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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

967–968

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mayer, Michael

Titel/Untertitel:

Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität.

Verlag:

Paderborn u. a.: Verlag Wilhelm Fink 2012. 246 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7705-4038-9.

Rezensent:

Katharina Eberlein-Braun

Bei diesem Buch handelt es sich um den ersten Teil der Habilitationsschrift »Passibilität als ästhetische und medienphilosophische Bestimmung« von Michael Mayer, der in Potsdam am Institut für Künste und Medien die Professur für Medienwissenschaft vertritt. Das Programm wird in der Einleitung formuliert: »Idee eines Humanismus, der das humanum, die Menschlichkeit des Menschen, bestimmt durch die Unabschließbarkeit seiner primären und ›ursprünglichen‹ Bezogenheit auf das, was er nicht ist, auf das ihm Andere mithin: ein anderer Mensch, ein Tier, die belebte und unbelebte Natur, das Unmenschliche, die Dinge, eine ganze Welt. Die Ethik, auch und gerade eine fundamentale, eine Ethik der Ethik, greift so in den Raum der Ästhetik aus.« (9) Dies knüpft an Ansätze an, die die Moderne in ihrer Betonung des Subjekts als ambivalent verstehen, und soll im Begriff der Passibilität, bei dem sich M. dem Denken Dieter Merschs (12) nahe sieht, verankert werden.
Mit dem Motiv der Passibilität, verstanden als »Empfindlichkeit für den Empfang dessen […], was mich beansprucht, bevor ich als Ich es als Etwas mit bestimmten Eigenschaften zu fassen vermag«, geht es M. um eine »vor-oppositionelle, nicht-binäre ›Passivität‹«, eine »ursprüngliche Ausgesetztheit des Cogito, Video, Sentio einer Wirklichkeit gegenüber, in die es immer schon verstrickt ist.« (14) Dies soll im Fortgang erprobt werden und wird im Einzelnen unter Bezug vor allem auf Lévinas und Lyotard durchgeführt. Wichtige Umschreibungen des Gemeinten finden sich dann hier – so zum Begriff der Empfindung bei Lyotard: »[G]enau dieses Gefühl, das einen Zustand des Subjekts indiziert und zugleich auf etwas außerhalb des Subjektiven Gegebenes deutet, genau dieses von Unbestimmtem und Unbestimmbarem provozierte Gefühl ist die Empfindung als Empfänglichkeit selbst: die Ästhetik der Passibilität.« (88) Oder im Anschluss an Lévinas als »das Vermögen zu empfangen, zu vernehmen, zuzulassen: das fast unmögliche, jenseits allen Voluntarismus, Dezisionismus, Intentionalismus, Aktivismus an­gesiedelte Vermögen, dem, sagen wir es einmal so, Gehör zu schenken, was seinen Anspruch an mich richtet, bevor ich mich als ›Ich‹ im transzendentalen Sinne konstituiert haben werde […].« (87)
Neben diesen beiden entscheidenden Ansätzen für M.s Verständnis von Passibilität werden weitere (u. a. Nietzsche, Derrida, Deleuze) dargestellt. Verbunden sind die einzelnen Kapitel jeweils durch Einleitungen, die an das vorige anknüpfen. Angemerkt sei hier, dass eine begriffsgeschichtliche Einführung zu Passibilität wie auch ein die Erprobung des Begriffs zusammenfassendes Kapitel beim Lesen hilfreich wäre. Hervorheben möchte ich zwei Punkte:
Erstens wird die Problemstellung auch mit theologischer Be­griffswelt umschrieben: »Nicht die ursprüngliche Immanenz des Lebens also, sondern die Transzendenz der Ausgesetztheit; […] das ›Sich‹ der Passibilität im Sinne des dem ›Ich denke/Ich sehe/Ich empfinde‹ vorgängigen Betroffenseins durch eine intersubjektive wie kosmische (und indirekt immer auch göttliche) Alterität umreißt das Feld, auf dem wir den Begriff der Passibilität zu erproben versuchen.« (12) Der Begriff der Passibilität reagiert mit dem vorbewussten Empfinden auf etwas, das erfahrbar ist, sich aber dem bestimmenden Zugriff des Subjekts entzieht – eine klassische Problemstellung der Theologie.
Zweitens scheint mir neben den zentralen Kapiteln zu Lévinas und Lyotard ein Kapitel besonders interessant, das sich mit der Auseinandersetzung um ein Paar von van Gogh abgebildeter Schuhe als Dinge befasst. Es geht wesentlich um Heideggers Rede von Dingen, »vom Kunstwerk, seiner Wahrheit, der Wahrheit des Zeugs, des Dings und schließlich von van Gogh selbst« (142) und der Rekonstruktion durch Derrida. Dabei entziehen sich die abgebildeten Schuhe genauso wie das Bild selbst der üblichen Beziehung zum Menschen als nützliche Dinge (Zeug) und sind so nur schwer fassbar. Übrig bleibe nur ein »Schau hin!«, ein Zeigen statt einer Beschreibung (150). Hier erscheint die Wahrnehmung von Dingen als aufschlussreich für Weltwahrnehmungsweisen überhaupt.
Inhaltlich zusammenfassend lässt sich sagen, dass beim Durchspielen der verschiedenen Ansätze ›Passibilität‹ als aufschlussreiches Motiv erscheint, das wie ein Gravitationszentrum in ein Be­zugsnetz von Themen wie Transzendenz, Ästhetik, Anthropologie und Dingen eingebunden ist und diese miteinander verbindet.