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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

925–927

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sohn-Kronthaler, Michaela u. Ruth Albrecht [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert. Aufsatzband.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2014. 398 S. m. Abb. = Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, 8.2. Kart. EUR 59,99. ISBN 978-3-17-022547-3.

Rezensent:

Esther Hornung

Die Reihe »Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie« hat sich zur Aufgabe gemacht, »eine Rezeptionsgeschichte der Bibel, konzentriert auf genderrelevante biblische Themen, auf biblische Frauenfiguren und auf Frauen, die durch die Geschichte hindurch bis auf den heutigen Tag die Bibel auslegten, zu präsentieren.« Diesem Ziel wird der neueste Band der Reihe, herausgegeben von Michaela Sohn-Kronthaler und Ruth Albrecht, gerecht.
Die Herausgeberinnen schließen mit dieser Aufsatzsammlung an internationale Forschungen an, die in den letzten Jahren eher von Ausdifferenzierungsprozessen des Religiösen statt vom Rückgang der »Bedeutung religiöser Deutungssysteme« sprechen und dieses Phänomen mit Frauenforschung verbinden. Sohn-Kronthaler und Albrecht ordnen ihr neues Buch hierbei in 2006 und 2007 erschienene Forschungen von Marion Ann Taylor, Heather E. Weir und Christiana de Groot ein sowie dem 2012 in den USA publizierten Handbook of Women Biblical Interpreters zu. Im Unterschied zu Letzterem jedoch »liegt der Fokus« dieses »Bandes darauf, die Diversität der Beiträge von Frauen zum Bibelverständnis und deren Bibelinterpretation hervorzuheben.« Es werden, grob eingeteilt in vier geographische Kreise und einen zu Literatur und Kunst, Frauen aus verschiedenen Ländern, Konfessionen und dem Judentum vorgestellt, die in besagtem Zeitraum sich biblische Überlieferung aneigneten, verarbeiteten und für sich nutzbar machten. Die Quellenbasis der einzelnen Untersuchungen reicht hierbei von Selbstzeugnissen über verschiedene Literaturgattungen bis hin zu öffentlichen Reden.
Der erste Teil widmet sich dem angloamerikanischen Raum. Paul W. Chilcote stellt in »Methodistische Frauen und die Bibel: Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift im 19. Jahrhundert« zunächst zentrale Frauengestalten des frühen Methodismus vor, die in ihrer Bibelrezeption wesentlich methodistische Frömmigkeit und Selbstverständnis geprägt hatten. Mary Ann Taylors Beitrag »Frauen und die historisch-kritische Exegese im England des 19. Jahrhunderts« kann zeigen, dass gebildete Oberschichtsdamen die aufkommende kritische Rezeption der Bibel aufzunehmen wussten und diese Diskussion in ihren einzelnen Phasen auch kolportierten. Christiana de Groot deckt durch »Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage im 19. Jahrhundert« auf, wie östlich und westlich des Atlantiks sechs Schriftstellerinnen die Debora-Figur der Bibel für ihre jeweilige Position hinsichtlich der Frauenfrage interpretierten. Bei der Auswahl der Frauen wurde darauf geachtet, dass diese ein möglichst breites Spektrum abdecken. Elizabeth M. Davis stellt in »›Gott der Herr gab mir die Zunge eines Jüngers‹: Chatherine McAuleys Schriftdeutung« die Gründerin der Sisters of Mercy vor, eine der größten Kongregationen in Irland und Nordamerika. Mit McAuley wird eine Frau präsentiert, die in einem ökumenischen Umfeld sozialisiert wurde, so dass u. a. quäkerische Einflüsse sich mit ihrer eigenen bewusst katholischen Positionierung verbanden. Dabei benutzte sie biblische Texte, um ihre Vorstellungen zu untermauern und durchzusetzen. Pamela S. Nadell steuert mit »Bibelauslegungen auf dem Congress of Jewish Women in Chicago im Jahr 1893« einen Beitrag zur jüdischen Bibelrezeption durch die dortigen Rednerinnen bei. Diese Versammlung sollte das Gründungsereignis des »Council of Jewish Women« werden, »das später in National Council of Jewish Women umbenannt wurde«, und somit wegweisend für die weiteren emanzipatorischen Entwicklungen im US-amerikanischen Judentum.
Studien zum süd- und osteuropäischen Raum umfasst der zweite Teil. Mit »Die Bibel in den Dienstberichten der waldensischen Biblewomen« führt Marina Cacchi ein in die von der Waldensischen Kirche institutionalisierte Verkündigungsarbeit italienischer Missionarinnen. Adriana Valerio eröffnet »Biblische Inspirationen im Transformationsprozess der religiösen Frauengemeinschaften Italiens im 19. Jahrhundert«. Dass hier die Betonung auf »Inspirationen« liegen muss und nicht auf der Bibel liegen kann, wird gleich zu Anfang des Artikels deutlich, denn die Bibel, so Valerio, war in Italien gerade für religiöse Frauen »eine gefährliche Lektüre«. Anhand einer nicht weiter begründeten Auswahl von fünf Kongregationsgründerinnen beleuchtet Valerio den Umgang dieser Schwestern mit der Heiligen Schrift. Dabei sticht Maria Carmela Ascione heraus, die in der Tradition mystischer Visionärinnen unter Kontrolle ihrer Beichtväter einen ganzen Bibelkommentar verfasste. Einen Blick auf Gimeno de Flaquers »Evangelios de la Mujer« und damit auf den »Konservative[n] Feminismus im katholischen Spanien des 19. Jahrhunderts« gewährt Immaculada Blasco Herranz. Dieser Differenzfeminismus sei geprägt gewesen von der Symbiose liberal bürgerlicher und konservativ katholischer Elemente. Dass auch für orthodoxe Frauen die Bibel essentiell war für »ein geistliches Leben«, davon zeugt der Beitrag »Orthodoxe Frauen und die Bibel im Russland des 19. Jahrhunderts« von Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek. Als die Bedeutung des Kirchenslawischen durch neue Bibelübersetzungen unter Druck geriet, spielten gleichwohl immer noch Nonnen für die Bildung von und die Bibelvermittlung an Frauen eine zentrale Rolle. Die Verfasser sehen sogar eine gewisse Offenheit seitens der Orthodoxie zu dieser Zeit, Frauen als Theologinnen und inklusive Sprache in Gottesbildern zu akzeptieren.
Für den deutschsprachigen Raum liefert Angela Berlis einen Einblick in den Beginn des Altkatholizismus: »Die Bibel in Liturgie und Frömmigkeit am Beispiel des Kreuzeskränzchens in Bonn«. Die aus dem Bonner Güntherkreis erwachsene Gemeinschaft gutbürgerlicher Damen adaptierte katholische Andachtsformen wie Litanei und Marienfrömmigkeit selbständig für ihre eigene Spiritualität. Sie orientierte sich dabei sowohl an der Bibel als auch am Heliand-Epos. Der neu sich formierende Altkatholizismus führte deshalb po­lemisch ins Feld, dass sich durch die Bibellektüre Altkatholiken weit gelehrter erwiesen als Papst Pius IX. Dennoch, so Berlis, es »sollte bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis Frauen die aktive Teilnahme in der Liturgie […] in die Tat umsetzen konnten.« »Das Weib schweige? Protestantische Kontroversen über Predigerinnen und Evangelistinnen« deckt Ruth Albrecht auf. Mit dem Aufkommen zahlreicher Freikirchen und religiöser Gruppen sowie der Heiligungs- und Gemeinschaftsbewegung bekam die Diskussion um die öffentliche Rolle von Frauen in der Verkündigung neuen Auftrieb, just in dem Moment, als von exegetischer Seite her der Offenbarungscharakter der Bibel immer mehr angezweifelt wurde. Die der Erweckung zuzuordnenden Frauen besetzten als Evangelistinnen, Reichsgottesarbeiterinnen und Bibelfrauen Positionen, die denen offizieller Kirchenämter nahekamen. Anstöße hierfür kamen aus England. An vier Beispielen zeigt die Autorin vier unterschiedliche Aktionsräume in Verkündigung und Diakonie, die sich die Akteurinnen durch ihre fromme Lektüre erschlossen. Doris Brodbeck präsentiert mit der »Bibelrezeption bei Helene von Mülinnen« eine »Schweizer Vorkämpferin für Frauenrechte«. Die »Präsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine (BSF)« wird als eine Persönlichkeit dargestellt, für die die Bibel den selbstverständlichen Referenzrahmen darstellte, von dem aus sie für sich persönliches Schicksal und politisches Handeln deutete und begründete. Ihre eigenen Interpretationen gerieten dabei nicht selten in Konflikt mit Kirche, Theologie und Geschlechterhierarchien. Eine »[e]xistentielle Bibelauslegung als Anstoß zum diakonischen Handeln« sieht Ute Gause in ihrem Beitrag »In der Nachfolge Jesu: Diakonissen und Bibelauslegung am Beispiel Eva von Tiele-Wincklers« am Werk. Anhand zweier Bibelauslegungen der Friedenshortgründerin zeichnet sie deren von der Heiligungs- und Gemeinschaftsbewegung geprägte Bibelfrömmigkeit nach, die stark »Kontemplation und Andacht sowie« das »Wirken des Heiligen Geistes« betonte und die Tiele-Winckler in ihr diakonisches Wirken übersetzte. Auch Michaela Sohn-Kronthaler widmet sich mit »Bibellektüre als Motivation für diakonisch-soziale Initiativen am Beispiel von Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916)« der Übersetzung von Bibellektüre in sozialdiakonisches Handeln im Kontext besagter Erweckung. Aus dieser Verbindung erwuchs durch die Protagonistin eine »tragende Säule der evangelischen Diakonie Österreichs«. Die Autorin zeigt dieses Zusammenspiel anhand der Analyse der Bibelrezeption in Jahresberichten von Elvine de La Tour auf.
Ein differenziertes Bild innerhalb des letzten Teiles »Literatur und Kunst« bietet Bernhard Schneider in »Lesende Katholikinnen im deutschen Sprachraum und die Bedeutung der Bibel zwischen 1850 und 1914«. Entsprechend der Unterscheidung von schlechtem und gutem Lesen bewegte sich der Umgang mit der Bibel ebenso »zwischen Empfehlung und Vorsicht«. Schneider zieht ein eindeutiges Fazit: »Die Bibel stand nicht im Zentrum des geistlichen Lebens und der geistlichen Lektüre von Frauen« in diesem Zeitraum. Sie war nur ein Bezugspunkt unter vielen. Dieser Befund sei durchaus geschlechtsspezifisch, ausgerichtet auf die Liturgie. Damit könne »die Bibelkenntnis bei Katholikinnen als Ergebnis oraler Kultur« verstanden werden, als Lehre, als Autorität neben dem Katechismus. Magda Motté sieht das Verhältnis deutschsprachiger Schriftstellerinnen zur Bibel »Zwischen Dienst und Rebellion«. Die Germanistin erstellt nach der »Durchsicht zahlreicher Werke von mehr als sechzig bekannten Schriftstellerinnen« eine dürftige Bilanz: »Für die nach Freiheit strebenden Schriftstellerinnen der Aufklärung, der Klassik und der Romantik« und ab Mitte des Jahrhunderts »waren die Bibel oder die Religion als Stoffquelle für literarische Produktion kaum oder gar nicht von Interesse.« Das gelte selbst für die religiösen Schriftstellerinnen. Dennoch werden zahlreiche Beispiele der Rezeption biblischer und apokrypher Motive angeführt, so dass das Urteil der geringen Ausbeute zu relativieren ist. Auch entspricht die Begründung dafür, dass »die religiöse Erziehung der Mädchen und Frauen und die kirchlich gebundene Lektüre der Bibel« es erschwert haben sollen, »die biblischen Geschichten in Freiheit zu deuten. Hinzu kam die Sündenangst« eher dem insgesamt polemischen Ton des Artikels. Mit »Exemplarische Marienbilder und Bibelszenen im Werk Marie Ellenrieders (1791–1863): Konstruktion weiblicher Kommunikationsräume des Religiösen« stellt Katharina Büttner-Kirschner eine katholische Porträt- und Historienmalerin im Umfeld der Nazarener vor. Maria, das Magnifikat und die Kindersegnung werden als zentrale Motive vorgestellt. Dort wie in anderen Darstellungen biblischer Szenerien mit Frauen verband Ellenrieder konservative Komposition mit weiblichen Kommunikationsräumen, setzte auf diese Weise eigene Akzente. Elfriede Wiltschnigg vergleicht im letzten Beitrag »Alttestamentliche Frauen in Bibelillustrationen des 19. Jh.s am Beispiel von Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Doré« zwei populäre Bibelausgaben – eine evangelisch, eine katholisch. Während der Deutsche Schnorr von Carolsfeld ebenfalls den Nazarenern zuzuordnen ist, ist der Franzose Doré in Historismus und Spätromantik einzuordnen. Dies spiegelt sich auch in ihren Darstellungen wider. Beide zeichneten ein traditionelles Geschlechterverhältnis, das jedoch mit der tatsächlichen Lebenswelt ihrer Rezipientinnen wenig gemein hatte.
Der Aufsatzband bietet somit ein buntes Kaleidoskop zum formulierten Thema. Der enzyklopädische Charakter wird zudem durch eine ausführliche Bibliographie und ein umfassendes Bibel- und Personenregister unterstrichen. Zudem fehlen nicht die Kurzbeschreibungen der Beitragenden. Mehrmals wird betont, dass manches erst einen ersten Einblick in neue Forschungsfelder eröffnet, hier Neuland betreten wird. Dies mag die Fülle erklären, die in einigen Artikeln nebeneinandersteht, deren Auswahl aber nicht nä­her erläutert wird. Auch wäre insbesondere hin und wieder mehr differenzierte Präsentation wünschenswert gewesen. Die Wirkung dieser Holzschnitthaftigkeit kann aber womöglich der notwendigen Beschränkung in einer so umfangreichen Umschau geschuldet sein. Allerdings musste noch immer Dubys Geschichte der Frauen als Referenz dienen. Überhaupt konnte es wohl der Verpflichtung zur Frauengeschichtsschreibung entsprechend nicht ausbleiben, dass die bereits abgearbeiteten Erkenntnisse zum Geschlechterdiskurs erneut reproduziert wurden. Darüber hinaus wurde in einigen Artikeln die Sprachwahl von feministisch-politischer correctness und triumphalistischer Sprache geradezu beherrscht: von der Kollektivdichotomie »Frauen und Männer«, von Formulierungen wie »patriarchalischen Strukturen in den biblischen Texten und in der Gesellschaft generell entgegenzutreten« (57), »Stimmen von Frauen« (ebd.), »Frauen nicht vergessen werden« (139), die Bemühung von Vormüttern (vgl. 100), die Etikettierung »Feministin« (vgl. 161) oder »Befreiungstheologin« (233) bei Frauen, die diesen Be­griff für sich nicht anwandten, oder Einschätzungen wie: »Gleichzeitig beweist dies, dass das Charisma von Frauen in jeder Art von Organisation oder Gemeinschaft tatsächlich großen Wert haben kann, zweifelsohne ganz besonders in denjenigen mit religiöser Prägung.« (139) Ein wenig mehr sprachliche Distanz hätte hier der Sache sicherlich eher gedient. Insgesamt jedoch bietet dieser Aufsatzband durchaus neue Einsichten in Bibelrezeption bei einem historisch gesehen altbekanntem Thema.