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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

959–961

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wien, Ulrich Andreas

Titel/Untertitel:

Resonanz und Widerspruch. Von der siebenbürgischen Diaspora-Volkskirche zur Diaspora in Rumänien.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Bund Verlag 2014. 622 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-87513-178-9.

Rezensent:

Albrecht Philipps

Schicksal und Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien standen unlängst für eine kurze Zeit im Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit, als der deutschstämmige Siebenbürger Sachse Klaus Johannis vom Bürgermeister im siebenbürgischen Sibiu (Hermannstadt) in das Amt des Präsidenten Rumäniens gewählt wurde. Für das Verständnis des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Integrationsprozesses Rumäniens nach Europa ist es nicht unerheblich, den historischen Hintergrund der in Rumänien verbliebenen deutschen Minderheit zu kennen und die Motive der massenhaften Auswanderung dieser Minderheit im 20. Jh. bis heute zu verstehen.
Dazu hat Ulrich A. Wien nun einen umfassenden kirchengeschichtlichen Beitrag vorgelegt. Der 1963 in Speyer geborene Kirchenhistoriker lehrt an der noch jungen Universität Koblenz-Landau und ist Fachmann für Siebenbürgische Landeskunde. Zwischen 1992 und 1994 sowie 1997 absolvierte er mehrere Studienaufenthalte in Rumänien. Mit seiner 1998 veröffentlichten, von A. M. Ritter betreuten Promotion über Bischof D. Friedrich Müller (1884–1967), eine der zentralen Persönlichkeiten der deutschen Minderheit Rumäniens nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich W. bereits eingehend mit der Kirchengeschichte Siebenbürgens befasst. Er leitet seit 2001 den Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde als dessen Vorsitzender und ist Mitherausgeber der Reihen Studia Transsilvanica und Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens.
Das Buch ist ein Sammelband mit 14 Aufsätzen. Neun davon erschienen in den letzten zehn Jahren, fünf werden hier erstmals veröffentlicht. Dem Beitrag »Entjudung« und Nationalsozialismus als Ziel des Religionsunterrichtes (395–438), der 2007 veröffentlicht wurde, sind hier nun aufschlussreiche Quellen beigefügt (414–438).
Die Beiträge sind chronologisch geordnet und beziehen sich auf die Zeit, als Siebenbürgen als Großfürstentum Teil der Habsburger Monarchie war, ab 1867 zu Ungarn gehörte und nach 1918 schließlich Teil Rumäniens wurde. Die evangelisch-sächsische Bevölkerung lebte zunächst in »mehr als 240 ursprünglich von Sachsen besiedelten Dörfern und sieben Städten« (11) in volkskirchlichen Verhältnissen. Bekannt sind die vielen Kirchenburgen Siebenbürgens, die den Evangelischen Schutz und Heimat boten. In ihrem Siedlungsgebiet bildete sich eine siebenbürgisch-sächsische Identität aus, die sich nach dem Verlust politischer Autonomie vor allem durch die Bindung an die Evangelische Landeskirche A. B. in Siebenbürgen in ihrer kulturellen Eigenständigkeit inmitten der Diaspora Südostmitteleuropas vertreten sah. Die konfessionelle Bindung bildete das Surrogat für den Verlust der politischen Selbständigkeit. Die siebenbürgisch-sächsische »Volkskirche« entstand. Dass sich dabei kulturelle, wirtschaftliche, politische und religiöse Elemente in Kirchenwesen und Religiosität der Menschen vermischten, Kirche und Gesellschaft als deckungsgleich angesehen wurden, kann als eine Voraussetzung für die liberale Entwicklung und kulturprotestantische Ausformung der Landeskirche angesehen werden, die ab den 1930er Jahren eine große Nähe zum Nationalsozialismus der deutschen Volksgruppe beförderten.
Von den etwa 760.000 Deutschen in Rumänien vor dem Zweiten Weltkrieg war mehr als die Hälfte katholisch, etwas weniger als die Hälfte gehörte zur evangelischen Landeskirche (vgl. 14). Ein Großteil der jungen Männer, etwa 50.000, hatte »dem gesellschaftlichen Druck folgend den Weg in die kämpfende Truppe der Waffen-SS genommen« (ebd.). Heute hat die evangelische Landeskirche in Siebenbürgen noch rund 13.000 Gemeindeglieder.
Der Titel des Buches Resonanz und Widerspruch fällt auf. Er fasst die breite Spannweite der Beiträge zusammen. Resonanz findet sich etwa dann wieder, wenn unter Aufnahme der Luther-Renaissance vom Aufbau des »Lutherheim[s] für Volksmission in Heltau/Siebenbürgen« (383–393) die Rede ist, das im Juni 1939 als Tagungshaus eingeweiht wurde. Dass Bischof Dr. Viktor Glondys (1882–1949) zusammen mit dem DEK-Auslandsbischof D. Theodor Heckel (1894–1967) dabei den »deutschen Gruß« der in Tracht gekleideten Volksmasse mit gestrecktem Arm erwiderte, ist deutliches Zeichen der Resonanz des Nationalsozialismus in der evangelischen Kirche (vgl. 387 und 268). Diese Resonanz findet sich an vielen Stellen der Beiträge: In der Nachzeichnung der Entwicklung Von der »Volkskirche« zur »Volksreligion«? (225–293) wird besonders sinnfällig, wie stark die nationalsozialistische Ideologie in Siebenbürgen nachklang. Zahlreiche eindrückliche Fotos zeugen davon. Auch der Beitrag Die gleichgeschaltete Evangelische Landeskirche in Rumänien aus der Sicht der siegreichen Opposition (439–468) macht das deutlich. Die Aufnahme des Nationalsozialismus bis in die Kirchenleitung wird in diesem Buch insgesamt sehr detailreich nachgezeichnet: ob es der erzwungene Rücktritt von Bischof Glondys ist oder Mitgliedschaft von Bischof Wilhelm Staedel (1886–1971) im Beirat des »Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in der Zeit zwischen 1941 und 1944.
Widerspruch und »Innerkirchliche Opposition« (276) gegen die Rezeption des Nationalsozialismus hat es freilich auch gegeben, wenn auch von einem »Kirchenkampf« im engeren Sinn nicht die Rede sein kann, wie W. ausdrücklich feststellt (vgl. 288 und 292). Widerspruch gab es auch zur Zeit der sozialistischen Diktatur nach 1945.
Die Darstellung der Zusammenarbeit mit dem Gustav-Adolf-Werk und dem Martin-Luther-Bund beleuchtet das folgen- und segensreiche Wirken der Diasporawerke. Dabei wird die Gründung des Gustav-Adolf-Hauptvereins in Siebenbürgen ab 1859, das Verbot des Vereins in der Sozialistischen Republik Rumänien, die Hilfe des Gustav-Adolf-Werkes (Ost) zur Zeit des Kalten Krieges und die Neugründung des Werkes im November 2002 nachgezeichnet (549–567). Der Martin-Luther-Bund arbeitete zunächst vorwiegend mit den ungarischsprachigen Lutheranern in Rumänien zusammen und leistete auch später wertvolle Hilfe durch Besuchsreisen, Partnerschaftsarbeit und finanzielle Unterstützung (569–600).
Im Blick auf die Gesamtheit der Beiträge wird deutlich, wie im Lauf der Geschichte der Siebenbürger Sachsen die Herausbildung einer »Volkskirche« mit einem geistlichen Verlust einherging »und der religiös-christliche Kern auszutrocknen drohte« (240). Schon 1913 wurde bemängelt, dass die Landeskirche nur noch eine in den Nationalfarben »blaurot angestrichene Mumie« (ebd.) sei und es den Deutschen in Rumänien trotz offensichtlich lebendigen Gemeindelebens und großer Geschlossenheit nach außen an innerer geistlicher Bindung fehlte.
Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass die Quellen im Text oder im Anhang lesenswert sind, ohne dass dabei der Gesamtduktus und die Lesefreundlichkeit des Textes in Mitleidenschaft gezogen werden. Wer sich über die Geschichte der evangelischen Kirche in Siebenbürgen informieren möchte, findet in dem Band alle notwendigen Informationen und Hintergründe. W. schreibt verständlich; Zusammenfassungen und Thesen am Schluss einiger Beiträge erleichtern den Einstieg in die Thematik. Die Geschichte der evangelischen Siebenbürger Sachsen zeigt den schwierigen Prozess der Umformung und Aneignung des christlichen Glaubens in einer Diaspora-Volkskirche. Die Beiträge sind dabei nicht nur von historischem Interesse. Vielmehr lassen sich durchaus Strukturanalogien zur Diaspora der Kirche in der säkularen Gesellschaft unserer Zeit ziehen.