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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

933–934

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walser, Georg A.

Titel/Untertitel:

Old Testament Quotations in Hebrews. Studies in Their Textual and Contextual Background.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XV, 220 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 356. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-152721-0.

Rezensent:

Georg Gäbel

Zu den bleibenden Themen der Arbeit am Hebräerbrief zählt seine Rezeption und Anwendung der Schrift. Georg A. Walser benennt dazu in seiner in Leices­ter angenommenen Dissertation (Betreuung: S. Docherty) zwei Desiderate: 1) Die Pluriformität der Textüberlieferung werde nicht genügend beachtet. Daher wählt er drei Zitate aus, bei denen hebräische und griechische Textformen voneinander abweichen: Jer 31 (LXX 38),33 in Hebr 8,10; 10,16; Ps 40 (LXX 39),7 in Hebr 10,5 und Gen 47,31 MT/LXX in Hebr 11,21. W. will erheben, welche Textformen der Schriftzitate es in frühjüdischer Zeit gab und welche im Hebr sowie in frühjüdischen, rabbinischen und patristischen Quellen jeweils verwendet werden. 2) Weil die Schriftauslegung des Hebr im Kontext frühjüdischer Exegese zu lesen sei, will W. sie mit Auslegungen in frühjüdischen Quellen sowie in rabbinischen und patristischen Überlieferungen korrelieren. In Letzteren seien – nimmt er an – Auslegungstraditionen der Zeit des 2. Tempels weitergeführt worden. W. fragt, ob und wie die Unterschiede zwischen den Textformen der Zitate zu unterschiedlichen Auslegungen führen, ob mit einzelnen Textformen be­stimmte Auslegungen verbunden sind und wie sich das ggf. im Hebräerbrief niederschlägt. Bei Zitaten, die von den Textformen der uns bekannten Handschriften abweichen, sei mit der Möglichkeit einer verlorenen he-bräischen Vorlage zu rechnen. Unterschiedliche Schriftauslegungen im Judentum und im entstehenden Christentum verdankten sich schon den unterschiedlichen benutzten Textformen.
Im 2. Kapitel zur Rezeption von Jer 31 (38),33 konzentriert sich W. auf den Unterschied zwischen dem Sg. הרות (MT) und dem Pl. νόμοι (LXX und Hebr 8,10; 10,16), nimmt jedoch zur Möglichkeit eines handschriftlich nicht mehr belegten hebräischen Textes, der den Plural las, nicht eindeutig Stellung. Die Frage nach dem implizierten Bundesverständnis berührt er, doch tritt sie hinter die Deutung des genannten Details zurück. In rabbinischen Auslegungen ist meist an die Sinai-Tora gedacht, dagegen denken patristische Ausleger meist an andere Größen, die in die Herzen geschrieben werden sollen, etwa das Evangelium oder die Lehre Jesu; dieses Verständnis postuliert W. auch für den Hebr.
Das 3. Kapitel zur Rezeption von Ps 40 (39),7 konzentriert sich auf den Unterschied im Wortlaut zwischen םינזא/ὠτία (MT bzw. LXX ed. Rahlfs) und σῶμα (so Hebr 10,5). Mit vielen anderen nimmt W. gegen Rahlfs an, dass der im Hebr zitierte Wortlaut (σῶμα) bei der Rekonstruktion des LXX-Textes den Vorzug verdient. Hebr habe an das Opfer des Leibes Jesu gedacht und weiche damit von den in den anderen herangezogenen Quellen gebotenen Auslegungen ab.
Im 4. Kapitel geht es um die Rezeption von Gen 47,31. Das Wort הטמ ist im hebräischen Konsonantentext mehrdeutig. LXX und Hebr 11,21 lesen ῥάβδος (und fügen αὐτοῦ hinzu); vgl. jedoch in der Vulgata lectulus Gen 47,31 (cf. MT) und daneben virga Hebr 11,21. W. postuliert für Hebr die auch rabbinisch und patristisch belegte Deutung des הטמ/ῥάβδος als Gegenstand der Verehrung. Auch macht er auf die v. l. des P46 in Hebr 11,21 (αὐτοῦ statt Ἰωσήφ in der 1. Hand) aufmerksam.
Zu Recht weist W. wiederholt auf die Pluriformität der hebräischen und griechischen Textüberlieferung hin. Diese Einsicht ist zwar nicht so neu, wie er meint, doch verdient sie exegetische Beachtung. Wichtig ist dabei für W. die Annahme, ein zitierter Wortlaut könne mit einer Auslegung verbunden sein, die traditionell an einer abweichenden Textform hafte. Für seine Beispiele hat er das allerdings m. E. nicht schlüssig erwiesen. Überhaupt scheint mir die postulierte Verknüpfung eines bestimmten Textverständnisses mit einer bestimmten Textform in der hier vertretenen Form zu starr.
Der Schriftgebrauch des Hebr ist im Kontext frühjüdischer Exegese wahrzunehmen. Auch das ist beherzigenswert. Tatsächlich beschränkt W. sich aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weithin auf rabbinische sowie auf (griechische und lateinische) patristische Texte. Dass hier ältere Auslegungen rezipiert sein können, die der Verfasser des Hebr gekannt haben mag, ist denkbar, doch bleibt es bei Postulaten. Methodische Absicherung und Kriteriendiskussion fehlen. Zwar ist das vielfältige Quellenmaterial, auch abgesehen von der mit Unsicherheiten belasteten Rückfrage nach frühjüdischen Traditionen, von hohem Interesse, doch die Auswertung verlangt nach differenzierterer Wahrnehmung der Entstehungskontexte und der je eigenen Intentionen der angeführten Auslegungen.
Zu Jer 31 (38),33 weist W. mit dem Pl. νόμοι auf ein Detail hin, das in der Hebr-Exegese nicht immer gewürdigt wird, das Hebr allerdings auch nicht explizit aufgreift. So eröffnet diese Variante eher einen Spielraum möglicher Auslegungen als dass sie nötigt, für Hebr eine bestimmte Deutung zu postulieren. Das Zitat Ps 40 (39),7 ist für Hebr von grundlegender Bedeutung; die Argumentation wird hier durch die zitierte Textform erst ermöglicht. Das allerdings war der Exegese bereits bekannt und ist, einschließlich gediegener Erörterungen der Textgeschichte, mehrfach dargestellt worden. Das Detail schließlich, auf das W. sich bei Gen 47,31 konzentriert, ist für die Argumentation des Hebr doch wohl von nachgeordneter Bedeutung. Die genannte v. l. des P 46 dürfte ein bloßes Schreiberversehen sein.
Die Exegese des Hebr selbst (zumal seines Gesetzes- und Bundes- sowie seines Opferverständnisses) und die Funktion der Zitate im jeweiligen Kontext kommen für einen Beitrag zur Hebr-Auslegung zu kurz. Das Buch bereichert dennoch die Forschung durch die Darbietung und Aufbereitung umfangreichen Quellenmaterials zur Auslegungsgeschichte der Schriftzitate.