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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

950–951

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A., u. Christopher Spehr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 224 S. m. zahlr. Abb. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-03341-6.

Rezensent:

Birgit Weyel

»Leben nach Luther.« Unter diesem Titel hat das Deutsche Historische Museum in Berlin eine Ausstellung zur Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses gezeigt (25. Oktober 2013 – 2. März 2014). Die von dem Vorsitzenden der Gesellschaft für thüringische Kirchengeschichte e. V. und Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung Thomas A. Seidel und dem Jenaer Kirchenhistoriker Christopher Spehr herausgegebene Aufsatzsammlung zitiert auf dem Titelblatt den Katalog zur Ausstellung mit einem Bild von Johann Peter Hasenclever, Die Pfarrerskinder (1847), und verweist damit auf die Ausstellung. Die vorgelegten Beiträge sind im Zusammenhang eines Kolloquiums in Jena anlässlich der Emeritierung der Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger im Jahr 2011 entstanden und verdanken sich der langjährigen kulturgeschichtlich geprägten Auseinandersetzung mit dem Thema Pfarrhaus im Umfeld der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte e. V., der Internationalen Martin Luther Stiftung und der genannten Ausstellung.
Das Buch ist in drei Rubriken gegliedert: I. Kirchen- und kulturhistorische Zugänge, II. Zeitgenössische Entwicklungen und III. Perspektiven im 21. Jahrhundert. Die Beiträge vertreten ein breites Spektrum an Zugängen zum Pfarrhaus.
Den Auftakt gibt Christopher Spehr mit seinem ausführlichen Beitrag zum Thema Priesterehe und Kindersegen. Die Anfänge des evangelischen Pfarrhauses in der Reformationszeit. Spehr zeichnet nach, dass die Forderung nach Freilassung der Priester zur Ehe für Luther weder Selbstzweck noch moralische Verpflichtung war. »Vielmehr diente sie […] der neuen Konzeption des evangelischen Pfarrstandes, welcher von Gott zur Predigt und Sakramentsverwaltung in der Gemeinde eingesetzt war. Dass der Pfarrer in der Gemeinde wohnen und einen weltlichen Haushalt führen sollte, zählte Luther zu den Aufgaben des nun funktional und nicht mehr sakramental verstandenen Pfarramtes.« (17) Luise Schorn-Schütte zeichnet die Entwicklung der evangelischen Pfarrhäuser im 16. und 17. Jh. in sozialgeschichtlicher Perspektive nach (ausführlich dies., Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, 1996). Stefan Dornheim widmet sich dem Pfarrhaus als »Institution lutherischer Gedenkkultur« (55). Susanne Schuster weist anhand eines Quelltextes aus dem Jahr 1757 verschiedene Rollenbilder der Pfarrfrau auf. Christel Köhle-Hezinger zeigt in der gekürzten und überarbeiteten Fassung ihres bereits bei Greiffenhagen (Martin Greiffenhagen [Hrsg.], Das Evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, 1984) publizierten Beitrags verschiedene Dimensionen des Verhältnisses von Pfarrhaus, Pfarrfamilie und Dorf im 18. und 19. Jh. Dabei greift sie insbesondere auf Quellen aus Württemberg zurück. Wolfgang Lück wählt einen kirchentheoretischen Zugang, indem er die parochiale Bedeutung des Pfarrhauses in den Blick nimmt. Doris Riemann zeichnet die Geschichte der Pfarrfrauen nach 1945 in der Hannoverschen Landeskirche nach. Andrea Hauser macht auf einige Veränderungen aufmerksam, die insbesondere den Partner, die Partnerin des Pfarrers bzw. der Pfarrerin betreffen. Axel Noack markiert einige Veränderungen in der Pfarrhauskultur im Umbruch zum 21. Jh., die sich wesentlich eigener Wahrnehmung verdanken. Die praktisch-theologische Perspektive kommt durch Klaus Raschzok ins Spiel. Er vermisst in den gegenwärtigen Theorieansätzen zum evangelischen Pfarrberuf das Thema des Pfarrhauses und integriert das Pfarrhaus pastoraltheologisch, in-dem er es im Kontext einer »professionsspezifischen Lebenskunst« als »Dach für verschiedene Lebensentwürfe im Pfarrberuf« (188) interpretiert. Jochen Bohl hält am Konzept des Pfarrhauses als offenem Haus fest (192). Bodo-Michael Baumunk führt in das Ausstellungskonzept »Leben nach Luther« ein, indem er in einem virtuellen Rundgang durch die Ausstellung zeigt, wie die Exponate und das Thema Pfarrhaus aufeinander verweisen.
Wer sich mit pastoraltheologischen Fragen beschäftigt, wird das Buch ebenso zur Hand nehmen wie Leser, die gerne etwas zur Kulturgeschichte der Reformation lesen. Querverbindungen zwischen den Beiträgen bleiben allerdings den Lesern überlassen. Am ehes­ten bietet der Begriff der »Lebensform«, der sich durch mehrere Beiträge zieht, einen roten Faden. Gewiss haben alle Beiträge etwas mit dem Pfarrhaus zu tun und seinem Wandel, aber ein zusammenstimmendes Konzept bleibt so offen.