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Ausgabe: | Juli/August/1999 |
Spalte: | 815 f |
Kategorie: | Religionspädagogik, Katechetik |
Autor/Hrsg.: | Ballod, Georg |
Titel/Untertitel: | Pädagogisches Handeln und individuelle Entfaltung. Heinrich Jacobys Bildungs- und Erziehungsverständnis im individualpädagogischen Kontext. |
Verlag: | Marnheim: Berg 1997. 231 S. 8. ISBN 3-9804248-1-2. |
Rezensent: | Olaf Kühl-Freudenstein |
Georg Ballod ist im akademischen Betrieb ein Spätberufener. 1931 geboren wurde er zunächst Pfarrer und Religionslehrer, dann Leiter eines Privatgymnasiums. Erst im Jahre 1995, parallel zu seiner Pensionierung, erschien seine erste, eine theologische Dissertation; dann allerdings dauerte es nur zwei Jahre, bis 1997 seine zweite; diesmal einem erziehungswissenschaftlichen Thema gewidmete Arbeit erschien; von dieser soll nun die Rede sein.
Man mag sich fragen, warum ein Mensch noch nach der Pensionierung eine Dissertation, zumal eine zweite, vorlegt. Liest man das Buch, dann wird dies verständlicher. B. stieß zufällig in der Mitte der 80er Jahre auf das Werk des vielseitigen, aber wenig bekannten Begabungsforschers Heinrich Jacoby, und dies war - wie man bei Lektüre des Buches verstehen lernt - eine fesselnde Begegnung. B. begann mit Nachforschungen, nahm Kontakt zu Sophie Ludwig auf, einer ehemaligen Mitarbeiterin Jacobys, die nunmehr seinen Nachlaß verwaltet; bereits 1987 veranstaltete Sophie Ludwig hochbetagt am von B. geleiteten Gymnasium ein an Jacoby orientiertes Seminar, und das ging dann so weiter, bis die Pensionierung B. die Zeit ließ, seine langen intensiven Studien über Jacoby zu einem Abschluß zu bringen.
Gegliedert hat B. das vorliegende Werk in drei etwa gleichlange Abschnitte, denen ein vierter deutlich kürzerer Abschnitt abschließend folgt. Im ersten Kapitel gibt uns B. einen Überblick über das Leben und das Werk Jacobys. Dabei spricht er - selbstredend - lebensgeschichtliche Aspekte an; so erfahren wir, daß Jacoby 1889 geboren wurde, Musik studierte, auch andere Fächer hörte, zunächst am Straßburger Stadttheater, dann an verschiedenen pädagogischen Anstalten leitend arbeitete, bis er sich 1924 quasi selbständig machte und seine Erkenntnisse als Privatgelehrter in Arbeitsgemeinschaften weitergab. Als Jude geltend floh er 1933 ins Schweizer Exil, arbeitete dort weiter, bis er 1964 verstarb. Wir erfahren hier auch von der Überlieferungsgeschichte des Werkes, davon, daß Jacobys Denken vor allem in Gesprächsprotokollen seiner Arbeitsgemeinschaften überliefert ist; man erfährt mehr über Sophie Ludwig, erhält aber auch schon einen Überblick über zentrale Erkenntnisse Jacobys. Damit ist Jacoby so vorgestellt, daß man mehr wissen will, und diesem Anliegen dienen dann die beiden folgenden Kapitel, in denen jeweils ein für das Bildungs- und Erziehungsverständnis Jacobys wesentlicher Begriff entfaltet wird.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Begriff der "Entfaltung". Originell ist die an Pestalozzi angelehnte Systematisierung des Abschnittes: B. unterscheidet die verschiedenen "Störungsebenen", untersucht zunächst die naturbedingten, dann die gesellschaftlich, dann die individuell bedingten Entfaltungsstörungen. Einer der beeindruckendsten Abschnitte des Buches überhaupt ist der über die naturbedingten Entfaltungsstörungen, der mit ganz ungewöhnlichen Bildern aus dem Nachlaß Jacobys illustriert wird. Aber auch die übrigen Abschnitte stecken voller Schätze, sei es, wenn B. den Gedanken Jacobys zum "Wollenkönnen", zur "Stolperbereitschaft" oder zum "Stillewerdenkönnen" nachgeht. Insgesamt zeigt dieses Kapitel, wie sehr es Jacoby darum ging, Menschen aus ihrer Routine zu locken, damit sie sich mit scheinbar unabänderlichen Zuständen nicht mehr abfinden, sondern improvisieren lernen, schöpferisch werden und all das "nachzuentfalten" in der Lage sind, was in ihnen - bislang unentfaltet - steckt.
Im dritten Kapitel geht B. dem - wie Jacoby es nannte - "Empfinden für das Stimmende" nach. Es war eine Grundposition Jacobys, das Reden von "natürlichen Begabungen" nicht anzuerkennen. Als begabt geltende Menschen hätten lediglich ein starkes Grundvertrauen zu ihrem inneren Empfinden entwickelt, hätten die "naive" Bereitschaft, sich von diesem leiten zu lassen und könnten so auf den verschiedensten Gebieten der Kultur Schöpferisches leisten. Weil "Unbegabte" indes ein gestörtes Verhältnis zu diesen inneren Empfindungen hätten, bleibe ihnen gar nichts anderes übrig, als sich von äußeren Vorschriften und fremden Meinungen so weit leiten zu lassen, daß ihnen eigenes schöpferisches Tun verunmöglicht ist. Letzteres sah Jacoby aber nicht als unabänderlichen Zustand an; unter entsprechender Anleitung - und das hat Jacoby in seinen Seminaren jahrzehntelang eindrucksvoll erwiesen - sei es sehr wohl möglich, dieses Vertrauen zum inneren Empfinden zu stärken und auf dieser Grundlage - jenseits von begabt und unbegabt - ganz unerwartete schöpferische Potentiale freizulegen. Muß darauf hingewiesen werden, wie brisant ein solcher Ansatz ist, wie sehr er bis heute gängige Schul- und Erziehungspraxis in Frage stellt?
Das vierte Kapitel zeigt dann abschließend und knapp wirkungsgeschichtliche Aspekte auf und bietet eine kurze Zusammenfassung.
Bei einer solch umfangreichen Arbeit kann es gar nicht ausbleiben, daß manche Fragen oder Unklarheiten bleiben, manches hätte man sich vielleicht auch anders formuliert oder systematisiert gewünscht. Auch bei B.s Arbeit ist das so; auf Einzelheiten kann und muß in diesem Zusammenhang freilich nicht eingegangen werden, es soll genügen, abschließend auf einen Aspekt hinzuweisen, der mir in B.s Vorgehen in besonderer Weise problematisch erscheint.
B. ist von Jacoby - aus gutem Grund - begeistert, und nun möchte er ihn, der im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bislang so wenig Gehör gefunden hat, einem breiteren Publikum zugänglich machen. Diese Nähe zum Untersuchungsgegenstand gestattet es B. nur selten, eine kritische Distanz zum Werk Jacobys einzunehmen. B. möchte Jacoby ja auch gar nicht kritisch erörtern, er möchte ihn entfalten, dessen Legitimität darlegen, gegebenenfalls durch (bisweilen etwas langatmig ausfallende) Verweise in Nachbardisziplinen. Das mag der eine für legitim, der andere für eher problematisch halten; so oder so sollte man es aber wissen, denn wer erwartet, daß problematische Gedanken Jacobys auch problematisiert werden, der wird in der Regel genauso enttäuscht wie der, der wissen wollte, wo Jacobys Denken originär gewesen ist, bzw. wo Jacoby von anderen Gedanken übernahm.
Aber das ist ein kleiner Einwand; insgesamt ist diese Arbeit beeindruckend, und ich wünsche Ihr ein breites Lesepublikum und - damit verbunden - dem Werk Jacobys entschieden mehr Aufmerksamkeit.