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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

853–855

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stoffels, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Im Angesicht der Opfer. Christliches Reden von Vergebung.

Verlag:

Rheinbach: CMZ-Verlag 2014. 417 S. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-87062-152-0.

Rezensent:

Walter Klaiber

Dieses faszinierende Buch ist die Druckfassung der Wuppertaler Dissertation eines Pfarrers, die dieser in den ersten Jahren seines Ruhestandes gefertigt hat. Die drei Hauptteile der Arbeit zeigen ihre Spannweite: A. Zwischenmenschliche Wege der Verzeihung, Entschuldigung und Vergebung (19–108) geht den philosophischen und psychologischen Aspekten der Vergebung von der Antike bis heute nach. B. Biblische Wege der Vergebung (109–246) erhebt anhand von Lk 15,11–32, Gen 4,2–16 und ausgewählten Psalmen den biblischen Befund, und C. Theologische Wahrnehmungen und Klärungen (247–378) bietet eine sprachlich sehr dichte Synthese und Weiterführung der Untersuchung.
Es ist nicht möglich, hier den intensiven Denkweg, den S. geht, im Einzelnen nachzuzeichnen. Wir müssen uns mit einigen Schlaglichtern begnügen. Im ersten Teil stehen Überlegungen aus der antiken Philosophie und Staatslehre, Beobachtungen zu heutigem Verhalten (A.6. Entschuldigen) und die Ergebnisse neuerer philosophischer und theologischer Arbeiten zum Thema (M. Crespo; K. Scheiber; P. Ricœur) zunächst relativ unverbunden nebeneinander. S. wird aber mit diesem Material im dritten Teil intensiv arbeiten. Im exegetischen Teil beeindruckt die Art und Weise, wie exegetische Erkenntnisse und systematische Überlegungen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Das wirft allerdings auch Fragen auf. So wird z. B. mit Lk 15,22 f.31 die These gestützt, dass Vergebung Gabe ist – auf den ersten Blick einleuchtend, aber trifft es wirklich den Kern der Sache? Spannend ist die Einbeziehung von Gen 4 in die Thematik, da dort das Thema Schuld und ihre Folgen eindringlich behandelt, aber nicht ausdrücklich von Vergebung gesprochen wird. Die Aussagen der verschiedenen Psalmen (6.25.32. 51.103.130.143) werden differenziert erhoben und dargestellt. Jeder einzelne Abschnitt endet mit einer kurzen Besinnung: Weitergedacht … im Angesicht der Opfer, was allerdings den Lesenden auch bewusst macht, dass diese Perspektive in den Psalmen wenig im Blick ist.
Unter der Überschrift 1. Eine weisheitliche Theologie wird im dritten Teil der Befund in den Psalmen systematisiert und ins Gespräch mit der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema gebracht. Der letzte Unterabschnitt 1.6 Vergebung als Gabe ist dann Anlass für einen ausführlichen Exkurs: 2. Geben – Eine phänomenologische Skizze. Diese Gedanken werden weitergeführt und vertieft in 3. Vergebung als Für-Sein; 4. Wer kann vergeben?; 5. Erzählte Vergebung und 6. Im Angesicht der Opfer – Ein Rückblick. Eine Zusammenfassung bündelt noch einmal das Ergebnis in elf Punkten. Das macht deutlich, dass es schwierig ist, die komplexen Überlegungen S.s in wenigen Thesen zusammenzufassen. Ich möchte stattdessen drei Beobachtungen weitergeben.
1. Ich finde es angesichts der gegenwärtigen Diskussion äußerst hilfreich, dass S. Vergebung nicht als die »einfachere« Lösung der Schuldfrage im Gegensatz zum Thema Sühne darstellt. Vor allem dort, wo er von Vergebung als Intercessio spricht (327 ff.; vgl. auch 120, Anm. 17), macht er deutlich, dass zur Schuldverarbeitung das Eintreten eines Dritten nötig sein kann. Zwar wendet er sich gegen das traditionelle Verständnis von Stellvertretung, spricht aber sehr nachdrücklich von dem »Rettergott, der dazwischentritt und bürgt« und »im Leiden, im Kreuz zu Hause« ist (330). Durch »ein Eintreten in die menschliche Situation der Sünde, das, weil geteiltes Leben, sowohl das Anstelle als das Zugunsten umgreift, kann der Christus traditus wirklich der Sünde […] begegnen und sie – bis ins Mark – treffen« (317 f.).
2. Im Angesicht der Opfer – so ist das Buch überschrieben, und S. nimmt den selbstgegebenen Auftrag ernst, das Thema Vergebung unter diesem Aspekt zu behandeln. Allerdings zeigt sich – wie schon angedeutet – gerade bei der Exegese der Psalmen, dass dort diese Perspektive kaum vorkommt. Ps 51,6 »An dir allein habe ich gesündigt«, wird unter dieser Fragestellung problematisch. S. sieht darin aber kein Absehen von dem, was »zwischenmenschlich an Unheilvollem geschehen ist«, sondern eine Vertiefung: »Was da Mitmenschen angetan wurde, war eine einzige Versündigung vor Gott« (219). Erst später kommt er darauf zurück, »dass in den Psalmen Täter und Opfer ihre Situationen, obwohl miteinander verwoben, doch immer getrennt Gott klagen und anheimstellen«, und zwar – so seine Erklärung – »weil sie selber überfordert wären, sie zusammenzubringen. Gott als der Dritte führt Täter und Opfer wieder zusammen« (350). Ich bin nicht sicher, ob diese Folgerung direkt aus den Texten zu erheben ist, aber es ist zweifellos eine sachgemäße Weiterführung des dort Gesagten. Das gilt auch für die Beschreibung von Vergebung als »kommunikativen Austausch« unter Vermittlung eines Dritten: Dieser Austausch, »am Schmerz der Beteiligten orientiert, unterläuft am Ende die polarisierende Rede von den ›Tätern‹ und den ›Opfern‹. Es werden nicht mehr Opfer perspektive und Täterperspektive gegeneinander ausgespielt und Kämpfe um die Deutungshoheit ausgetragen, sondern Sensibilität und Aufgeschlossenheit füreinander eingeübt« (377).
3. Nicht überzeugt hat mich eine der Grundthesen des Buches, Vergebung als Gabe zu interpretieren. Das mag im Deutschen oder Englischen und noch in manchen anderen Sprachen naheliegen. Aber die biblischen Sprachen geben diese Verbindung nicht her, und auch die entsprechenden exegetischen Ausführungen scheinen mir eher aus der vorgegebenen Grundthese als aus den Texten abgeleitet zu sein. Ich kann eine Aussage wie »So erleben in den Psalmen die Beter Vergebung: als vertrauengebend und damit selber als Gabe, in ihre Situation hineingegeben« (259), nicht ohne Weiteres mit dem identifizieren, was wir in den Psalmen lesen. Nun könnte man das als systematische Weiterführung verstehen, aber es werden im Folgenden äußerst komplexe Überlegungen (im Gefolge von Derrida) nötig, um Missverständnisse von Gabe zu vermeiden: »Eine Gabe will nicht geben, sondern gibt, eben weil sie nicht Akt, sondern Ereignis ist« (296). Ein Interpretament, das einer so diffizilen Interpretation bedarf, sollte kritisch auf seine Brauchbarkeit geprüft werden, auch wenn es im heutigen philosophischen Diskurs sehr beliebt ist. Mir scheinen hier die Kategorien von Vergebung als Begegnung (304) oder Vergebung als Für-Sein (313 ff.), die S. ebenfalls aufgreift, nicht nur textgemäßer, sondern auch für heutiges Reden von Vergebung fruchtbarer zu sein.
Insgesamt aber handelt es sich um eine sehr inspirierende Ar­beit, die das Thema gründlich und weiterführend behandelt. Sie ist sprachlich herausfordernd: Sie frappiert immer wieder durch knappe, konzise und treffende Formulierungen und Bilder, aber sie scheut sich auch nicht, der Anstrengung des Gedankens einiges abzuverlangen.
(Ein kleiner formaler Hinweis zu einer im Ganzen sehr sorgfältig redigierten Arbeit: Auf S. 381 sind im Literaturverzeichnis einige Dinge durcheinandergeraten.)