Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2015

Spalte:

950–951

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Dalos, György

Titel/Untertitel:

Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. Dt. Bearb. v. E. Zylla.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2014. 330 S. m. Abb. Lw. EUR 24,95. ISBN 978-3-406-67017-6.

Rezensent:

Jobst Reller

Der Titel des Buchs von György Dalos hält nicht ganz, was er verspricht. Der Hauptteil der Darstellung widmet sich der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jh. (34–290). Mehr als allgemein Einführendes zum 18. und 19. Jh. ist nicht zu finden. Die Veröffentlichungen von Erik Amburger zum großkirchlichen, bzw. Hans-Christian Diedrich zum freikirchlichen evangelischen Christentum u. a. sind hier wohl immer noch unüberholt. Die im engeren Sinn kirchengeschichtliche Perspektive zur städtischen deutschen Kirchlichkeit, aber auch zur ländlichen deutschen Siedlergesellschaft mit Kirchenschule und Küsterlehrer als kleinster Einheit (31.42.71.130. 133.148.163) fehlt fast vollständig. Eher beiläufig und unsystematisch fallen natürlich Bemerkungen zur religiösen Identität von Russlanddeutschen (28.109.129.132.134–139.141.146.149.160. 198 ff.251.257). Interessant ist das Werk für die Kirchengeschichte insofern, als es für das 20. Jh. gewissermaßen eine profane Perspektive der Geschichte der Russlanddeutschen liefert und hier postsowjetisch durchaus reich geflossene russischsprachige Veröffentlichungen, aber auch russischsprachige Quellen aus geheimdienstlicher Beobachtung verarbeitet. Der Vf. studierte Geschichte u. a. 1965 zu sowjetischer Zeit an der Lomonossow-Universität in Moskau und ist insofern für diese Vermittlungsaufgabe in besonderer Weise prädestiniert.
Der Vf. schildert den durch den Ersten Weltkrieg beförderten, vorher latenten Antigermanismus (34–83), dann die Gründung der Wolgarepublik 1918–1924 im russischen Bürgerkrieg (84–112) und ihre kurze relativ ungehinderte Blüte von 1924–1928 (113–132). Die in der Folge gewaltsam durchgeführte ideologische und ökonomische Sowjetisierung, die Deportation, blutige Verfolgung und Eingliederung in die sogenannte »Arbeits«- oder »Trudarmee« im Zweiten Weltkrieg (133–218) ist bekannt. Weniger bekannt hingegen dürfte sein, wie sich auch unter sowjetischen Bedingungen Initiativen zur Rehabilitation bzw. Wiederherstellung der alten Wolgarepublik artikulierten (219–290). Zunächst ging es im Rahmen der von Chruschtschow propagierten Entstalinisierung um die Förderung des Deutschen als Schulfach. Der Vf. bringt hier zwei Äußerungen aus den Jahren 1959 bzw. 1964 (126). Offenbar hatten drei Jahrzehnte der Sowjetisierung und Verfolgung ausgereicht, das Russische, das vorher in der Breite der russlanddeutschen Bevölkerung kaum beherrscht worden war (163.198 u. ö.), vollständig zur Hauptsprache werden zu lassen. Immerhin konnten sibirienweit Pläne gefasst werden, 1965 eine Petition zu verfassen und mit 600 Unterschriften zu versehen und russlanddeutsche Delegationen trotz Chruschtschows Sturz zur obersten sowjetischen Führung in Moskau zu entsenden (231 f.). Russlanddeutsche Kommunisten verlangten die Umsetzung der leninschen Nationalitätenpolitik, z. B. Rentner Friedrich Schössler. Er hatte im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten Armee in Turkestan gekämpft, war nach der Deportation zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt und 1955 rehabilitiert und in die Partei wiederaufgenommen worden (238). Aber auch ehemalige Eliten der wolgadeutschen Republik, der Volkskommissar für Finanzen Heinrich Wormsbecher, der von 1937–1954 im Arbeitslager war, oder der Führer der Geheimpolizei Tscheka im Wolgagebiet nach 1919 Alexander Dotz waren Delegierte (240 f.). Die Parteiführung schloss Russlanddeutsche wie Krimtartaren dennoch als einzige Volksgruppen von der vollständigen Rehabilitation aus, so dass Delegationsvertreter sich »prophetisch« (!) das Recht auf Auswanderung erbaten (244). Andere als russlanddeutsche Parteimitglieder hätten sich wohl kaum in dieser Zeit vernetzen und artikulieren können. Erneute Bemühungen um Zuweisung eines autonomen Gebiets in der Zeit der Perestroika ließen sich schließlich trotz politisch positiver Bescheidung lokal nicht umsetzen, so dass der Vf. geneigt ist, nach der Auswanderung der Russlanddeutschen von 1992 an nur noch von einer »Nachgeschichte der Russlanddeutschen« zu sprechen (219 ff.290).
Die knappen für die neuere Kirchengeschichte relevanten Notizen über die Sammlungsbewegungen der russlanddeutschen Lutheraner nach 1955 in populären Veröffentlichungen (z. B. bei Peter Schellenberg, Erich Schacht u. a.: erstes »Brüdertreffen« 1956 in Tscheleke/Samarkand, lokale Organisation in nicht registrierten »Bethäusern«, Besuchsreisen des die Verfolgung überlebenden Pastors Arthur Pfeiffer aus Moskau oder des Letten Harald Kalnins aus Riga usf.) ließen sich leicht in den oben vom Vf. gezeichneten Rahmen der politischen Geschichte der Russlanddeutschen einzeichnen.