (91), bei der der Mensch in Kontakt mit der »commanding presence of reality« kommt, ihren Gegensatz, so dass dieses Geschehen dem »saturierten Phänomen« Marions ähnelt. Der Heidelberger Philosoph Koch wird zunächst als erstphilosophische Position gründlich skizziert und dann in einer Diskussion mit Kant, Hegel und vor allem Schelling, die auch den Gottesbegriff mit einbezieht, zu einer idealrealistischen Position ausgearbeitet. Unter der Voraussetzung, dass Luthers Ablehnung spekulativer Zugänge in der Theologie nicht zu folgen ist, zeigt W. zunächst, wie Kochs Wahrheitstheorie ein für Luthers Abendmahlslehre grundlegendes Wirklichkeitsverständnis anbietet, und anschließend, wie die entwickelte idealrealistische Position mit Luthers Theologie konvergiert.
Der Lutherabschnitt gibt zuerst einen Überblick über die Forschung des 20. Jh.s, die in vier Strömungen eingeteilt wird: 1. der frühe Luther als der wahre (Lutherrenaissance); 2. Luther als Wegbereiter des Anthropozentrismus (Karl Barth); 3. der mittlere Luther als der reformatorische (Ernst Bizer u. a.); und 4. der spätere Luther als Theologe der Gabe. Hierauf folgt eine solide Darstellung von Luthers Metaphysik des Abendmahls, die trotz einer gewissen synthetisierenden Tendenz bezüglich der unterschiedlichen Forschungsstränge Luthers Theologie als worttheologische Variante des »Idealrealismus« überzeugend auslegt.
In der anschließenden Ausführung einer gabetheologischen Position, die Schöpfungs- und Abendmahlslehre zusammenschaut, wird W. noch lesenswerter. Von Saarinen nimmt er die Unterscheidung einer Geber- und einer Empfänger-Perspektive im Gabegeschehen (330–335), betont aber, dass Luther diese Perspek-tiven zu­sammendachte. Ausgehend von der Gabe-Diskussion ge­winnt W. vor allem an Momentum, indem er Luthers gabetheologische Position gleichzeitig auch als Wort-Theologie ausarbeitet. Nur beides zusammen gibt Luthers Theologie ihre innere Konsis­tenz und Stärke. Von Bayer inspiriert hebt er Luthers Verständnis vom »Leiblichen Wort« sowohl im Abendmahl als auch in der Schöpfung hervor (328) und sieht hierin die lutherische Basis einer idealrealistischen Position, die erstens die Welt sowohl als Anrede als auch als göttliche Gegenwart verstehen kann und zweitens mit Kochs Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit korrespondiert, womit Wahrheit gleichzeitig und untrennbar anschaulich präsent (wie Christus sich im Geist gibt und zeigt), realistisch repräsentional (wie Chris­tus real präsent ist) und praktisch normativ (wie Christus menschliche Aktivität begründet und begrenzt) ist und wodurch Wahrheitsansprüche berechtigt werden. Damit wird die Welt als Gabe der Welt als Bestand, wie sie im heutigen technischen Zeitalter verstanden wird, entgegengesetzt.
Trotz des unmittelbaren Leseeindrucks eines zunächst unüberschaubaren Unternehmens gelingt es W., die verschiedenen Stränge seiner Arbeit so zusammenzuführen, dass sich die Notwendigkeit ihrer Ausführlichkeiten erschließt. Es bleibt nur eine wirkliche Kritik, die an W.s Arbeit zu stellen ist: sein gelegentlich unpräzises Gabe-Verständnis, das er mit vielen anderen teilt. Einerseits wird jede Gabe im Hinblick auf die Schöpfung als gesättigte – oder, mit Marion, als saturierte – Gabe verstanden. Andererseits wird im Zwischenmenschlichen eine scharfe Grenze zwischen Gaben, die als wechselseitige Gaben gegeben werden, und solchen, die als einseitige Hilfe zu verstehen sind, gezogen (347). Damit aber wird ein restriktiver Gabebegriff gegen einen breiten ausgespielt und der Versuch, sozial-anthropologische Behauptungen von einem intimen Verhältnis zwischen Gabe und Tausch auf Distanz zu halten, scheitert.
Wenn man mit Mauss die Gabe und die mit der Gabe gesetzte Wechselseitigkeit als ein »fait social total« versteht, dann sieht man, dass von Seiten des Empfängers jede Hilfe, die empfangen wurde, auch eine Gabe ist, und dann ist es auch notwendig, diesen Punkt in der Theorie mitzureflektieren. Dass es Luther möglich ist, die für die Sozialität notwendige Wechselseitigkeit in seine Theologie zu integrieren, kann man u. a. in Wolfgang Simons Arbeiten zu Luthers Abendmahlslehre lernen, die leider in der Bibliographie fehlen. Nur wenn die Relation zwischen Gott und Mensch auch sozial verstanden wird, kann Gott überzeugend als ein Gott der selbstgebenden Liebe begriffen werden. M. E. kann die Darstellung von Luther als Theologe der Gabe und als Theologe des Wortes nur gelingen, wenn er gerade in diesen zwei Momenten auch als Theologe der göttlichen Liebe zur Sprache kommt.
Diese Kritik ändert aber nichts daran, dass mit diesem Buch unser Verständnis von Luthers Metaphysik und seiner Abendmahlslehre sowohl in seiner historischen als auch in seiner gegenwärtigen Bedeutung einen bedeutenden Schritt weitergekommen ist.