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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

969–972

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stoellger, Philipp [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Un/Sichtbar. Wie Bilder un/sichtbar machen.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 310 S. = Interpretation Interdisziplinär, 13. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-5338-2.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Stoellger, Philipp, u. Marco Gutjahr [Hrsg.]: Visuelles Wissen. Ikonische Prägnanz und Deutungsmacht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 358 S. = Interpretation Interdisziplinär, 14. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-5339-9.
Stoellger, Philipp, u. Marco Gutjahr [Hrsg.]: An den Grenzen des Bildes. Zur visuellen Anthropologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 312 S. = Interpretation Interdisziplinär, 15. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-5340-5.


Es war im Jahr 1967, als der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty wirkmächtig den »linguistic turn« ausrief. Damit verband Rorty eine Diagnose. Demnach herrschte bis zur Barockzeit das ontologische Paradigma (»Sein«) vor, das in der Neuzeit vom transzendentalphilosophischen Paradigma abgelöst wurde (»Bewusstsein«), bevor dies wiederum in der Moderne vom sprachphilosophischen Paradigma (»Sprache«) beerbt wurde. Die Überzeugung des »linguistic turn« lautet – häufig mit Verweis auf die Spätphilosophien von Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger: Letzter Bezugspunkt unseres Realitätsbezugs soll die menschliche Sprache sein. Weil damit insbesondere die Dimensionen des Leiblichen, Materiellen und Räumlichen nicht angemessen berücksichtigt werden, ist der »linguistic turn« seinerseits seit ungefähr den 1980er Jahren mit der Ausrufung zahlreicher neuer »cultural turns« konfrontiert (worden). Deren inzwischen mitunter inflationäre Ausrufung hängt (auch) mit der Konkurrenz um die knappen Ressourcen öffentlicher Aufmerksamkeit und damit verbundener Forschungsgelder zusammen. So überrascht es nicht ganz, dass viele dieser ausgerufenen »turns« als teilweise postmodern überspannte und wissenschaftlich letztlich nicht satisfaktionsfähige Modeerscheinungen unserer Spätmoderne gelten. Doch es gibt auch einige »turns«, die sich etablieren.
Der letzte und vermutlich bisher auch mit Abstand erfolg-reichs­te ist der »iconic turn«, den der Baseler Kunstwissenschaftler und Philosoph Gottfried Boehm in den 1990er Jahren ausgerufen hat. Dieser »iconic turn« ist nun von Haus aus keineswegs sprachfeindlich, wie man aufgrund der Konkurrenz zum »linguistic turn« meinen könnte, sondern möchte vielmehr die Laut- und Schriftsprache nachhaltig im Bildvermögen des Menschen und unserer zunehmend auf Sichtbarkeit abstellenden Gegenwartskultur verankern. Selbstverständlich gab es schon in den frühesten Zeiten der Menschheit bildliche Darstellungen, wie auch die Rede vom Menschen als »animal symbolicum« (Ernst Cassirer) und »homo pictor« (Hans Jonas) nahelegt. Doch heute erscheinen alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens von Bildern geprägt. Die digitale Revolution der Medien hält ständig Bilder präsent und kann Argumente durch Bilder ersetzen. Informationen werden (z.B. mit PowerPoint) zunehmend visuell weitergegeben, auch in der evangelischen Theologie. Und unsere Gesellschaft gilt weithin als durch Inszenierung und Spektakel, Überwachung und Medialität ge­prägt. Zuletzt hat wohl der Anschlag auf die Karikaturisten der Pariser Zeitschrift »Charlie Hebdo« im Januar 2015 das Bewusstsein dafür geschärft, dass Bilderstürme keineswegs der Vergangenheit angehören. Und grundsätzlich verweisen die Veranstaltungen zum Themenjahr 2015 »Bibel und Bild« der EKD-Reformationsdekade auf das dringend aufklärungsbedürftige Verhältnis von kulturellem Bildvermögen und protestantischem Glaubensbewusstsein.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Etablierung eines »iconic turn« in der Theologie. Die orthodoxe und katholische Theologie stehen aufgrund ihrer Bildaffinität, die freilich teilweise stark traditional geprägt ist, dem Thema prinzipiell durchaus offen gegenüber. Etwas anders verhält es sich mit der protestantischen Theologie, wenn sie medial das Wort (Gottes) von seinen leiblichen Manifestationsformen, gottesdienstlichen Inszenierungsmustern und imaginativen Potentialen trennt. Dabei muss es freilich nicht bleiben. Zahlreiche Neuaufbrüche sind hier im deutschsprachigen Protestantismus der letzten Jahre, besonders in der Systematischen und Praktischen Theologie zu beobachten. Doch auch aus der alttestamentlichen und kirchengeschichtlichen Forschung kommen ebenso gewichtige Beiträge zu den Schlagworten »Bilderverbot« in Israel und »Medialität« in der Reformationszeit. Einen inzwischen relativ prominenten Ort (nicht nur) in der Systematischen Theologie hat dieses Programm seit einigen Jahren in Rostock, wo Philipp Stoellger im Anschluss an und in der Nähe zu entsprechende(n) Ansätze(n) zur (Sprach-)Bildlichkeit von Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth und Michael Moxter seine eigene Sicht der Dinge ent-wickelt und zusammen mit dem Praktischen Theologen Thomas Klie ein protestantisches »Institut für Bildtheorie« etabliert (hat). Auch die drei hier anzuzeigenden Sammelbände gehören in diesen Zusammenhang.
Der Sammelband »Un/Sichtbar. Wie Bilder un/sichtbar ma­chen« ist der Frage gewidmet, wie Bilder etwas zeigen, und was sie dabei verbergen. Das ist erst einmal basal gemeint, insofern Bilder nicht durchsichtig, sondern opak sind, und weitet sich dann zur Frage nach der Verschränkung von Zeigen und Nicht-Zeigen aus. Damit kommen auch ausdrücklich religiöse Deutungen ins Spiel. Die Zugänge der Beiträge sind entsprechend vielschichtig.
Der Rostocker Neutestamentler Eckhart Reinmuth deutet gut nachvollziehbar die Johannesapokalypse als eine religiöse Parodie von Machtverhältnissen mittels imaginärer Sichtbarmachung, und der Trondheimer Kirchenhistoriker Joar Haga interpretiert erhellend Albrecht Dürers Selbstbildnisse im Kontext lutherischer Anthropologie und reformatorischer Bildkunst bei Lucas Cranach. Der Rostocker Kirchenhistoriker Jens Wolff widmet sich gleichsam mikroskopisch dem Werk des Barocklyrikers Sigmund von Birken, das selbst bei Fachgermanisten weithin zu Unrecht vergessen ist, wie Wolff meint. Überzeugend betont der Hamburger Systematiker Markus Firchow mit Friedrich Schleiermacher die Bedeutung der Ästhetik und des (Ur-)Bildbegriffs für die religiöse Selbstdeutung des Menschen. Die Rostocker Religionspädagogin Martina Kumlehn votiert ebenfalls in diese Richtung und legt aufschlussreich dar, wie die Malerei den Menschen zu einem »Nullpunkt« führen kann, an dem mannigfaltige Deutungsprozesse hängen, die wiederum auf den seit Meister Eckhart einschlägigen Zusammenhang von Bild und Bildung verweisen. Der Rostocker Praktische Theologe Thomas Klie schließt sich dem grundsätzlich an und entwirft geistreich eine imaginierte Religionsstunde mit einem unverhüllt bleibenden Bild, das zu offenen Deutungen von Schülerinnen und Schülern führen kann. Philipp Stoellger beschäftigt sich damit, inwiefern Gottes- und Menschenbilder un/sichtbar machen, und grenzt sich überzeugend von der protestantischen Hochschätzung des Unsichtbaren ab. Die Rostocker Kunst-his­torikerin Nadine Söll geht dem Werk des Künstlers Bank Violette nach, während die Karlsruher Kunstwissenschaftlerin Jennifer Daubenberger in der bildanthropologischen Sicht von Hans Belting sich dem Phänomen der Tätowierung und der Ikonisierung von Körpern widmet. Der in Tokio lehrende Literaturwissenschaftler Arne Klawitter deutet Bilder des unsichtbaren Denkens im Werk von Velázquez, Manet und Magritte, die in Friedrichshafen lehrende Medientheoretikerin Gloria Meynen setzt sich kritisch mit McLuhans Medienbegriff auseinander und der Berliner Kulturwissenschaftler Robert Dennhardt erörtert die zunehmend abstraktere Symbolisierung von elektronischen Schaltplänen. Den Abschluss bildet der interessante Beitrag der Berliner Bild-, Kunst- und Medienwissenschaftlerin Annette Jael Lehmann, die – insbesondere dem mittels von Satelliten und digital jedermann sichtbaren – gleichsam schöpfergleichen Blick des Menschen auf die Erde nachspürt.
Der Sammelband »Visuelles Wissen. Ikonische Prägnanz und Deutungsmacht« wendet sich der Frage zu, inwiefern Bilder eine Form des Wissens sind und inwiefern Wissen auf Bildlichkeit angewiesen ist.
Mit dem Potsdamer Medienwissenschaftler Dieter Mersch, dem Kölner Kunsthistoriker Hans Ulrich Reck und dem Karlsruher Bildtheoretiker Daniel Hornuff sind unter anderem auch drei Autoren vertreten, die in der sich formierenden Bildtheorie publizistisch schon stark in Erscheinung getreten sind. Mersch plädiert in seinem Beitrag für ein visuelles Denken, das sich einerseits der schlichten Entgegensetzung zum Diskursiven entzieht und andererseits nicht das Entweder-Oder-Negationsschema des Diskursiven teilt, sondern zu einer topologischen Verfahrensrationalität im Sinn von Kontrasten führt. Reck geht es weniger um ein Denken in Bildern als ein Denken mit Bildern, wobei er die pragmatische Dimension des Bildumgangs in den Vordergrund rückt und diese kritisch zu gegenwärtigen Praktiken in ein Verhältnis setzt. Und Daniel Hornuff ist in seinem kulturgeschichtlich interessanten Beitrag den Darstellungsweisen pränataler (Un-)Sichtbarmachungen auf der Spur – von Leonardo da Vincis Kuhuterus bis zu gegenwärtigen Bildverfahren in der Pränataldiagnostik. Neben diesen drei Beiträgen bietet der Sammelband weitere Überlegungen renommierter Autoren: Der schon im Band zuvor vertretene Arne Klawitter dekonstruiert die lateinische Buchstabenschrift im Horizont chinesischer Schriftzeichen, der Rostocker Theologe Marco Gutjahr bricht mit Hilfe von Rembrandt eine Lanze fürs Visuelle, wie Philipp Stoellger die Deutungsmacht von Bildern thematisiert und im Anschluss an die französische Bildtheorie meint, dass Bilder uns anblicken und so eine Alterität erfahren lassen. Eindrücklich analysiert auch der Rostocker Ideengeschichtler Yves Bizeul die offiziellen Staatsporträts der französischen Staatsoberhäupter der Fünften Republik, wie der Rostocker Religionshistoriker Klaus Hock Missionsbilder und ihre Potentiale auslegt. Die Bochumer Religions- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Lanwerd geht kontextsensibel der (Un-)Sichtbarkeit des Islam kulturkritisch nach, während die Baseler Kunsthistorikerin Inge Hinterwaldner geistreich die Visualisierungsansätze von Luftströmungen bei Étienne-Jules Marey und Friedrich Ahlhorn zu Beginn des 20. Jh.s vergleicht. Der in Rheine tätige Künstler und Radiologe Günter Klaß rückt Röntgenbilder und ihren hermeneutischen Realitätsbezug in den Vordergrund, dem Rostocker Biologen Tobias Breidenmoser ist es besonders um Mikroskopiebilder zu tun, während der Züricher Veterinärpathologe Andreas Pospischil die Zunft der Pathologen mit Umberto Eco als ikonophil wertet. Auch diese naturwissenschaftlich inspirierten Beiträge lesen sich gut – und erschließen interessante Aspekte, die bildtheoretisch zu berücksichtigen sind.
Der Sammelband »An den Grenzen des Bildes. Zur visuellen An­thropologie« akzentuiert schließlich die Bildtheorie anthropologisch. Dies ist bildtheoretisch eine gewisse »Erdung«, wenn man bedenkt, dass nunmehr der Mensch als Bilderproduzent in den Mittelpunkt rückt.
Mit den Baseler Bildtheoretikern Christian Spies, der spätmittelalterliche Narrenerzählungen vom leeren Bild und dessen Illustrationen interpretiert, und Martina Sauer, die der Verstörung und Aufdeckung der Alltagswahrnehmung durch Kunst(-Bilder) nachgeht, sind auch in diesem Band wieder Autoren vertreten, die bildtheoretisch schon seit Längerem aktiv sind. Doch aufschlussreich sind auch die anderen Beiträge: Der Rostocker Philosoph Heiner Hastedt thematisiert gewissermaßen, inwieweit die zeitgenössische Bildtheorie eine gelehrte und postmodern überspannte Modeerscheinung ist; der schon aus den anderen beiden Bänden bekannte Arne Klawitter untersucht im Anschluss an Michel Foucault sprachliche Bilder in der modernen französischen Literatur; der Berliner Kultur- und Bildtheoretiker Nisaar Ulama setzt sich mit der Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren bei Bruno Latour auseinander und der Baseler Kunsthistoriker Toni Hildebrandt erkundet im Anschluss insbesondere an Jaques Derrida den Topos der zeichnerischen Blindheit. Die Weimarer Medientheoretikerin Olga Moskatova spürt bildinternen Kennzeichnungen in Bewegtbildern nach, der Bielefelder Bildtheoretiker Thomas Abel destruiert die vermeintlich realistische Evidenz fotografischer Bilder und Philipp Stoellger erwägt in enger Anlehnung an Hans Beltings »Bild-Anthropologie« den Tod als Ursprung des Bildes. Die Hamburger Romanistin Silke Segler-Meßner deutet im Rückgriff auf Emmanuel Lévinas die Darstellungsstrategien in Emmanuel Finkiels Film »Voyages«, während Marco Gutjahr die Philosophie Paul Ricœurs bildtheoretisch im Spannungsfeld von Imagination und Tod fruchtbar zu machen versucht und der Weimarer Ästhetiker Wolfram Bergande sich im Anschluss an Jacques Lacan mit dem Sich-Entziehen des Subjekts im Sinn des menschlichen Gegenübers beschäftigt.
Die drei Sammelbände gehören in die Formierungsphase der sich gerade akademisch etablierenden Bildtheorie. Drei Punkte erscheinen systematisch-theologisch wichtig. Erstens lässt sich der gegenüber der Bildtheorie – und der gerade auch in ihrem Diskurs geäußerte – Verdacht, bloß assoziativ zu sein, nicht wirklich erhärten. Zwar ist die Thematik äußerst vielschichtig, die auf den ersten Blick verwirrend erscheinen könnte. Doch es gibt auch basale Konvergenzlinien, die meines Erachtens hauptsächlich darin gipfeln, die Bildtheorie als eine zeitgemäße Anthropologie zu verstehen, die sich am menschlichen Negationsbewusstsein abarbeitet. Zweitens bedarf der Bildbegriff der Näherbestimmung, wenn er nicht seine wissenschaftlich auszuweisende Trennschärfe verlieren soll. Und drittens dürften die evangelische Theologie und die Religionstheorie von einer konzeptionell ausgereiften Bildtheorie als Gesprächsangebot profitieren, um sich selbst neu zu sehen – und sich gegebenenfalls selbst auch neu sehen zu lassen.