Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2015

Spalte:

957–959

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Leo, Per

Titel/Untertitel:

Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940.

Verlag:

Berlin: Matthes & Seitz 2013. 734 S. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-88221-981-4.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Leo, Per: Flut und Boden. Roman einer Familie. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2014. 348 S. Geb. EUR 21,95. ISBN 978-3-608-98017-2.


Der umfangreiche Band »Der Wille zum Wesen« ist die Überarbeitung der 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen und mit dem Sonderpreis »Judentum und Antisemitismus« ausgezeichneten Dissertationsschrift von Per Leo. Zu Beginn seiner Monographie schildert L. eine Begebenheit, die ihn dazu führte, das vorliegende Buch zu schreiben: Beim Ausräumen der Wohnung des Großvaters fand er Bücher von Luther, Ranke, Goethe, Schopenhauer und Hölderlin – für einen bildungsbürgerlichen Haushalt nicht ungewöhnlich –, aber auch Bände von Lagarde, Chamberlain, Rosenberg, Darré, Günther und Clauß vor. Der Großvater war Sturmbannführer und im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS beschäftigt, insofern empfand L. den zweiten Teil der Sammlung nicht überraschend, faszinierend habe die Sammlung aber erst Ludwig Klages’ 1917 erschienenes Standardwerk der Graphologie »Handschrift und Charakter« gemacht.
L. setzt sich zum Ziel zu untersuchen, auf welchen der beiden Stapel das Buch gehöre. Insofern ist die Dissertationsschrift biographisch initiiert. Dies hat L. dann auch motiviert, seine Ergebnisse noch einmal in einen autobiographischen Roman, »Flut und Boden«, einfließen zu lassen. Die wissenschaftliche Untersuchung geht der Frage nach, was die Diskriminierung der Juden salonfähig machte, wie es zu erklären ist, dass die völlige Entrechtung der Juden und ihre Vernichtung unter Duldung und Mitwirkung breiter bürgerlicher Schichten, auch bildungsbürgerlicher Schichten, vollzogen werden konnte, obwohl nur eine Minderheit der Gebildeten der antisemitischen Ideologie im engeren Sinne zustimmte. L. macht dafür die im ersten Drittel des 20. Jh.s einflussreiche Charakterologie verantwortlich. Die »Wirkmächtigkeit des charakterologischen Denkens« sei völlig in Vergessenheit geraten, sei aber zum Verständnis der deutschen Variante des Rassismus enorm wichtig. Ohne Berücksichtigung der »geistesgeschichtlichen Relevanz des charakterologischen Problems« sei ein solches Verständnis nicht möglich. Eine über Jahrzehnte gewachsene Kultur des Un­gleichheitsdenkens habe die Unterscheidung von Jude und Nichtjude zuerst verwissenschaftlicht, dann politisch umgesetzt. Vor diesem Hintergrund sei Klages zu lesen, der nicht nur im Problem der menschlichen Ungleichheit sein Lebensthema gefunden habe ; eine der wichtigsten Manifestationen dieser Ungleichheit sei die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden gewesen. Insofern habe auch Klages die Akzeptanz des Nationalsozialismus durch das gebildete Bürgertum vorbereitet. Klages habe sich im Einklang mit nahezu allen charakterologischen Denkern befunden, wenn er dem Juden zwei Eigenschaften zuschrieb: »dass er erstens ganz anders sei als man selbst und zweitens seine wahre Natur verberge«. Das Fatale daran, so analysiert L. im Laufe der Untersuchung, sei, dass sich mit Klages eine schwer zu fassende Variante des Antisemitismus vorstelle, einer leidenschaftslosen Pflege des Gedankens vom Anderssein des jüdischen Wesens. Dies macht L. als deutsches Spezifikum aus. Dem geht L. in fünf Teilen nach, die jeweils thematisch untergliedert sind. Teil 1 thematisiert »Fremdheit als Problem der Hochmoderne« und beschäftigt sich zunächst mit der Wahrnehmung des fremden Anderen »im Großstadtdiskurs«. Er untersucht darin Strategien der Wahrnehmung des Anderen und seiner Typisierung. Weiteres Thema dieses Teils ist der Persönlichkeitsbegriff bei Hannah Arendt, Karl Jaspers und Gottfried Benn.
Über die Reflexion über die Charakterologie als Fachwissenschaft und in den Fachwissenschaften kommt L. im Teil 2 zum Thema »Die Unschärfe der Welt: Freies Denken über Ungleichheit«. Er untersucht charakterologische Ansätze bei Marx, Goethe und Schopenhauer, Bahnsen, Nietzsche und Weininger, Letzteres unter dem Titel »Triumph des Dilettantismus«. Interessant als Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Analyse der Kontroverse zwischen Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Nietzsche entlarvt Wagner als Schauspieler, als »Verführer großen Stils, »Parsifal« sei ein »Geniestreich der Verführung«, Wagner sei ein »sich selbst maskierender Verführer«, ein Schauspieler, dem es nur darum gehe, etwas um seiner Wirkung willen darzustellen. Insofern stelle Wagner im Gegensatz zu einem Musiker, der aus dem Überfluss gestalte, etwas dar, das ihm selber fehle. Somit bedient sich Nietzsche in der Kontroverse des charakterologischen Denkmusters (282 f.). Unter der Überschrift »Die Charakterologie des jüdischen Wesens« beschäftigt sich L. im dritten Teil zunächst mit der Judenfeindschaft in der deutschen Bildungskultur. Unter der Überschrift »Das jüdische Symbol« geht er auch wieder auf das Beispiel Wagner ein, dessen charakterologisch-antisemitisches Denkmuster er nicht an seinem Aufsatz »Das Judentum in der Musik« nachweist, sondern an der Verarbeitung des Ahasvermotivs in der Oper »Der fliegende Holländer«. Erst im vierten Teil kommt L. zu Klages, dem meistgelesenen Charakterologen des 20. Jh.s. Wichtigste Quelle dieser Untersuchung wird Klages’ Monographie »Handschrift und Charakter«. Graphologische Gutachten aus Klages’ im Deutschen Literaturarchiv verwahrten Nachlass bezieht er ein, ebenso geht er hier auf Autoren ein, die Klages’ Ansatz vorbereitet haben. So vermag er Klages darzustellen als Vertreter einer Tradition, die er selbst dann in hohem Maße symbolisiert. L. geht ausführlich auf die Irrationalität der Charakterologen ein. Er erhebt den Anspruch, die geistigen Voraussetzungen für den mentalitätsgeschichtlichen Erfolg des Nationalsozialismus dargelegt zu haben, ein Anspruch, dem er in manchmal sehr zugespitzten Thesen gerecht wird.
War schon die wissenschaftliche Monographie stark biographisch motiviert, so ist dies bei dem Roman »Flut und Boden« erst recht der Fall. Es ist ein autobiographischer Roman ohne jede Verschlüsselung, der vor allem der »Selbstaufklärung« dient. L. stellt sich vor als Sohn bildungsbürgerlicher Eltern, einer Herkunft, zu der er ein durchaus gebrochenes Verhältnis hat. Im Haus der Großeltern findet er die Bibliothek des Großvaters, was ihn veranlasst, in dessen Vergangenheit zu forschen. Der Bruder des Großvaters, Onkel Martin, wird zu dessen Gegenfigur, aber durch sein Scheitern keine Identifikationsfigur für den autobiographischen Erzähler. Beide zusammen werden für ihn Symbole für den Niedergang der Familie. Der Roman enthält essayistische Teile, der Freiburger Historiker Ulrich Herbert hat im Roman seinen Auftritt und der Fußballverein Werder Bremen kommt vor. Wie in der Dissertation wird im Roman deutlich, dass der Nationalsozialismus nicht nur durch Ämter und Funktionen in der Familie präsent war, sondern auch durch Schriften; Personen aus unterschiedlichen Milieus finden in den Ortsbestimmungen innerhalb der Familie eine Rolle. So wird auch hier der Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Graphologie auf narrativem Wege deutlich gemacht. Interessant ist etwa die Passage, in der Klages der Jüdin Clara Stern, Wissenschaftlerin und Frau des Psychologen William Stern, in einem graphologischen Gutachten über ihren Schwiegersohn als Erklärung seiner Störung die Charakteristik seiner Schrift als »Ghettoschrift« anführt. Clara Stern bricht daraufhin den Kontakt ab. Durch die Schilderung von Gesprächskreisen im Haus des Großonkels wird auch das liberale protestantische Milieu berührt, etwa durch die Teilnahme Martin Rades an einem solchen Kreis. L. verarbeitet in beiden Büchern eine Fülle von Material und neben der Leistung in der wissenschaftlichen Darstellung ist die Erzählleis­tung zu würdigen.