Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2015

Spalte:

900–902

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gmainer-Pranzl, Franz, u. Sigrid Rettenbacher [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. 464 S. m. Abb. = Salzburger interdisziplinäre Diskurse, 3. Geb. EUR 74,95. ISBN 978-3-631-62998-7.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Der von Jürgen Habermas 2001 mit seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in die Debatte gebrachte Begriff »Postsäkulare Gesellschaft« hat sich im letzten Jahrzehnt für religionskulturelle Diagnosen vielfältig eingebürgert, wird aber auch kontrovers diskutiert. Beide Aspekte, der diagnostische Mehrwert wie die Diskussion der theoretischen Kon-sistenz und Prägnanz des Begriffs werden in diesem Band aufgenommen, der die bei einer interdisziplinären Tagung am 29./30. No­vember 2012 in Salzburg gehaltenen Vorträge sowie eine Reihe weiterer Beiträge aus dem Umfeld der Tagung präsentiert. Neben theologischen, philosophischen, soziologischen und politologischen Beiträgen werden auch psychologische, pädagogische, literaturwissenschaftliche, kommunikationswissenschaftliche, juristische, geographische und kulturgeschichtliche Perspektiven zum Thema eingenommen. Die »postsäkulare Gesellschaft« wird breit aufgefächert, neben der Dichtung Paul Celans steht der sakrale Ort der Fußballarena, neben der Religionsparodie stehen Magie und Armutsbekämpfung, neben Wal-Mart die Religiosität in Brasilien. Was in dieser Aufzählung etwas zufällig und willkürlich klingen könnte, dient in Wahrheit der systematischen Erkundung und Erprobung der Thematik.
Herausgegeben wird der Band von Franz Gmainer-Pranzl, dem Leiter des »Zentrum Theologie interkulturell und Studium der Religionen« und Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg, und der (ehemaligen) Assistentin an diesem Zentrum und jetzigen Ausbildungsleiterin am TheologInnen-Zentrum Salzburg. In ihrem Vorwort nennen sie die Stichworte der überraschenden religionsproduktiven Wirkungen von Moder-nisierungsprozessen, die Einsicht in die diskursive Identität von ›Religion‹ (als »konstruierter Wirklichkeit eines kulturellen und sozialen Lebenszusammenhangs«, 10) und die mit dem Habermasschen Begriff verbundene Herausforderung zu reziproken Lernprozessen. Der Band zielt auf die Bearbeitung einer konstruktivistischen, diskursiv angelegten Verständigung sowohl über die Bedeutung von Religion in den Gegenwartsgesellschaften wie über ein zugehöriges Verständnis theologischer Reflexion (vgl. Forschungsplattform »Kulturen – Religionen – Identitäten: Spannungsfelder und Wechselwirkungen« in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, http://www.uni-salzburg.at/index.php?id=62515).
Aus religionssoziologischer Sicht prüft der Beitrag von Gunter Graf (»Ein postsäkulares Zeitalter?«), welcher Mehrwert Habermas’ Begriff der »postsäkularen Gesellschaft« für die Beschreibung und das Verständnis von Religion in der Moderne abzugewinnen ist. Er diskutiert einerseits in Kürze und gleichwohl umfassend die kritischen Aspekte bezüglich seiner eher mangelnden empirischen Aussagekraft. Und er lotet andererseits die Chancen des Begriffs im Blick auf normative Feststellungen zur Bedeutung von Religi­on(en) für den politischen und öffentlichen Diskurs bzw. für ihren Status im liberalen Verfassungsstaat aus. Er soll deutlich machen, »dass dialogfähige Religionen auch in Staaten, die säkular verfasst sind, keineswegs aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen sind« (236). Damit leistet Graf eine prägnante und präzise Bestimmung des Begriffs, die zukünftig die Referenz für seine Verwendung bilden dürfte. Die kritische Sicht im Blick auf empirische Befunde wird beispielsweise in juristischer Perspektive für Österreich von Alfred Rinnerthaler, für Brasilien in theologischer Sicht von Marina Pinheiro Teixeira und Rudolf von Sinner ausgeführt. Andreas Grassmann diskutiert die konstitutive Bedeutung der Menschenwürde für den Diskurs zwischen religiösen, insbesondere katholischen, und säkularen Überzeugungen.
Zentrale Beiträge zur theologischen Rezeption der postsäkularen Gesellschaft leisten Hans-Joachim Höhn mit dem Eröffnungsbeitrag und Sigrid Rettenbacher. Höhn, katholischer Theologe und Religionsphilosoph an der Universität Köln, schreibt dem Begriff zunächst eine heuristische Bedeutung für die religionssoziolo-gische Wahrnehmung des »Fort- und Nachlebens der Religion inmitten ungebremster Prozesse ihrer Bestreitung und Überwindung« (24) zu. Allerdings gewinnen einerseits religiöse Gehalte und Traditionen nicht einfach ihre Geltung zurück (gar im Sinne einer »Renaissance« oder »Wiederkehr« der Religion), sondern werden dekonstruiert und neukontextualisiert. Es kommt zu einer säkularen Übernahme ihrer ästhetischen und semantischen Potentiale, für die Höhn den Begriff der »religiösen Dispersion« eingeführt hat. Andererseits zeigen sich aber auch Phänomene eines tatsächlichen Wiederauflebens von Religion, etwa dann, wenn religiöse Identitäten als Medium für die Darstellung kultureller Differenzen und für das Austragen sozialer Konflikte wie des Kampfes um öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung in Dienst genommen werden. Insbesondere diese zweite Form gewinnt gegenwärtig drastisch an Aktualität. Die mit der Moderne errungene Pluralisierungsfähigkeit religiöser Überzeugungen wird mit dem Ziel der Sicherung partikularer Identitäten paradox – und auch gewalttätig – infrage gestellt und bekämpft. Es sind diese, in ihrer katastrophalen Ambivalenz dramatisch ersichtlichen, problematischen Aspekte der medialen Instrumentalisierung von Religion, die Theologie nötigen, sich auf die postsäkulare Gesellschaft reflexiv einzustellen. Höhn greift dazu auf den Begriff der »reflexiven Moderne« des erst kürzlich verstorbenen Münchner Soziologen Ulrich Beck zurück und grundiert damit einen Zugriff auf die unintendierte Religionsproduktivität gerade eines forcierten Säkularisierungsprozesses: Während die »lineare Moderne« eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autonome Teilfunktionssysteme – einschließlich eines Teilfunktionssystems Religion – betreibt, beschreibt das Konzept »reflexive Modernisierung« das Bewusstsein über Problemkonstellationen, die von der forcierten Ausdifferenzierung erzeugt, von den ausdifferenzierten Teilsystemen aber nicht adäquat bearbeitet werden können. Eine reflexiv verfasste Theologie des post-säkularen Christentums sollte dann in der Lage sein, religionsproduktive Beiträge zur Bearbeitung dieser Problemkonstellationen zu beschreiben. Damit gelingt es Höhn, die Aufgabe einer postsäkularen Theologie sehr prägnant zu formulieren, seine eigenen Überlegungen beschränken sich allerdings auf problematische religionsproduktive Prozesse. Hier kann Sigrid Rettenbachers Konfrontation einer selbstreflexiven theologischen Religionstheorie mit dem postkolonialen Identitäts- und Machtdiskurs weiterführen. Mit neueren Einsichten über die Parallelgenese von christ-licher und jüdischer Identität in einem Interaktionsprozess von wechselseitiger Profilierung und über die Genese »hybrider Identitäten« (89) gewinnt sie das Modell zur Dekonstruktion des Abgrenzungsdiskurses, der auf Kategorien der Ausschließung, Festschreibung und Marginalisierung beruht und essentialistisch vorgegebene und daher unveränderlich feststehende Identitäten sowohl behauptet wie auch unterstellt. Demgegenüber ist die Einsicht notwendig, dass es sich dabei um wechselseitig generierte Identitätskonstruktionen handelt, sowohl bei religiös, wie bei säkular verfassten Wirklichkeitskonstruktionen. Der Rekurs auf die dekonstruktive Praxis Jesu (ent)birgt das dekonstruktive Moment in der Identitätskonstruktion des Christentums.
Die weiteren Studien bieten eine ebenso lohnende Lektüre, sei es zu einem postsäkularen Liturgieverständnis, zur Topographie interreligiöser Räume oder zu den eingangs genannten Aspekten.