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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

865–868

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eurich, Johannes, u. Wolfgang Maaser

Titel/Untertitel:

Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 416 S. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 47. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03152-8.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Inzwischen sind das Faktum eines Sozialmarktes auf europäischer Ebene einerseits und das Vorhandensein eines Wettbewerbes auf dem Sektor sozialer Dienstleistungen andererseits nicht mehr wegzudiskutieren, sondern bilden Bestandteile einer breit geführten wissenschaftlichen Diskussion, die in der Sozial- und Diakoniewissenschaft gleichermaßen geführt wird. Der vorliegende Band von Johannes Eurich (Heidelberg) und Wolfgang Maaser (Bochum), die beide ausgewiesene Kenner der Sozialstaats- und Wohlfahrtsdiskussion und der Transformation der Wohlfahrtsverbände hin zur Sozialökonomie sind, bietet ein breites und umfassendes Spektrum wissenschaftlicher Einzelbeiträge beider Autoren, deren thematisches Zentrum um die Erarbeitung eines neuen Profils der Diakonie in gesellschaftlicher Verantwortung kreist. Die Basis hierzu bildet der »Formwandel des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements« (11), wie es bereits die Einleitung der Autoren programmatisch be­nennt. Es geht den Autoren um eine neue Justierung der Diakonie unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Als ge­dank-lichen Ausgangspunkt für die veränderte Rolle der Diakonie stellt M. fest: »Die Veränderungen und Herausforderungen des Sozialstaats betreffen sowohl sein politisch-normatives Selbstverständnis als auch seine Steuerungsfunktion.« (101)
Bereits die Überschriften der Beiträge im Inhaltsverzeichnis machen deutlich, dass die Gesamtthematik einer Zuordnung von Diakonie und Sozialökonomie aus drei verschiedenen wissenschaftlichen und disziplinären Perspektiven in den Blick genommen wird: aus einer politisch-soziologischen Betrachtung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurses, der mit dem Stichwort der »Zivilgesellschaft« durchgehend benannt wird; einem organisa-tionssoziologischen Blick, der aus der Binnensicht der Diakonie als evangelischem Wohlfahrtsverband vorgenommen wird und hierbei die strukturellen Ebenen des Wandels betrachtet, sowie aus einer theologischen Argumentation heraus, die den aktuellen diakoniewissenschaftlichen Forschungsstand reflektiert und hier die Rolle der Theologie in diakonischer Begründung deutlicher profiliert. Die inhaltliche und argumentative Verzahnung dieser drei Perspektiven macht den vorliegenden Band zu einem für die Forschung weiterführenden Beitrag innerhalb der Diskussion um das Profil der Diakonie, der über bisherige Arbeiten zum Thema gerade wegen der reflektierenden Zuordnung von soziologischen Theorien zu theologischen Argumentationen hinausgeht. Mit der Verbindung der drei perspektivischen Ebenen, hinter denen jeweils Theoriegebäude stehen, wird nach M. der Versuch unternommen, der »Selbstentkernung der kirchlichen Diakonie« (41) entgegenzuwirken und die Wiedergewinnung theologischer Argumentation in der Diakonie nach vorne zu bringen. In Nuancen sind dann die Perspektiven der Autoren aber doch jeweils andere: Während bei den Beiträgen M.s eher öfter eine historisch bzw. dezidiert ekklesiologisch argumentierende Begründung und thematische Seitenblicke auf diverse Politikfelder im Verhältnis Staat-Kirche vorkommen, werden die Artikel von E. mehr von organisationssoziologischen Positionen bestimmt und wird die Anschlussfähigkeit zu ökonomischen Denkfiguren gesucht.
Durch die konsequente Einbeziehung des zivilgesellschaftlichen Denkens als soziologischer Basis in die Positionierung der Diakonie auf dem Gebiet des modernen Sozialmarktes schließen die Autoren eine argumentative Lücke, die in der Literatur der letzten Jahre zwar in verschiedenen diakoniewissenschaftlichen Artikeln immer wieder am Rand inhaltlich mit bedacht wurde, aber nicht auf einer wie im vorliegenden Fall vertretenen prinzipiellen Weise die Grundlage diakonischer Positionierung bildet. Einen der Gründe dafür, dass das Modell der Zivilgesellschaft bzw. des Kommunitarismus so bedeutend geworden ist, benennt M. damit, dass dieses Politikkonzept den Hintergrund der »steuerungsbezogenen Neuordnung des Sozialstaats« (24) bildet. Damit einher geht nach Auffassung M.s die Veränderung von Subsidiaritätsvorstellungen, wodurch dem Dritten Sektor eine »wohlfahrtsproduzierende Relevanz zugesprochen« (25) wird. Bei diesem »Formwandel« (25) erhält darum das bürgerschaftliche Engagement eine enorme Bedeutung. Die Einbettung der Kirche bzw. der Diakonie wird hierbei von beiden Autoren als eine po sitive Entwicklung und Chance gewertet, denn unter dem zivil-gesellschaftlichen Fokus wird die Einbettung der Diakonie in gemeinwesenorientiertes Handeln deutlich (172).
So sind Diakonie und Kirche beteiligt an nachbarschaftlichen und stadtteilnahen Versorgungsnetzwerken und können sich im regionalen Kontext zu sozialen Dienstleistern neben den ökonomischen Gegebenheiten profilieren. Das Politik-Konzept der Zivilgesellschaft bildet damit einen doppelten Rahmen: Einerseits macht es die Transformation des Sozialstaates als Veränderung von Steuerungslogiken zugunsten eines ökonomischen Schwerpunktes evident und gleichzeitig bildet das Konzept die Möglichkeit zur Etablierung von ökonomieunabhängigen Positionierungen für die Wohlfahrtspflege. Genau diese Chance, die in einer die ökonomischen Rahmenbedingungen nicht leugnenden, aber die sich daraus ergebenden Profilmöglichkeiten der Diakonie auslotenden Argumentation liegt, zu beschreiben, bildet die Mitte des vorliegenden Bandes. Damit weisen die Autoren der Diakonie den Weg wieder zurück in ein theologisches Fahrwasser und die Theologie/Sozialethik gewinnt an Boden gegenüber der einseitig ökonomisch ausgerichteten Argumentation des Sozialmanagements. Bei Anerkennung des veränderten sozialpolitischen Steuerungsmechanismus’ wird dennoch der Weg zu einer diakonischen Begründung angestrebt, die an den Rändern der Ökonomie angesiedelt wird, denn – so E.: »Nächstenliebe ist Ausdruck einer Haltung, die sich von einem rein monetär motivierten Handeln distanziert.« (258 f.) Hier liegt die eigentliche Wende innerhalb der diakoniewissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre.
Für die Seiten der Verbands- wie auch der Unternehmensdiakonie war in der Vergangenheit zu konzedieren, dass sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion eher einseitig auf Argumentationen des Sozialmanagements konzentriert hatte und von der ökonomischen Seite aus den Paradigmenwechsel (bzw. den »Formwandel«, 11) zu bewältigen suchte. Dabei geriet die soziologische Theorie in vielen diakonischen Beiträgen der vergangenen Jahre eher in den Hintergrund. Diese Einseitigkeit ist – so der Grundtenor in diesem Band – ergänzungsbedürftig um die sozialethische und um die institutionenökonomische Dimension. Die Autoren kommen hier zu dem Ergebnis, dass eine Integration theologischer Wertegrundlagen in das Diakoniemanagement noch nicht gelungen ist (229).
Nach E. (164) war und ist eine »Funktionalisierung der Theologie« zu konstatieren, wonach sich die Theologie den zweckrationalen Ansätzen angedient hatte. Auch der Rückgriff auf eine Leitbildkultur mit der Betonung einer Werteebene kann da nicht befriedigen. Die Kernfrage benennt E.: »Wie kann die Umsetzung christlicher Orientierungen in einer sozialwirtschaftlichen Organisation unter der Bedingung von quasi-Sozialmärkten gelingen?« (205) Für beide Autoren ist die Rolle der Theologie im diakonischen Begründungskontext neu zu bestimmen. Im Rückgriff auf die neuere diakoniewissenschaftliche Diskussion wird als Ergebnis festgehalten, dass die Diakonie sich nicht mehr rein binnentheologisch (170) begrün den lässt. Hier muss notwendigerweise – um also im zivilgesellschaftlichen Diskurs anschlussfähig zu sein (R. H.) – der Dialog »christlicher Begründungszusammenhänge mit den ›Begründungszusammenhängen fremder Diskurs- oder Kulturpraktiken‹« gesucht werden (170). Diese Erkenntnis markiert ein Ergebnis der aktuellen diakoniewissenschaftlichen Diskussion und bildet für die Theologie eine ungewohnte und neue Dimension interdisziplinären Denkens.
Dem Band gelingt eine in sich konsistente Gesamtsicht, indem die bisherige Diskussion um die Transformation des Sozialstaates und die veränderte Rolle der Wohlfahrtsverbände gebündelt und verdichtet wird. In vielfacher Weise wird hierbei die eigene Argumentation unter Bezugnahme auf die sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Literatur aufgebaut, die sehr kenntnisreich verwertet wird und somit der Band auch in diesem Punkt der Literaturanalyse über die oft im binnentheologischen Diskurs bleibende diakoniewissenschaftliche Literatur hinausgeht. Gleichzeitig wird mit dem Begriff der Diakonie als »hybride Organisation« und unter Einbeziehung des politikwissenschaftlichen Rahmens eine Gesamtpositionierung im System der Sozialwirtschaft deutlich. Die Organisationen des Wohlfahrtssektors müssen sich auf der Basis der Transformation des Sozialstaates deutlich zwischen den Sektoren Staat und Markt hin und her bewegen. Dadurch werden sie zu hybriden Organisationen, die sich nach E. in der Grauzone der Systeme befinden (245) und den unterschiedlichen Ansprüchen und Steuerungsmodi ausgesetzt sind. Hierin liegen diverse Identitätskonflikte verborgen, die von der Diakonie als Organisationsform u. a. mit einem Sozialmarkt-Opportunismus beantwortet werden. Hybridisierung als Konzept versucht in diesem Kontext, die Dominanz einer vorherrschenden Logik zu hinterfragen und mit den »Bedürfnissen anderer Sichtweisen abzugleichen« (253). In Anwendung der zivilgesellschaftlichen Akteursrolle kann es der Diakonie gelingen, eine Sensibilität für nichtökonomische Logiken und Motive zu gewinnen (255), und E. vermutet, dass darüber auch ein Wettbewerbsvorteil zu erringen sei, der in einem ethisch qualifizierten Dienstleistungsangebot liegt.
Da die einzelnen Buchbeiträge zwischen den beiden Autoren ab­gestimmt sind und sachlich jeweils an thematische Einzelaspekte des Vorherigen anknüpfen, ergibt sich ein Gesamtduktus des Bandes. Im Ergebnis stimmen beide Autoren darin überein, dass die Diakonie wie auch die Kirche zivilgesellschaftliche Akteure bilden, die »Seismographen gesellschaftlicher Notlagen« sind. (177) Das Profil der Diakonie liegt in der konsequenten Wahrnehmung und der »Weiterentwicklung sozialanwaltschaftlichen Engagements« (139).
Als zentrales Thema ist den Autoren an einer Positionierung der Diakonie im Kontext der gewandelten Wohlfahrtspolitik gelegen. Beide Autoren versuchen hierzu eigene Akzentsetzungen. Geht es M. eher um die Perspektive des Wohlfahrtsverbandes, wie er sie in den ersten beiden Artikeln (19–39.40–74) auch mit historischer und theologisch-ekklesiologischer Reflexion versucht und damit die Diakonie im Schnittfeld von historisch gewachsenem Sozialstaat und Kirche verortet, so will E. eher den Aspekt der Organisationsstrukturen unter den Bedingungen des Wandels betonen. Auf dem Feld der Organisationen treffen für ihn unterschiedliche Steuerungslogiken aufeinander (77). In der Diakonie lassen sich drei Steuerungen ausmachen, die miteinander verzahnt werden müssen: ökonomische Rationalität, Professionshandeln und theologische Programmatik (77). Aufgrund der Marktsituation wurde eine Profilbildung und Werteorientierung notwendig, die eine Kongruenz zur Ökonomisierung bilden muss. Für E. steht letztlich unter dem Druck des Sozialmarktes »die Einheit der Diakonie als Ganzes auf dem Spiel« (96).
Vor dem Hintergrund der Prozesse von Ökonomisierung und Organisationswandel betonen beide Autoren den Aspekt der »An­waltschaft« der Diakonie, den sie gegenüber dem Wert der »sozialen Dienstleistung« profilieren wollen.
Den Hintergrund benennt E. mit der Vermutung, dass »die sozialanwaltliche Funktion der Diakonie durch die Ökonomisierung in Frage gestellt wird« (77). Die Diakonie ist also herausgefordert, inmitten der Ökonomisierung nicht ihr Profil zu verlieren, und muss daher überlegen, inwieweit sie sich auf den geänderten Rahmen der Sozialpolitik einlässt. Bis hierher würden nun auch die Verteidiger eines Mainstream-Sozialmanagements in der Diakonie mitgehen. Deutlicher als in der Management-Literatur findet nun bei den Autoren des vorliegenden Bandes der Begriff der Anwaltschaft Anwendung und gerade damit findet das sozialethische Moment innerhalb der Diakonie für die Autoren Berücksichtigung, weil sich die Diakonie mit der Sozialanwaltschaft »in kritisch-konstruktivem Dialog mit Staat und Gesellschaft« befindet (80). Gleichzeitig spiegelt sich hier nach E. ein »zentrales Motiv diakonischen Handelns wider: das Motiv des Schutzes sozial benachteiligter Menschen und das Eintreten für deren Rechte« (80), das von alttestamentlichen Rechtsvorstellungen abgeleitet werden kann. Gerade die theologischen Begründungsmuster in gesamtbiblischer Perspektive zeigen die Zielvorgaben von Solidarität und Befähigung zur Teilhabe auf, die den Auftrag der Diakonie als Teil der Kirche ausmachen. Für die Diakonie heißt das: Man darf die Orientierung an »liebender Sorgearbeit nicht aufgeben dürfen« (267). Hier liegt der Kern der gesellschaftlichen Verantwortung der Diakonie, den die Beiträge von M. deutlich in Richtung Antidiskriminierung und politischer Intervention betonen. Kirche und Diakonie haben Anteil an den Aufgaben einer Gemeinwohlorientierung der Gesellschaft (296), den sie eher diskursiv einzubringen haben.
Beiden Autoren geht es um das Aufdecken normativer Faktoren sowie den Prozessen der Steuerung, da die Ökonomisierung auf einer anderen Steuerungslogik fußt. So stellt M. fest, dass die verfassten Kirchen Strategien verfolgen, die stärker steuernd eingreifen (68). Dabei interessiert sich M. sehr klar für das kirchliche Arbeits- und Tarifrecht, das er konsequent vor dem Hintergrund des europäischen Rechtes versteht. Besonders auf diesem Gebiet enthalten die Arbeiten von M. sehr interessante Analysen und Bewertungen. In verschiedenen Beiträgen reflektieren die Autoren die diakonische Organisationsform im Spannungsfeld geistlicher Orientierung und organisationaler Aspekte. In der Art und Weise der Organisation sehen beide einen möglichen Weg, auf Ökonomisierung und die sozialpolitische Transformation des Sozialstaates zu reagieren.
Als Gesamtbewertung des Bandes lässt sich das Ergebnis festhalten, dass hier ein theoretisch sehr fundiertes Fachbuch vorliegt, das die wissenschaftliche Diskussion sehr differenziert spiegelt und in wichtigen Aspekten auch voranbringt. Es ist den Autoren gelungen, die ineinander verflochtenen Argumentationen unterschiedlicher Fachdisziplinen diskurstheoretisch miteinander zu verbinden. Die Lektüre fordert die Konzentration des Lesenden heraus, aber wissenschaftlicher Fortschritt ist kaum ohne die Mühsal eines konstruktiven Mitdenkens erreichbar.