Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

863–865

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vogt, Markus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie der Sozialethik.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 328 S. = Quaestiones disputatae, 255. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-02255-5.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Sammelband enthält Beiträge mehrerer Fachvertreter der katholischen Soziallehre. Er befasst sich mit Grundlagen des Faches und vor allem mit den Verunsicherungen, die für das Fach aus heutigen sozioreligiösen Umbrüchen, aus Zweifelsfragen in der eigenen Disziplin sowie aus binnenkirchlichen Gründen entstanden sind. Die Einleitung des Bandes, verfasst von M. Vogt und weiteren Autoren (7-20), erinnert daran, dass die Soziallehre der katholischen Kirche herkömmlich eine allgemeine rationale Nachvollziehbarkeit ihrer Aussagen intendierte, um für die gesamte Gesellschaft Leitideen darzulegen. Sie habe auch für Nicht-Gläubige »verbindlich« sein wollen (8) – ein Anspruch, der aus Sicht des Rezensenten von vornherein zu dominant und kulturell sowie sozialethisch inadäquat gewesen ist. In Deutschland sei die römisch-katholische Soziallehre nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu zur »offiziellen Staatsdoktrin« geworden (8). In der Gegenwart habe sich die Chance auf breite Rezeption in Staat und Gesellschaft drastisch reduziert, auch weil das neoscholastische Naturrecht unhaltbar geworden sei. In der katholischen Soziallehre entstehe jedenfalls ein Bedürfnis nach einem neuen »klaren theologischen Profil« (12). Jedoch sei ungewiss, welche theologischen Ansätze hierfür tatsächlich in Frage kämen (20).
Ungeachtet des Bemühens um theologische Rückbindung trifft man in diesem Band mitunter sogar eine gewisse Kirchendistanzierung an. Es habe zur Schattenseite der katholischen Soziallehre gehört, sich zu sehr auf lehramtliche Texte zu stützen, um hierdurch für sich selbst »höhere« kirchliche Autorität und Legitima-tion zu reklamieren (M. Möhring-Hesse, 68). Zu den kirchenkritischen Facetten des Buches gehört das Zugeständnis, dass die katholische Kirche sich erst viel zu spät auf die Menschenrechtsidee und auf die moderne Demokratie eingelassen hat. Gegenwärtig schlage ihr Versäumnis, den guten Sinn und die für sie selbst nützlichen Effekte der Demokratie erst zu spät erkannt zu haben, auf sie selbst zurück (Th. Söding, 172). Mit der hochbelasteten Beziehung der römisch-katholischen Doktrin zu Menschenwürde und Menschenrechten befasst sich in einem ausführlichen Beitrag der ka­tholische Politikwissenschaftler R. Uertz (279-299). Ihm zufolge waren innerkatholisch im Jahr 1933 durchaus Überlegungen anzutreffen gewesen, die die persönlichen Grundrechte bejahten. In der katholischen Kirche und Geisteswelt fand dies aber keinerlei Gehör, da menschenrechtsorientiertes Denken mit der neuscholastischen Staats- und Naturrechtslehre kollidierte (287) und weil die Kirche sowie die katholische Zentrumspartei 1933 an der Wahrung eigener Interessen, aber nicht an einer demokratischen Verfassung und an Grundrechten interessiert waren (280). Heutige Probleme mangelnder Akzeptanz individueller Grundrechte durch die katholische Kirche, die sich unter anderem im kirchlichen Arbeitsrecht manifestieren, bleiben in dem Aufsatzband dann allerdings ausgeklammert.
Der Dogmatiker Peter Hünermann legt dar, für eine erneuerte theologische Grundlegung der katholischen Soziallehre sei die Konstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils nützlich (23-62). Hünermann spricht bei seinen Überlegungen pauschal von »christlicher Sozialethik« und überspielt hierdurch begrifflich, dass es sich lediglich um eine katholische und nicht um eine übergreifend christliche Theorie handelt. Die Bejahung der Menschenwürde durch das Konzil erfolgte ihm zufolge aufgrund christologischer Begründung (36 f.). In seiner Darstellung schimmert durch, wie schwer es der Kirche immer noch fällt, die Menschenwürde von Atheisten zu akzeptieren. Sie hält Atheismus für menschenwürdewidrig, insofern »mit dem Atheismus öfter schwere Verletzungen der Würde des Menschen auftreten« (41). Eine solche Betrachtung schiebt die humanistischen Impulse agnostischen und atheistischen Denkens freilich beiseite und wird dem heutigen weltanschaulichen Pluralismus nicht gerecht.
Davon abgesehen räumt Hünermann ein, dass das Lehramt in der Vergangenheit geirrt hat: »Kirchliches Leben in der Geschichte ist nicht frei vom Bösen« (48). Bei mehreren Autoren des Bandes spielt der Gedanke eine Rolle, die Kirche möge aus ihren Irrtümern und aus geschichtlicher Erfahrung lernen. Gegenüber der überlieferten Naturrechtslehre und Neuscholastik bedeutet diese Sicht einen Bruch. Ein wichtiger Denkanstoß, der in die Richtung der Deutung von Kirchengeschichte als »Lerngeschichte« zielt, stammt von dem Münchner Moraltheologen Konrad Hilpert (an ihn anknüpfend: R. Uertz, 297). In dem Aufsatzband wird das Bemühen, auf katholischer Seite zu einem gegenwarts- und lernoffenen Selbstverständnis zu finden – einer der Autoren, H.-J. Sander, spricht von »Abduktion« (275 f.) – dann allerdings noch zusätzlich theologisch gerechtfertigt. Die Kirche könne von der Welt lernen, weil sich in ihr Gottes Heil verwirkliche (M. Möhring-Hesse, 86). Ob diese unter Berufung auf Ratzinger vorgetragene zusätzliche theologische Legitimierung wirklich erforderlich ist, steht dahin.
Bei der Suche nach theologischem Profil rekurrieren zwei Beiträge auf das Alte und auf das Neue Testament. Dies komme auch der Kontextsensibilität theologischer Ethik zugute (M. Heimbach-Steins, 144). Ferner erfolgt ein Rückgriff auf Augustinus, der in das eher unklare Fazit mündet, heute sei nach einer »Psychologie der Gnade in sozialethischen Strukturen« zu suchen (P. Schallenberg, 210). An anderer Stelle wird der Vorschlag, die Soziallehre auf Augustinus zu stützen, mit guten Gründen skeptisch kommentiert. Das kritische Votum erinnert an die individualistischen, geschichtstheologisch-dualistischen, anthropologisch pessimistischen sowie integralistischen Züge bei Augustinus. Institutionen- sowie strukturethische Reflexionen können schwerlich an ihn anknüpfen (G. Kruip, 213 ff.). Insgesamt werden zu der Leitfrage des Sammelbandes, dem Bemühen um ein neues theologisches Profil katholischer Soziallehre, ganz verschiedene dogmatische Bezugspunkte ge­nannt. Sie reichen von einer an Ratzinger orientierten Christologie und Offenbarungstheologie (A. Küppers, 318 ff.; kritisch hierzu H.-J. Sander, 254 ff.) bis zur Inkarnationslehre (14) und Pneumatologie (I. Gabriel, 251).
Ob sich durch solche theologischen Legitimierungen die externe und interne Akzeptanz katholischer Soziallehre steigern oder wiedergewinnen lässt, ist eine offene Frage. Die Retheologisierung wirkt zum Teil apologetisch und soll offensichtlich den Legitimationsverlust kompensieren, der für die römisch-katholische Soziallehre zurzeit eingetreten ist. Streckenweise bleibt unklar, ob oder inwieweit die in dem Sammelband genannten theologischen Rückbindungen die argumentative Durchschlagskraft sozialethischer Reflexionen tatsächlich zu erhöhen vermögen.