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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

855–857

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Borchardt, Ulrike, Dörfler-Dierken, Angelika, u. Hartwig Spitzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedensbildung. Das Hamburger interdisziplinäre Modell.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2014. 325 S. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-8471-0244-1.

Rezensent:

Thomas Heller

Frieden ist nichts, was man haben oder nicht haben könnte – sondern etwas, das es immer neu zu erringen, zu gestalten und zu bewahren gilt. Diese gewichtige Einsicht der Friedensforschung wird bereits durch einen ersten Blick in den von Ulrike Borchardt (Politikwissenschaft), Angelika Dörfler-Dierken (Evangelische Theologie) und Hartwig Spitzer (Physik, i. R.) herausgegebenen Sammelband »Friedensbildung« illustriert. Im Hintergrund der Publikation steht die traditionsreiche Friedensforschung und -bildung der Universität Hamburg (s. u. a. das dortige Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik oder seit 2006 das ebenda angesiedelte Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung), im Besonderen dabei das seit 2010 (mit Vorläufern ab 2008) existierende, vom interdisziplinären »Initiativkreis Friedensbildung« im Rahmen eines freien Wahlbereichs für Studierende aller Fachbereiche angebotene Lehrangebot »Friedensbildung/Peacebuilding«. Zu diesem einjährigen Curri-culum gehört neben einem Theorie- und einem Anwendungs-seminar sowie einer Sommeruniversität auch eine jeweils im Wintersemester stattfindende Ringvorlesung »Friedensbildung – Grundlagen und Fallbeispiele«, deren Vorlesungen die Basis des be­sprochenen Bandes bilden. Die Publikation nimmt dabei sowohl Makro-, Meso- als auch Mikroebenen von Friedensbildung in den Blick und vertritt ein praktisches wie reflexives Verständnis; entsprechend wird Friedensbildung als »Kultivierung der Gesellschaft und […] Arbeit an der eigenen Biografie [verstanden] – ohne die theoriegeleitete Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten friedlicher Klärung […] politischer und sozialer Konflikte zu vernachlässigen« (9, zitiert aus der Beschreibung des Lehrangebots).
Der Sammelband gliedert sich in fünf, jeweils mit einer kurzen Einführung eingeleitete Kapitel. Im ersten Kapitel »Ermunterung zum Frieden« finden sich Beiträge zur Friedensbewegung der 1980er Jahre (Angelika Dörfler-Dierken), zum Friedensengagement von Hamburger Naturwissenschaftlern (Hartwig Spitzer) sowie zur Erkennung sog. Kriegsaufreizung (Angelika Dörfler-Dierken), während das zweite Kapitel »Konfliktfelder und Konfliktdynamiken« Beiträge zu sogenannten neuen Kriegen und humanitär begründeten Interventionen (Wolfgang Schreiber), zur Debatte um Kriegs- bzw. Konfliktprävention (Volker Matthies), zur Migrationspolitik der Europäischen Union (Ulrike Borchardt) sowie zu Gewalt in der Lebenswelt von Jugendlichen in Entwicklungsländern (Sabine Kurtenbach) beinhaltet. Das dritte Kapitel »Konstruktive Konfliktbearbeitung« besteht aus Beiträgen zur Friedensordnung in Europa nach 1945 (Cord Jakobeit), zum Friedensprozess in Nord-irland (Nils Zurawski), zur Bedeutung von Mediation für eine friedliche Bearbeitung von Konflikten mit spezifischem Blick auf den Transnistrien-Konflikt (Mariska Kappmeier/Alexander Redlich) sowie zum Konzept der Responsibility to Protect (Sven Bernhard Gareis). Das vierte Kapitel »Gewaltprävention und Gewaltnachsorge« widmet sich dann Gewaltprävention im schulischen Kontext (Dieter Lünse/Katty Nöllenburg) und der Arbeit mit ehemaligen Kindersoldaten in Uganda (Stefanie Woynar/Fionna Klasen), während das fünfte Kapitel »Versöhnungsarbeit« zunächst theoretische Überlegungen zum Konzept der Restorative Justice vorstellt (Fernando Enns), diese dann in der Praxis am Beispiel des sogenannten Täter-Opfer-Ausgleichs bzw. der sogenannten Gemeinschaftskonferenzen diskutiert (Otmar Hagemann) und mit Ausführungen zu friedensbezogenen künstlerischen Forschungs- und Lernformaten, speziell mit Blick auf einen im Rahmen der Sommeruniversität »Kunst und Frieden« (2011) durchgeführten Performance-Workshop, schließt (Sofie Olbers).
Die besprochenen Themen, diskutierten Fragestellungen und genutzten Zugänge weisen die Publikation und das zugrundeliegende Lehrangebot in der Tat als interdisziplinär aus und zeigen die beeindruckende weltweite Vernetzung der an der Universität Hamburg geleisteten Friedensforschung und -bildung auf. Die durch Fotos, Grafiken, Plakate, Tabellen etc. ergänzten Beiträge sind informativ, positionsstark und gut lesbar (wobei in einem Fall allerdings leider nur die Folien der Präsentation abgedruckt wurden). Neben gelungenen eher konzeptionellen, aktuelle Begriffe oder Debatten diskutierenden Beiträgen, die den jeweiligen Diskurs wahrnehmbar befruchten dürften (s. u. a. die Beiträge von Volker Matthies und Wolfgang Schreiber), sind zahlreiche eher praxisorientierte, konkrete aktuelle Friedensbildungsprozesse erörternde Beiträge positiv herauszustellen, die oft von ausgewiesenen Praktikern verfasst wurden (s. u. a. die Beiträge von Dieter Lünse/ Katty Nöllenburg und Stefanie Woynar/Fionna Klasen). Der Sammelband »Friedensbildung« ist derart stark auf gegenwärtige Pro blemstellungen bezogen (s. auch den aufschlussreichen Beitrag von Ulrike Borchardt), wobei sich auch die profunden historischen Beiträge durch weiterführende Perspektiven auszeichnen (s. die Beiträge von Angelika Dörfler-Dierken und Manfred Spitzer). Positiv zu erwähnen sind auch die anregenden Fragen und Lese-empfehlungen am Ende eines jeden Beitrags, die der Publikation Elemente eines Studien- oder Arbeitsbuches verleihen.
Einige Anmerkungen sind allerdings mit Blick auf die Gesamtkonzeption zu treffen. So vermag die vorgelegte Gliederung mit den o. g. fünf Kapiteln nicht in allen Teilen zu überzeugen, lassen sich doch verschiedene Beiträge mehreren Kapiteln zuordnen (s. exemplarisch die kenntnisreichen Ausführungen von Sven Bernhard Gareis zur Responsibility to Protect). Auch die getroffene Auswahl der jeweiligen Themen, Fragestellungen und Zugänge bleibt weitgehend offen: Warum geraten zwar Nordirland oder Uganda, nicht aber Osttimor oder Südafrika in den Blick? Warum finden sich Beiträge zu mediativen oder künstlerischen, nicht aber zu interkulturellen oder (inter-)religiösen Lernprozessen? Warum werden Konzepte wie Konfliktprävention oder Restorative Justice, nicht aber Inklusion oder Reconciliation diskutiert? Die Herausgeber betonen zwar in ihrer Einleitung nachvollziehbar und treffend, dass die Beiträge »sich auf Teilperspektiven und Fallbeispiele [konzentrieren], ohne den Anspruch einer zusammenhängenden Theoriebildung oder Theoriediskussion« (12), aber hätte ein umfassender, eine Einzeichnung der einzelnen Beiträge ermöglichender Theoriekontext nicht in einem ausführlicheren Vor- oder Nachwort zumindest skizziert werden können? Dort hätten dann auch bewusst offengehaltene Leerstellen benannt werden können, wo­bei die Kapiteleinleitungen hierfür bereits gute Ausgangspunkte bieten würden. Schließlich bleibt zu fragen, ob die im Sammelband verwirklichte Interdisziplinarität (s. o.) nicht durch ein noch intensiveres Gespräch zwischen Natur- und Geisteswissenschaft sowie Praxis noch weiter profiliert werden könnte, so wenn zum Beispiel in mehreren Beiträgen an ein- und derselben Fragestellung gearbeitet wird.
Diese Punkte können den Lektüregewinn keinesfalls schmälern. Die Herausgeber legen mit »Friedensbildung« eine engagierte, weitblickende und für alle am Thema »Frieden« Interessierten und auf Frieden hinarbeitenden Personen in Wissenschaft und Gesellschaft wichtige Publikation vor. Dem Werk wie der Hamburger Friedensforschung und -bildung an sich ist vor diesem Hintergrund wohlwollende Resonanz und weitreichende Wirkung zu wünschen.