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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

850–853

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stoellger, Philipp [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. IX, 617 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 63. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-153031-9.

Rezensent:

Christian Danz

Seit einigen Jahrzehnten schon hat der Deutungsbegriff in der Theologie eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Sowohl in der Praktischen als auch in der Systematischen Theologie wurden deutungstheoretische Fassungen des Religionsbegriffs ausgearbeitet. Sie traten an die Stelle von anthropologischen, funktionalen oder substantialistischen Religionsbegriffen sowie theologischen Be­schreibungen der Religion als Offenbarung Gottes. Hierin dokumentiert sich vor dem Hintergrund vielfältiger Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s eine neue Aufmerksamkeit der Theologie auf die Religionsthematik. Allerdings stellt der Deutungsbegriff kein Novum der religionstheologischen Debatten des späten 20. und frühen 21. Jh.s dar. Wichtige Impulse verdankt er der Erkenntnistheorie Immanuel Kants. Zwar kannte der Königsberger Meisterdenker mit dem »Ding an sich« noch ein »Anderes« der Deutung, aber die mit diesem verbundenen Probleme waren schon den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. Im Anschluss an Kant, Schleiermacher u. a. kam es im 19. Jh. zur Neubestimmung der Religion als einer eigenen Form menschlichen Selbstverständnisses, welches sich den Akten des religiösen Subjekts verdankt. Im Kontext der Debatten um die »Krisis des Historismus« (Ernst Troeltsch) wurden schließlich im Medium der Frage nach der Ab­solutheit des Christentums in der Religionsgeschichte Deutungsmachtkonflikte selbst zum Thema. Dabei ging es stets auch um eine methodische Reflexion der Standortgebundenheit des eigenen Verständnisses von Religion und deren Geschichte, dessen Einbindung in eine bestimmte Kultur und deren Selbstverständnis. Im Fokus der genannten Kontroversen steht das Problem einer angemessenen Fassung des Religionsbegriffs. Dabei geht es immer auch darum, wer die Deutungshoheit über ihn hat.
Der hier anzuzeigende Sammelband, der von dem damaligen Rostocker Systematischen Theologen Philipp Stoellger herausgegeben wurde, unternimmt nun den Versuch, vor dem Hintergrund der angedeuteten Problemgeschichte den Deutungsbegriff im Spannungsfeld von Deutung und Macht einer genaueren Klärung zu unterziehen. Dahinter steht die Überzeugung des Herausgebers, dass der Deutungsbegriff, seiner vielfältigen Verwendung in Theologie und Kulturwissenschaften ungeachtet, selbst allererst einer analytischen Erhellung bedarf. Diese steht freilich im Konflikt der Deutungen und ist so ein exemplarischer Fall von Deutungsmacht. Der Band geht zurück auf eine Tagung an der Universität Rostock aus dem Jahre 2012, die im Kontext eines Antrags zur Einrichtung eines Graduiertenkollegs zu diesem Thema stattfand. Den erfolgreichen Antrag kann der Leser in der Einleitung zu dem Band nachlesen (vgl. 1, Anm. 1).
Der Facettenbreite des Deutungsbegriffs und seiner Derivate entsprechend ist der Band interdisziplinär angelegt. Nicht nur der Theologie kommt Deutungsmacht zu. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft hat sie diese verloren und konkurriert mit diversen anderen akademischen Disziplinen um Deutungshoheit über das religiöse Feld. In der umfangreichen Einleitung von Phi-lipp Stoellger (Deutungsmachtanalyse. Zur Einleitung in ein Konzept zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse, 1–85) werden die Konstellationen von Deutung und Macht ausführlich analysiert und programmatisch abgesteckt. »Den theoretischen Horizont bildet die Arbeit an einer Hermeneutik von Deutungsmachtkonflikten, die interdisziplinär (empirisch, historisch und systematisch reflektiert) sowohl die Semantik, Pragmatik und Performanz von reli-gionsrelevanten Deutungsmachtkonflikten zu erfassen in der Lage sein soll als auch die konfliktiven Machtdimensionen von reli-gionsrelevanten Deutungsprozessen.« (4) In den Fokus des Bandes rückt die Religion, die freilich nicht den einzigen Fall von Deutungsmachtkonflikten unter den Bedingungen der modernen Ge­sellschaft darstellt. Religion und belief systems sind selbst keine substantiellen Gegebenheiten. Vielmehr haben sie den Status von Selbstbeschreibungen, die permanent umstritten sind. Insofern eignen sie sich auf eine geradezu exemplarische Weise für die Analyse von Deutungsmachtkonflikten. Schon die Einleitung des Bandes lotet die Spannweite des Deutungsbegriffs vor dem Hintergrund des Machtbegriffs aus (11–25). »Deutungsmacht ist ein am­phibolischer Ausdruck, doppelsinnig, weil er aus zwei Begriffen zu­sammengesetzt ist: aus Deutung und aus Macht.« (11) Diese Amphibolie des Deutungsbegriffs wird in den einzelnen Beiträgen in unterschiedlichen Themenfeldern ausgelotet, sei es im philo-sophischen oder im sozial-, rechts- und religionswissenschaftlichen oder ökonomischen Diskurs etc., stets geht es um Deutungen, die mit einem Anspruch auf Geltung auftreten. Solche Überlagerungen zu analysieren, ist das Anliegen des Bandes. »Denn Deutungsmachtanalyse zielt nicht auf die Oberflächensemantik, sondern auf deren Funktion für ›Tiefengrammatik‹ oder pragmatische, pathische und darin verschärft ›praktische‹ zu nennende Di­mensionen, wie die Machtpraktiken in Gestalt der Deutung(-stheorie).« (440) Das in der Einleitung skizzierte Szenario wird in den sechs unterschiedlich umfangreichen Hauptabschnitten des Bandes aus der Optik von diversen Disziplinen in den Blick genommen.
Der erste Teil Theorien (89–184) widmet sich den methodischen Grundlagen des Deutungsbegriffs, der Deutungsmacht sowie den hiermit verbundenen Implikationen und Konflikten. Heiner Hastedt (Was ist ›Deutungsmacht‹? Philosophische Klärungsversuche, 89–101), Emil Angehrn (Die Differenz des Sinnes und der Konflikt der Interpretationen, 103–119), Werner Stegmeier (Von Religionsstiftern lernen: Deutungsmacht als Kraft zur Orientierung, 121–138), Marc Rölli (Wissen und Verstehen. Zur Analyse der Macht epistemischer und hermeneutischer Strukturen, 139–149) und Burkhard Liebsch (Interpretationsmacht. Macht der Interpretation und Interpretation der Macht – in der Perspektive einer Revision des Politischen, 151–184) umreißen in ihren Beiträgen die Konturen des Deutungsbegriffs, seine Differenz zur Interpretation und Auslegung sowie den Zusammenhang von Macht und Deutung. Nietzsche, das ist unumgänglich, fungiert dabei als Referenzpunkt der Analysen. Rückte er doch nicht nur den Lebensbegriff, sondern auch einen perspektivischen Deutungsbegriff in den Fokus. Zu deuten und auszulegen sind zunächst Texte. Das ist das Geschäft der Hermeneutik, welche in dem Band allerdings lediglich in der Fassung, die sie durch Schleiermacher, Heidegger und Gadamer erhalten hat, in den Blick kommt. Begründet ist dies freilich in dem Anliegen, die Hermeneutik zu erweitern.
Dem Themenfeld Schriften (187–256) widmen sich die Analysen von Eckart Reinmuth (Performativität und Gewalt im Hebräerbrief, 187–204), Marius Timmann Mjaaland (Der apokalyptische Zwerg der Revolution, 205–224), Jens Wolff (The power of philology between sacralisation and poetic and aesthetic semi-secularisation, 225–239) und Philip Manow (Der politische Kampf um theo-logische Deutungsmacht – das Ende der Divine Right Doctrine und der pro-tes­tantische Ikonoklasmus im Englischen Bürgerkrieg, 241–256).
Der dritte Hauptabschnitt des Bandes widmet sich unter dem Titel Geister (259–308) sehr heterogenen Deutungsfeldern. Zunächst wendet sich Gesa Mackenthun (Fossils and Immortality. Geological Time and Spiritual Crisis in Nineteenth-Century America, 259–283) zu, und sodann nimmt Klaus Hock die Geistbesessenheit im Religionsdiskurs in den Blick (285–308).
Der Mythos markiert ein weiteres Feld der Analysen von Deutung und Macht. Ihm gilt der vierte Abschnitt Mythen (311–346). Die modernen Mythen und deren Bestimmung thematisiert Stephanie Wodianka (»Nur ein Mythos?« Konfliktpotential des Mythischen in der Moderne, 311–331). Yves Bizeul schließlich rekonstruiert Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations vor dem Hintergrund des Kampfes um die geopolitische Deutungsmacht nach dem Zerfall des Ostblocks (333–346).
Der fünfte Abschnitt Recht, Ökonomie und Gesellschaft (349–427) bietet drei Beiträge, die sich den Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit in der modernen Gesellschaft widmen. Der erste Beitrag stammt von Peter A. Berger (»Bilder« sozialer Ungleichheit – Zur »Versozialwissenschaftlichung« sozialer Deutungsmuster, 349–380), während Birger P. Priddat anhand von John Lock, den französischen Physiokraten und schließlich Adam Smith den theologischen Hintergrund in deren Deutungen des Ökonomischen herausarbeitet (Oeconomia perennis. Drei Stationen der Geburt der Ökonomie aus der Theologie. Wechsel der Deutungsmacht, 381–409). Schließlich wendet sich Hans Michael Heinig in seinem Beitrag (Deutungsmachtkonflikte als Deutungs- und Machtkonflikte im Religionsrecht, 411–427) den religionskulturellen Konflikten im modernen Verfassungsstaat zu. Sie stellen ein geradezu idealtypisches Feld von Deutungsmachtkonflikten dar.
Der letzte Abschnitt des Bandes gilt unter der Überschrift Christentümer (431–561) den Selbstdeutungen der christlichen Religion. Aus systematisch-theologischer Perspektive bietet Philipp Stoellger eine breit angelegte Auseinandersetzung mit der Rezeption des Deutungsbegriffs in der gegenwärtigen Theologie (Theologie als Deutungsmachttheorie. Zur Hermeneutik von Deutungsmacht im systematischen Diskurs, 431–523). In seinen Ausführungen spitzt er seine Überlegungen aus der Einleitung auf die theologischen Kontroversen im 21. Jh. zu. Es folgen Thomas Klie (Deutungsmachtkonflikte angesichts des Todes, 525–538) und Martina Kumlehn (Deutungsmacht und Deutungskompetenz – Deutungskonflikte im Kontext religiöser Bildung, 539–561).
Die Beiträge des Bandes bieten, ohne dass dies im Rahmen einer Re­zension im Detail ausgeleuchtet werden kann, umfang- und materialreiche Analysen von Deutungsmachtkonflikten in der modernen Gesellschaft vor dem Hintergrund des gegenwärtigen debattengeschichtlichen Kontextes. Autorenhinweise (563–571), Namen- (573–589) und Begriffsregister (590–617) beschließen den Band.
Doch was ist eigentlich unter Deutung zu verstehen? Ist alles Deutung, oder gibt es Differenzen zum Verstehen, Interpretieren etc.? Wenn alles Deutung ist, dann entbehrt das Konzept der Be­stimmtheit. In seinem umfangreichen Beitrag, der zusammen mit der von ihm verfassten Einleitung den breitesten Raum in dem Band einnimmt, unternimmt es Stoellger, den Deutungsbegriff vor dem Hintergrund eines in seinen Augen überzogenen Ge­brauchs zu präzisieren. Der Fokus liegt hierbei auf dem Anderen der Deutung, durch den das Konzept erst seine Prägnanz und Bestimmtheit erhält. Stoellger versteht unter Deutung »eine Weise des Zeigens und Sagens, die jemanden etwas sehen lässt und möglicherweise auch als etwas sehen macht« (433, vgl. 18–25). Deuten ist mit anderen Worten ein vorwissenschaftlicher Vollzug. Von diesem Verständnis aus werden die deutungstheoretischen Debatten in der gegenwärtigen Theologie in den Blick genommen (464–493). Die Auseinandersetzung kann hier nicht im Einzelnen nachverfolgt werden. Die Kritik zielt auf einen undifferenzierten und universalisierten Deutungsbegriff, durch den dieser in den Augen von Stoellger um seine Pointe gebracht werde. Das Andere des Deutens, die geschichtliche und kulturelle Einbindung des Deutungsaktes in Anderen und vorgängige Deutungen etc. werden von ihm in der »Kategorie der Passivität« (475) aufgenommen. Dadurch soll zu­ gleich eine weiterführende These vorgeschlagen werden, der zu-folge »Deutungsmacht« von »Trägersubjekten auf Medien« übergeht, »die in ihrer Eigendynamik eine Deutungsmacht entfalten, die den Deutungen eigne Macht zur Entfaltung und Geltung bringt: die Macht der Deutungsmedien im Rahmen der vorgängigen Ordnungen oder Dispositive« (498). Ob allerdings die Kategorie der Passivität glücklich gewählt ist, um die markierten Defizite an deutungstheoretischen Religionstheorien aufzunehmen sowie zur Erschließung der Gegenwartskultur beizutragen (498–509), wird man fragen können.