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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

73 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Jung, Martin H.

Titel/Untertitel:

Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1998. XVI, 399 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 102. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-146807-4.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Weder "Frömmigkeit" noch "Melanchthon" gehört zu den Schwerpunktthemen gegenwärtiger deutscher Theologie. Erst recht gilt dies von Melanchthons Frömmigkeit.

"Gotliche Fromkeyt" umfaßt nach Melanchthon Erkenntnis Gottes, Glauben und Heiligung. Konkret beschreibt er sie vom Dekalog her. Der Ausdruck trägt bei ihm zwar auch einen starken ethischen Akzent. Doch ist die Ansicht falsch, ihm gehe es mehr um Ethik als um Religion.

Frömmigkeit drückt sich zentral im Gebet aus. Jung beschäftigt sich im ersten Hauptteil seiner Arbeit mit "Melanchthon als Beter", im zweiten mit seiner "Lehre vom Gebet". In einem Schlußteil behandelt er die Wechselwirkung von "Frömmigkeit und Theologie bei Melanchthon".

Melanchthon äußert sich zum Gebet an vielen Stellen in unterschiedlicher Form: Er erörtert es theologisch, er leitet praktisch dazu an, er bietet Gebetsformulierungen, und er berichtet über eigene Gebetserfahrungen.

Schon von Melanchthons Vater wird überliefert, er sei ein eifriger Beter gewesen, der auch seine Kinder zum Beten anhielt. In Melanchthons Tagesablauf hatte das Beten nicht nur einen festen Platz, sondern es entrangen sich ihm auch immer wieder kurze Stoßgebete. Überwiegend formulierte er seine Gebete frei. Im bisher edierten Werk Melanchthons finden sich etwa 6500 Gebetsworte unterschiedlicher Form und Länge, davon etwa 5500 in seinen etwa 7000 erhaltenen Briefen. Etwa 250 Gebete oder gebetsähnliche Texte fügte er in seine akademischen Reden und Vorträge ein. 22 Gebetstexte enthalten die späteren Fassungen von Melanchthons Dogmatik: "Loci praecipui theologici". Sie sind verschiedenen dogmatischen Themen zugeordnet. Entsprechend variieren die Gebetsanreden an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Als Beispiele gedacht sind seine Gebete in Kirchenordnungen. Von keinem anderen Reformator sind so viele Gebete überliefert. Beten heißt für Melanchthon hauptsächlich bitten. Thematisiert werden von ihm Sorgen des privaten, politischen und kirchlichen Lebens: die Ehekrise seiner Tochter Anna, die Gefangenschaft seines Freundes Hieronymus Baumgartner, die Kriege, die kirchliche Situation usw. Melanchthon bezeugt immer wieder die Erhörung von Gebeten. Das Gebet wurde ihm im Laufe seines Lebens immer wichtiger.

Zur "Lehre vom Gebet" äußert sich Melanchthon durch sein ganzes literarisches Schaffen hindurch. Von den "Loci communes" (1521) über den "Unterricht der Visitatoren" (1528), die "Augustana" und die "Apologie" bis zu den späteren Ausgaben der "Loci praecipui" bekommt das Thema ’Gebet’ immer größeres Gewicht. In den letzteren ist ihm nicht nur ein einzelner Abschnitt gewidmet, sondern es klingt auch bei anderen dogmatischen Themen an. Das Gebet par excellence ist für Melanchthon das Bittgebet (invocatio, precatio, petitio). Es setzt rechte Gotteserkenntnis und Glauben voraus, ist von Gott geboten und hat Verheißung. Es schließt das Lob Gottes ein, weil es auf dem Vertrauen auf seine bonitas und beneficentia beruht. Weitaus geringeren Raum nehmen seine Überlegungen zum Dankgebet (gratiarum actio) ein. Seine Gebetslehre steht in enger Wechselwirkung mit seinem Gottes- und seinem Menschenbild, nicht zuletzt seiner Gebetspraxis.

Einen bekehrungsartigen Bruch wie bei Luther hat es in der religiösen Entwicklung Melanchthons nicht gegeben, wohl aber eine theologische Neuorientierung, die sich auf seine Frömmigkeit auswirkte. Umgekehrt hat seine Theologie durchaus eine religiöse Erfahrungsgrundlage. Theologie zielt bei Melanchthon ganz auf die "fromme Lebensgestaltung". Ihr Einfluß macht sich bis in seine Gebetsformulierungen bemerkbar.

Jung kann manche einseitige Vorstellungen über Melanchthon, besonders auch unangemessene und für Melanchthon nachteilige Vergleiche mit Luther, korrigieren. Ihm kommt das Verdienst zu, diesen großen Gelehrten des 16. Jh.s von seiner zutiefst menschlichen Seite zu zeigen und die verbreitete Vorstellung, Melanchthon sei einseitig intellektuell und emotional eher kühl gewesen, zurechtzurücken.