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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

871–873

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rohde, Andreas

Titel/Untertitel:

Lebensgeschichte und Bekehrung. Leben aus Gottes Anerkennung.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 300 S. = Paderborner Theologische Studien, 55. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-77741-6.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Obwohl in der römisch-katholischen Hagiographie Bekehrungen traditionellerweise eine wichtige Rolle spielen, ist es erstaunlich, dass sich ein katholischer Systematiker mit dem Thema Bekehrung befasst, noch dazu, dass er deren grundsätzliche Relevanz für Christsein und Kirche herausarbeiten möchte. Als evangelischer Theologe hätte ich eine solche Arbeit eher im Raum des Protestantismus und hier im Bereich der Praktischen Theologie erwartet, nicht zuletzt aufgrund der überragenden Stellung, die die Bekehrung für den Glaubensvollzug im Pietismus besessen hat und bis heute besitzt. Andererseits vermag das Thema Bekehrung protes-tantische Gemüter immer noch zu erhitzen, was für eine wissenschaftliche Arbeit keine günstige Ausgangsbasis ist, die sich sine ira et studio ihrem Untersuchungsgegenstand zuwenden sollte.
Die Untersuchung von Andreas Rohde greift ein in der jüngsten Zeit nur wenig bearbeitetes Thema auf (206), stellt somit die Antwort auf ein Forschungsdesiderat dar. Dazu kommt die Aktualität des Themas: Sie liegt auf der Hand, weil angesichts des Rückgangs selbstverständlicher Kirchenzugehörigkeit davon auszugehen ist, dass die bewusste Hinwendung zum christlichen Glauben – wenn es gutgeht – in Zukunft zunehmen wird. Das erkenntnisleitende Interesse R.s ist nicht zuletzt ein ekklesiologisches: Es besteht darin, christliche Konversionserfahrungen auf die in ihnen gegebenen Potentiale für eine erneuerte, zukünftige Kirche zu untersuchen – worin sich deutlich R.s katholische Herkunft zeigt.
R.s Untersuchung gliedert sich in drei unterschiedlich gewichtige und verschieden lange Teile: Im ersten Hauptteil wird die post- bzw. spätmoderne Konstruktion der Lebensgeschichte zwischen Kohärenz und Bruch herausgearbeitet. Ausgehend von der zunehmenden Fragmentarizität postmoderner Biographien konstatiert R. die bleibende Suche nach einer einheitlichen Lebensgeschichte. R. untersucht in diesem Zusammenhang unterschiedliche psychologische Konzepte und kommt zu dem Schluss, dass in der Narration ein Ordnen von Lebenswelt und Lebensgeschichte möglich ist, die gleichzeitig implizit über sich selbst hinausweist. R. versucht, angesichts dieser Situation plausibel zu machen, dass eine theologische Deutung der Notwendigkeit, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, weiterführt. Unter dieser Voraussetzung wird das Evangelium anschlussfähig an postmoderne Diskurse zu Identität und Fragmentarizität. Durch die Unterscheidung von personaler und persönlicher Identität wird es möglich, die Bedeutung der in Jesus Christus erfolgten Selbstoffenbarung Gottes modernen Zeitgenossen zu vermitteln, die sich auf der Suche nach Identität und Sinn ihrer Lebensgeschichte befinden. Glaube wird von R. be­stimmt als Anerkennung der in Jesus Christus voraussetzungslos erfolgten Anerkennung des Menschen durch Gott. Genau durch die damit gegebene doppelseitige Anerkennung wird Kohärenz von Identität und Lebensgeschichte ermöglicht.
Auf dieser Voraussetzung aufbauend, vermag R. dann im zweiten Hauptteil die Bekehrung als »Ermöglichung lebensgeschichtlicher Kohärenz in der Anerkennung Gottes« näher zu bestimmen. Indem Bekehrung zunächst als religionspsychologisch erforschbares Phänomen beschrieben wird, wird auch in diesem Teil der Untersuchung das Bestreben deutlich, theologische Überlegungen zur Konversion als anschlussfähig an moderne wissenschaftliche Diskurse darzustellen. Theologisch wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass die Bekehrung eine notwendige Antwort auf die vorgegebene Anerkennung des Menschen durch Gott darstellt. Die Konversion stellt einen Identitätswechsel dar, der genauso wie jede (andere) narrative Konstruktion von Lebensgeschichte und Identität nicht ohne die erzählte Bekehrung auskommt.
Genau an dieser Stelle wird die Konversion für Theologie und Kirche interessant. Das Spannende und gerade für evangelische Theologie und Spiritualität Neue und Anregende besteht in Folgendem: R. bleibt bei der individuellen Wirkung der Bekehrung nicht stehen, sondern zeigt einerseits in Aufnahme von Überlegungen Bernard Lonergans ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Theologie auf. Andererseits arbeitet er in Anknüpfung an Heribert Mühlen die Potentiale der Bekehrung für die Kirche insgesamt heraus. Nicht nur, dass die Konversion einschließlich der notwendigerweise zu ihr gehörenden Konversionserzählung ihrerseits durch die theologische Reflexion vor fundamentalistischer Selbstabschließung und individualistischer Verengung bewahrt bleibt. Die Bekehrungserfahrung vermag auch umgekehrt der Theologie neue Vitalität zu vermitteln, indem in jeder Konversion die Erfahrung der Heilsgeschichte fortgeschrieben wird. Genauso ist nicht bloß die kirchliche Verortung für die Konversion notwendig, um sie vor Selbstzentrierung zu bewahren, sondern lebt umgekehrt auch die Kirche als Gemeinschaft von der Konversionserfahrung ihrer Mitglieder. In diesem Zusammenhang zeigt sich übrigens die deutlich ökumenische Ausrichtung der Untersuchung: R. leitet aus der Bedeutung der Konversionserfahrung des Einzelnen für die Vitalität der Kirche ab, dass sie immer eine e cclesia semper reformanda sein wird.
Im dritten Teil der Arbeit fasst R. auf 13 Seiten den Ertrag seiner Untersuchung zusammen: »Bekehrung als Ur-Sprung einer kohärenten Lebensgeschichte des Christen.«
R. unternimmt dankenswerterweise den Versuch, angesichts einer zunehmenden Fragmentarisierung der Biographie des Einzelnen in der Postmoderne die Potentiale zu untersuchen, die in der Bekehrungserfahrung für die Identitätsgewinnung liegen. Das Faszinierende der Untersuchung besteht darin, dass diese Potentiale nicht nur für die Biographie desjenigen, der eine Konversion erlebt, aufgezeigt werden. Das auch: R. knüpft an Untersuchungen des Klassikers der Religionspsychologie William James an und zeigt, dass Konversionen als Bruch der seitherigen Lebensgeschichte für den Einzelnen zur Freisetzung ungeahnter positiver Lebenspotentiale führen können. R. profiliert in diesem Zusammenhang die Konversion im christlichen Sinne als Anerkennung der Anerkennung des Menschen durch Gott, wie Jesus Christus sie offenbart und in seinem Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen vollzogen hat. Vor allem aber beeindruckt die Arbeit durch den Versuch, die Konsequenzen der Konversion einschließlich ihrer positiven Potentiale auch für Theologie und Kirche insgesamt aufzuweisen. Hierin liegt ihre besondere Stärke – gerade aus protestantischer Perspektive, wo ja die Bekehrung weithin mit Individualismus gleichgesetzt wird.
Indem wegen fortschreitender postmoderner Säkularisierungsprozesse und Traditionsabbrüche die Kirchenmitgliedschaft immer weniger selbstverständlich sein wird, wird sie sich sukzessive zu einer Angelegenheit der mehr oder weniger bewussten Entscheidung wandeln. In diesem Zusammenhang kommt der Konversion eine zunehmende Bedeutung zu. Es wäre fahrlässig, wenn Theologie und Kirche – etwa aufgrund einer »Verdachtsgeschichte« der Bekehrung im evangelischen Raum – es unterlassen würden, deren posi-tive Potentiale zu reflektieren. R.s vorliegende Untersuchung bietet dazu wichtige Impulse und weiterführende Einsichten.