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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

857–859

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dabrowski, Martin, Wolf, Judith, u. Karlies Abmeier[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gesundheitssystem und Gerechtigkeit

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2012. 194 S. m. 19 Abb. u. 5 Tab. = Sozialethik konkret. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-506-77534-4

Rezensent:

Arne Manzeschke

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Dietz, Alexander: Gerechte Gesundheitsreform? Ressourcenvergabe in der Medizin aus ethischer Perspektive. Frankfurt a. M. u. a.: Campus Verlag 2011. 471 S. m. Abb. = Kultur der Medizin, 33. Kart. EUR 51,00. ISBN 978-3-593-39511-1.


Gesundheit wird im Volksmund gerne als ›das Wichtigste‹ angewünscht. In der Sozialphilosophie gilt sie als ein »transzendentales Gut« (W. Kersting), ohne das ein eigenes Lebens nur schwer realisierbar erscheint. Es gibt kein Menschenrecht auf Gesundheit, sehr wohl aber billigt Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jedem Menschen »Anspruch auf eine Lebenshaltung [zu], die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet«. Wie kann das gewährleistet und auf gerechte Weise organisiert werden? Angesichts der Globalisierung von Krankheiten (z. B. AIDS, SARS, Ebola) und steigender Kosten für die medizinische Versorgung einer größer und älter werdenden Bevölkerung auf nationaler wie internationaler Ebene werden diese Fragen immer drängender. Auch wenn diese Global-Health-Perspektive in der politischen und ethischen Debatte zunehmend an Gewicht gewinnt, sind doch viele Fragen quasi ›subsidiär‹ auf der Ebene der nationalen Gesundheitssys­teme, ihrer Regulierungen und Begründungen zu bearbeiten.
Die zwei anzuzeigenden Werke widmen sich schwerpunktmäßig dem deutschen Gesundheitssystem und seiner gerechten Ge­staltung. Gerechtigkeit ist ebenfalls ein großes Wort, das jedoch existenziell und konkret wird, wenn sie mit Gesundheit in Verbindung steht. Nicht von ungefähr sind Gerechtigkeitsfragen im Gesundheitswesen für Gerechtigkeitstheorien heute so etwas wie der Lackmustest ihrer Anwendbarkeit und Tragfähigkeit.
Alexander Dietz, Privatdozent am Institut für Systematische Theologie in Heidelberg und Referent für Diakonische Kultur und Armutspolitik der Diakonie in Hessen, versteht seine Habilitationsschrift als notwendige Vorklärungen und Beitrag zu einem breiteren ethischen Diskurs, der noch zu führen sei. Das klingt bescheiden, ist aber nicht weniger als die konzise Strukturierung des Problemfeldes anhand der zentralen Begriffe. Keine Theorie also, aber das notwendige begriffliche und methodische Werkzeug hierfür.
D.s »Vorklärungen« beziehen sich auf vier Bereiche, mit denen er systematisch das Feld absteckt. In Anschluss an Herms versteht er Politik, Wirtschaft und Medizin als funktionale Systeme, die zur (steigerbaren) Wohlgeordnetheit der Gesellschaft beitragen und dem Menschen ein bestimmungsgemäßes Leben eröffnen sollen. Dies geschieht in christlicher Lesart, in der der Mensch als von Gott gerechtfertigter und so mit genuiner Würde Begabter verstanden wird. Im Folgenden wird Ethik als angewandte Anthropologie (Trillhaas) durch die drei Handlungsbereiche konjugiert, wobei jeweils handlungsleitende Prinzipien und Kriterien eingeführt und fruchtbar gemacht werden für die Frage nach der Gestalt eines gerechten Gesundheitswesens.
Die göttliche Bestimmung des Menschen zu einem Leben in Würde erschließt alle folgenden Prinzipien, Kriterien und feldspezifischen Handlungen. Dem »Anspruch auf ein Leben in Würde« (378) haben eine an Gerechtigkeit orientierte Politik und eine rationale Ökonomie durch die Verteilung von medizinisch sinnvollen und notwendigen Leistungen zu dienen. D. vermeidet anthropologische Essentialismen und hält so die Diskussionen offen für eine breite gesellschaftliche Debatte. In wünschenswerter Klarheit legt er seine theologischen Prämissen dar, die er in ihren Implikationen für allgemein anschlussfähig ansieht. Gleiche diskursive Transparenz fordert er auch von anderen Diskutanten in diesem hochkontroversen und von Partikularinteressen durchzogenen Feld ein. Zweifellos ist es ein Verdienst dieser im besten Sinne systematischen Arbeit, dass sie die Komplexität des Themenfeldes auf ein notwendiges und differenziertes Maß treibt und so eine am Maßstab der Gerechtigkeit orientierte Reform des Gesundheitswesen konturieren hilft, ohne freilich die hierfür nötigen – und längst überfälligen – gesellschaftlichen Debatten zu unterschlagen, die von demokratisch legitimierten Gremien und multidisziplinär denkenden Experten begleitet werden müssen (368 f.).
Kritisch ist an D. die Frage zu richten, wie die Bestimmung zu einem eigenen Leben in Würde und in Beziehung mit sich selbst, den Anderen und Gott in einem Gesundheitsmarkt zu denken ist, bei dem eigene Wünsche, Bedürfnisse und Notwendigkeiten immer schwerer zu unterscheiden sind von solchen, die medizinisch, technisch, ökonomisch angereizt und strukturell umgesetzt werden. Über- und Unterversorgung koexistieren im deutschen Gesundheitswesen gleichermaßen und sind Effekte vielschichtiger, nicht allein ökonomischer Interessenkonstellationen, die zwar häufig verbal den Menschen in den Mittelpunkt stellen, faktisch aber gerade ihn aus dem Blick zu verlieren drohen. Das von D. zu Recht angemahnte Maß des Menschlichen bleibt als Zielbegriff in seiner konkreten Umsetzung Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen, aber auch dezidierter Entscheidungen in einer pluralen Gesellschaft.
Das Kriterium »Rationierung« wirkt etwas fremd in dieser Systematik; D. verengt damit sein an sich weiteres Verständnis von Ökonomie auf den ›ersten Hauptsatz‹ der mainstream-economics, den Umgang mit knappen Ressourcen. Ein capability-Ansatz (Sen/Nussbaum) und ein Kriterium der Befähigung könnten hier neue ökonomische Perspektiven eröffnen.
Der zweite Band dokumentiert einen Ausschnitt dieser gewissermaßen enggeführten Debatte. Als Tagungsdokumentation steht er in der Tagungsreihe »Sozialethik konkret«, die von der Katholischen Akademie Wolfsburg (Judith Wolf), der Katholisch-sozialen Akademie Franz-Hitze-Haus (Martin Dabrowski) sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Karlies Abmeier) verantwortet wird. Die Veranstalter und Herausgeber haben ebenfalls eine Reform des deutschen Gesundheitswesens im Blick und lassen diese anhand von vier Themenfeldern diskutieren: 1) Die Situation und Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens, 2) Gerechte Ressourcenallokation, 3) Das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, 4) Konkrete Schritte zur Reform. Die vier Hauptreferate (Alfons Runde, Gerhard Kruip, Rüdiger Henkel und Ulrike Kostka) werden jeweils durch zwei Kommentare flankiert, die mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die Vielschichtigkeit und Pfadabhängigkeit möglicher Reformschritte herausarbeiten. Das kompetent besetzte Tableau der Beitragenden macht die verschiedenen Perspektiven der Akteure (z. B. Marburger Bund, Caritas, BMG) deutlich und kontrastiert sie mit den Beobachtungen der Forschung (z. B. Ethik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitswissenschaften). Es scheint bei allen Differenzen Konsens zu sein, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht alles Erwünschte wird leisten können, weshalb Rationierung als die konsequente Antwort auf die entstandenen Knappheitsprobleme erscheint. Allein die Ausnutzung von sogenannten Effizienzreserven wird das nicht leisten können, also müsse sowohl die Diskussion um Rationierung wie auch ihre reale Praxis enttabuisiert werden (besonders Tauchmann, 187). Diese starke These wird dann leider nicht konsequent diskutiert und sozialethisch konkretisiert. Hier wäre ein Anschluss an die von Dietz erarbeitete Differenzierung des Knappheitsproblems wünschenswert, um sich nicht vorschnell Denk- und Handlungsoptionen zu verstellen.
Gleichwohl zeigt auch diese Tagungsdokumentation zwei wich­tige Punkte für die aktuellen und noch anstehenden Diskussionen um ein gerechtes Gesundheitswesen: Erstens haben theologische und sozialethische Reflexionen hier ein genuines Aufgabenfeld, zweitens verfügt die Sozialethik über ein hohes Reflexionsniveau, das sie als Gesprächspartner in den Debatten unentbehrlich macht– ein Anspruch, den sie intellektuell und strukturell dringend erhalten sollte.