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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

905–907

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, u. Alexander Heit [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sphärendynamik I. Zur Analyse postsäkularer Gesellschaften.

Verlag:

Zürich: Pano Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2011. 390 S. m. Abb. = Religion – Wirtschaft – Politik, 2. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-290-220065-1 (Pano); 978-3-8329-6246-3 (Nomos).

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Pfleiderer, Georg, u. Alexander Heit[Hrsg.]: Sphärendynamik II. Religion in postsäkularen Gesellschaften. Zürich: Pano Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2012. 446 S. m. Abb. = Religion – Wirtschaft – Politik, 3. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-290-22006-8 (Pano); 978-3-8329-6711-6 (Nomos).


Das zu besprechende zweibändige Werk dokumentiert die Ergebnisse eines Forschungskollegs am Collegium Helveticum – Basel/ ZRWP. Der erste Band enthält längere Beiträge, verfasst von den sechs Fellows des Programms, während der zweite Band die Resultate einer Tagung publiziert, die von den Fellows gemeinsam zum Abschluss der Förderphase organisiert wurde.
Eine zentrale Prämisse der Forschungen ist im Untertitel mit dem Begriff der »postsäkularen Gesellschaften« benannt. Gleich auf der ersten Seite des ersten Bandes wird vom Soziologen Werner Gephart eine rhetorische Salve abgefeuert, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: »Niemand« bestreite eine »Rückkehr der Religion«; kein »ernsthafter Beobachter dieser Welt« könne mehr die These einer unumkehrbaren Säkularisierung und Privatisierung der Religion vertreten. Unwillkürlich fragt sich der Leser, ob hier nicht der Mund etwas zu voll genommen wird, zumal eine detaillierte Begründung dieser Behauptung und eine Auseinandersetzung mit divergierenden Interpretationen nirgendwo ge­führt wird. Wie dem aber auch sei, das Selbstverständnis der beteiligten Wissenschaftler ist mit diesen markigen Worten sicherlich im Großen und Ganzen richtig beschrieben. Die gemeinsame Frage ist von daher die, was diese wiederkehrende soziale Präsenz der Religion heute zu bedeuten hat. Und zwar wird genauerhin nach der Signifikanz religiöser Akteure, Gedanken, Symbole und Ideale außerhalb des im engeren Sinn religiösen Bereichs gefragt. Es geht den Beteiligten also nicht z. B. um die Entwicklung von Religionsgemeinschaften oder um das Problem der Religionsfreiheit im engeren Sinn, sondern um die Frage, »wie in den nicht religiös eingefärbten ›Sphären der Moderne‹ religiöse Gemeinschaften vermittels ihrer Repräsentanten ›präsent‹ sind« (Gephart, 17). Was also bedeutet es für westliche Gesellschaften als Ganze, dass für die in ihnen ökonomisch, politisch oder wissenschaftlich agierenden In­dividuen religiöse Ideen und Überzeugungen motivierend oder generell handlungsleitend bedeutsam sind? Wer hier naiv fragt, warum die Präsenz religiöser Akteure in Bildungs- oder Gesundheitswesen, in Hochschule oder Parlament denn ein größeres Problem darstellen sollte als ein Arzt, der Opernliebhaber, oder ein Politiker, der Fußballfan ist, stößt auf eine zweite, weniger plakativ vorgetragene, dennoch gewichtige Prämisse des interdisziplinären Programmes: Moderne Gesellschaften werden als in verschiedene Bereiche differenziert begriffen, die nach einer je autonomen Bin nenlogik funktionieren. Politische, ökonomische oder wissenschaftliche Entscheidungen sollten also idealiter von keinen be­reichsfremden Motiven bestimmt sein. Die Gegenwart religiöser Prägungen in diesen sozialen Sektoren wird daher als problematisch empfunden und artikuliert. In der Praxis ist eine solche Be­reichstrennung freilich unrealistisch; genau diesem Problem soll nun mit dem Konzept der »Sphären«, die dem gesamten Unternehmen seinen Namen gegeben haben, zu Leibe gerückt werden.
Was genau damit gemeint ist, wird in dem einleitenden Beitrag von Werner Gephart entwickelt. In einer subtilen, Max Weber und Emile Durkheim spannungsvoll verbindenden Abhandlung be-schreibt Gephart gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft, Politik und Religion als Sphären, um deren relative Selbständigkeit zu­sam­men mit ihrer Interdependenz und wechselseitigen Verwobenheit in den Blick zu bekommen. Das Verhältnis der Sphären kann unterschiedlich gestaltet sein; die Eigenart der westlichen Moderne besteht laut Gephart in einer bestimmten Form von »Sphärenspannung«, bei der die wechselseitige Berührung und Beeinflussung der Sphären immer vorausgesetzt, aber niemals als einfach selbstverständlich akzeptiert wird.
Der Grundimpuls des einleitenden Beitrags wird in den folgenden Abhandlungen unterschiedlich aufgenommen: Dorothée de Nève legt ein eigenständiges politikwissenschaftliches Modell zur Interaktion von religiöser und politischer Sphäre vor; Uwe Justus Wenzel interpretiert die invocatio dei in europäischen Verfassungspräambeln als »Grenzwächter« zwischen den Sphären. Susanne Lanwerd betrachtet die Rolle von Bildern als paradigmatischer »Sphärenvermischer« in gegenwärtigen öffentlichen Diskursen über nichteuropäische Religionen, während Peter Seele das Beispiel der Migration nutzt, um die Verhältnisse der Sphären Politik, Wirtschaft und Religion aus ökonomischer Sicht zu beschreiben. Der Beitrag von Rolf Schieder, eine theologische Lektüre des Soziologen Luc Boltanski, nimmt eine gewisse Sonderrolle ein, sofern es Boltanskis eigene Taxonomie und nicht die Sphärentheorie ist, die der Untersuchung zugrunde liegt.
Der zweite Band öffnet sodann den Horizont noch weiter. Die sechs Fellows, wiederum mit je einem Text vertreten, interagieren hier mit weiteren Kollegen ihrer jeweiligen Fächer. Wichtige Probleme der postsäkularen Gesellschaften kommen in den Blick, von Veränderungen im amerikanischen Evangelikalismus (Marcia Pally, Rolf Schieder, Rainer Anselm) über politische Parteien (Dorothée de Nève, Axel Klein, Antonius Liedhegener) zu Problemen der Repräsentation von Religion (Susanne Lanwerd, Daria Pezzoli-Olgiati, Márcia Elisa Moser, Jürgen Mohn). Gleichzeitig nimmt der Fokus auf das Modell der dynamischen Sphären zwangsläufig weiter ab. Die Beiträge lassen sich am ehesten als Schlaglichter auf die uneinheitliche und unübersichtliche Rolle der Religion in den Gesellschaften der Gegenwart lesen. Bei der Lektüre sind dennoch faszinierende Einsichten zu gewinnen, so in Dirk Baeckers brillantem Versuch, Differenzen von Kapitalismus und Religion herauszuarbeiten und gerade dadurch die jüngste Rückkehr der Religion als eine gesteigerte Tendenz, Religion in öffentlichen Diskursen zu beanspruchen, plausibel zu machen. Zusammen mit den kritischen Repliken von Peter Seele und Christoph Weber-Berg gehört dieser Beitrag zu den Höhepunkten der beiden Bände.
Es steht völlig außer Zweifel, dass die von unterschiedlichen Disziplinen herkommenden Autoren bedeutsame Beiträge zum Verständnis der Rolle der Religion in gegenwärtigen Gesellschaften leisten. Gleichwohl ist die Frage, wie überzeugend das Gesamtkonzept der beiden Bände ist, nicht von der Hand zu weisen. Das liegt zunächst einmal an einer gewissen Unklarheit der thematischen Zuspitzung, wie sie sich im Titel ausspricht. Wenn mit Sphärendynamik nichts anderes gemeint ist, als dass das Verhältnis von religiöser Sphäre zu anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Untersuchung wert ist, dann beschreibt der Titel korrekt, was die Bände enthalten; er sagt dann allerdings nichts sonderlich Originelles. Wenn er jedoch spezifischer im Sinne der dann von Gephart präsentierten »Theorie sozialer Sphären« verstanden wird, kann man ihn kaum als das die einzelnen Beiträge inhaltlich verklammernde Band betrachten. Es wird auch nirgends erklärt, ob und inwiefern der einleitende Beitrag den Anspruch hat, ein allen Verfassern gemeinsames konzeptionelles Fundament zu artikulieren. Dadurch jedoch bleibt die Frage nach dem theoretischen Anspruch und der Zielstellung des Werkes auf letztlich unbefriedigende Weise offen.
Neben der thematischen Unschärfe stellen sich formale Probleme. Die sechs Kapitel des ersten Bandes sind allesamt eher kurze Monographien als Buchkapitel. Das zeigt sich nicht nur an ihrer Länge, sondern mehr noch an ihrer weit ausgreifenden Struktur. Jedes Kapitel schreibt im Grunde seine eigenen Prolegomena einschließlich ausführlicher Darstellungen zur jeweiligen Forschungs- und Disziplingeschichte, was unvermeidlich zu Doppelungen und zu einer beträchtlichen Weitläufigkeit in der Darstellung führt. Zudem fehlt dem ersten Band eine Einführung der Herausgeber (die genaue Stellung des »einleitenden« Kapitels von Gephart ist, wie gesagt, nicht deutlich erklärt), die den Charakter des Projektes und die Beziehung zwischen den einzelnen Beiträgen hätte erklären sollen. Das alles ist bedauerlich, denn das Thema des Werkes ist aktuell, geradezu brisant, und so hätte die Chance bestanden, hier ein Maßstab setzendes Standardwerk zu veröffentlichen. Was bleibt, ist eine Sammlung von beeindruckenden Abhandlungen, die aus unterschiedlicher disziplinärer Perspektive wichtige Probleme der Rolle der Religion in heutigen Gesellschaften beleuchten.