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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

931–933

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Moser, Marion

Titel/Untertitel:

Schriftdiskurse im Johannesevangelium. Eine narrativ-intertextuelle Analyse am Paradigma von Joh 4 und Joh 7.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XV, 304 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 380. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153543-7.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Die in Zürich bei Prof. J. Zumstein erstellte Promotion von Marion Moser (Sommersemester 2014; Koreferent Prof. J. Frey) greift ein die Johannesforschung seit Langem beschäftigendes zentrales Thema erneut auf: Welchen theologisch-hermeneutischen Stellenwert hat die Heilige Schrift Israels im vierten Evangelium und wie verwendet der Evangelist sie? M. konzentriert sich dazu exemplarisch auf die Kapitel 4 und 7 des JohEv und arbeitet »narrativ-intertextuell«. Sowohl die Textauswahl als auch die gewählte Methodik mit den konkreten Auslegungen haben innovatives Potential.
Während es einen weitreichenden Konsens gibt, dass die johanneische Schriftauslegung dem übergeordneten christologischen Verkündigungsinteresse des Evangelisten zuzuordnen ist, bleibt die genauere Analyse und die Interpretation der johanneischen Schriftauslegung kontrovers. Um hier einen deutlichen Schritt weiterzukommen, setzt M. bei der zutreffenden Beobachtung an, »dass die Schriftbezüge stets Figuren in den Mund gelegt werden« (4). Dieser Ansatz bei der narrativen und sozialen Funktion der expliziten und impliziten Schriftzitate, -anspielungen und -verweise (vgl. den Gesamtüberblick, 16–35) erweist sich durchgehend als fruchtbar: In ihren Auslegungen zu Joh 4 und 7 kann M. detailliert aufzeigen und diskutieren, welche verschiedenen Schriftauslegungen die verschiedenen johanneischen Einzelfiguren bzw. Figurengruppen ins Feld führen und welche narratologische Strategie der Evangelist mit den kontroversen Schriftauslegungen verbindet.
Die Ausführungen zu Joh 4 und 7 beginnen jeweils mit einer grundsoliden Vers-für-Vers-Analyse, die die »aktive Rolle des Le­sers« (vgl. 12–16.75 f. u. ö.) genau im Blick behält: Überzeugend stellt M. heraus, wie der Evangelist mit Hilfe von Missverständnissen, von Ironie und rhetorischen Fragen den Leser in die narratio einbezieht und ihn zur Reflexion, Vertiefung und Entscheidung herausfordert (vgl. u. a. 75 f.193.224). »Der Text soll durch seine Wirkung auch das konkrete Leben des Lesers beeinflussen. Die Verheißungen von Joh 4 sollen sich während der Lektüre ereignen und so zur Wirklichkeit werden« (89). Mehrfach betont M., dass »intertextuelle Anspielungen« die Leser und Hörer des Evangeliums nicht eineindeutig festlegen wollen, sondern einen »freien Interpretationsraum« eröffnen (106; vgl. 115–117 zur christologischen, eschatolo-gischen, soteriologischen und pneumatologischen Deutung der Gabe des »Wassers« in Joh 4), der wiederum der persönlichen Aneignung der Botschaft Jesu dient. Gemeinsam ist allen Schriftbezügen (in Joh 4 u. a. Brunnen, Wasser, Jakob, Messiaserwartung, Ernte) die Betonung und Veranschaulichung der Gegenwart des Heils in der Person Jesu (132 ff.142 f.; vgl. auch die analoge Verwendung von Schriftbezügen in Joh 7; bes. 198–226). »Die Heilstaten Gottes in der Geschichte Israels zeugen von seinem Heilswillen, der unverän-derlich ist, und sind deswegen Vorzeichen seiner endgültigen Liebestat in Jesus« (139). Die Lesenden lernen so »im Spiegel der verschiedenen Missverständnisse und der Offenbarungsrede Jesu« zu entdecken, »wie die Schrift zu lesen ist« (140). Am Beispiel der Samariterin können die Adressaten des JohEv lernen, »wie der christliche Glaube im Anknüpfen an die jüdische Schrift oder an ihre zentralen Inhalte (hier Jacob) möglich ist« (142).
In der Auslegung von Joh 7 stellt M. heraus, dass es hier nicht wie in Joh 4 um die Darstellung eines schrittweise entfalteten Glaubensweges geht, sondern es sich um eine mehrfache Wiederholung und Amplifikation der gleichen Grundkonstellation handelt: der Ab­lehnung Jesu durch die auftretenden Figurengruppen. In Joh 7 findet sich (meist) »kein echter Dialog«, »denn die Gesprächspartner sprechen oft gar nicht zueinander« (189). In 7,37–38 offenbart sich Jesus hingegen einladend, unmissverständlich und ohne jede Polemik. Erzählt Joh 4 einen Weg zum Glauben an Jesus Christus, so schildert Joh 7 vielschichtig (in dramatischen Bühnenbildern; vgl. 146 f.), welche Gründe dazu führen, dass Jesus im Unglauben zurückgewiesen wird. Für die Lesenden wird zwischen den Zeilen im Umkehrschluss und explizit am Beispiel des Nikodemus, der aus der scheinbar geschlossenen Phalanx der »Hohenpriester und Pharisäer« ausbricht (vgl. Joh 7,45–52), klar, wie der Weg zum christlichen Glauben gelingen kann. In 7,45–52 zeigen dies die unwillentlichen Zeugnisse für Jesus und die Ironie in V. 51 und 52. Gerade das Beispiel des Nikodemus und die unscharfen Abgrenzungen von Figurengruppen (»die Juden«, Hohepriester, Pharisäer, die Volksmenge) »machen darauf aufmerksam, dass die Reaktion der Zuhörer sich nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe vorbestimmen lässt« (184). »In Joh 7 begegnet dem Leser nicht eine Interpretation der Schrift, sondern fünf (die von Jesus, den Juden, den Pharisäern, dem Volk und von Nikodemus). Dies macht deutlich, dass der Schrift eine immense Bedeutung zukam, und zeigt, wie wichtig die Frage der richtigen Auslegung für den Autor war« (235). Der Evangelist wollte und konnte nicht auf die Schrift Israels verzichten: Denn Joh 4,22 (»Das Heil ist aus den Juden«) »bedeutet, dass das Heil, das sich in Jesus Christus ereignet, seine Wurzel in der bisherigen Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk hat: In Jesus werden die jüdischen Heilsverheißungen vollendet und in ihm bekräftigt Gott seinen Heilswillen für Israel und erweitert ihn auf alle Menschen« (100; vgl. auch 257–269).
Insgesamt weist M. überzeugend nach, dass die Schriftauslegungen, die – in vielerlei Munde – gegen oder für Jesus angeführt werden, eine ähnliche Funktion haben, wie die johanneischen Missverständnisse: In der narrativen Strategie des Evangelisten dienen sie im Ergebnis dazu, den Anspruch Jesu zu legitimieren (vgl. 256) oder zu erklären, weshalb sich an Jesus die Geister scheiden. Die Arbeit leistet einen wertvollen Beitrag zur Johannesforschung, insbesondere der anspruchsvollen narrativen Strategie des vierten Evangelisten.