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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

810–812

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rauscher, Anton [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zukunftsfähige Gesellschaft. Beiträge zu Grundfragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1998. 219 S. gr.8 = Soziale Orientierung, 12. Kart. DM 56,-. ISBN 3-428-09294-5.

Rezensent:

Stefan Streiff

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit wird heute mit Nachdruck gestellt. Liegt dies darin begründet, daß wir in wohlständiger Selbstgefälligkeit die Frage zu stellen vergessen haben oder mit der bevorstehenden Jahrtausendwende oder damit, daß tatsächlich besondere Herausforderungen zu bewältigen sind?

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit ist eine existentielle Frage und die kulturelle Entwicklung hing wohl schon immer von den Antworten ab, die die Generationen jeweils gefunden haben. Heute geht, ohne daß eine Aufforderung dazu nötig wäre, ein Ruck durch die Gesellschaften (nicht nur) der frühindustrialisierten Nationen. Die Einzelnen und die Institutionen hinken dieser Erschütterung hinterher und suchen nach zutreffenden Analysen und Neuorientierungen. Und eben dazu will das vorliegende Buch einen Beitrag leisten. Der neueste, ausgezeichnete Band der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach vereinigt elf Beiträge zu relevanten Themen der Zukunftsorientierung, ausnahmslos von renommierten Verfassern. Einer Analyse der "politischen Großwetterlage" (11) folgen Arbeiten zur sozialen Marktwirtschaft, zu Bildungs- und Familienpolitik, Globalisierung und Arbeitsmarkt, Gesundheits- und Altersvorsorge, Technikfolgenabschätzung und Geldwertstabilität. Die Aufsätze reflektieren die Lage Deutschlands, bieten aber auch für die Situation der anderen frühindustrialisierten Nationen wertvolle Anregungen, die alle mit ähnlichen Problemen der demographischen Entwicklung, der Finanzierungsengpässe und Phänomenen des Wertewandels zu kämpfen haben.

Kaum ein Beitrag, der nicht auf die zukünftige Rolle des Staates für die Gesellschaft zu sprechen käme, eines Staates, der gegenwärtig von Reformunfähigkeit, Selbstblockade und Finanzierungsnot gekennzeichnet ist. Auf ordnungspolitischer Ebene ist damit für Deutschland der Schritt zur Analyse der Zukunftsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft klein. Hat dieses Wirtschaftsgestaltungskonzept in die Sackgasse führen müssen? "Die Frage spitzt sich darauf zu, ob nicht seit den siebziger Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden habe, insofern der Grundwert der Freiheit nicht mehr gleichgewichtig mit dem Grundwert der Gerechtigkeit die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse bestimme, sondern eine Verlagerung von der Freiheit des einzelnen hin zur Gerechtigkeit, von der Eigenverantwortung hin zur sozialen Sicherung eingetreten sei" (16). Es ist nicht nur die "zunehmende internationale Integration der Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte" (69), Globalisierung genannt, die allein verantwortlich wäre für steigende Arbeitslosigkeit und geringere Umsatzvolumen. In höherem Maße ist es der Paradigmenwechsel, der sich in den Jahren ungebrochen günstiger wirtschaftlicher Entwicklung vollzog, und der die Gesellschaft träge und unfähig werden ließ, auf neue Herausforderungen zu reagieren. Not tut deshalb eine Rückbesinnung auf das "Prinzip der Personalität" (31), eine neue Zuordnung der Begriffe Solidarität und Subsidiarität (17). "Wird es möglich sein, der Sozialen Marktwirtschaft eine Handlungsrechtsstruktur mit einem größeren individuellen Entfaltungs- und Verantwortlichkeitspotential zu verleihen? Entscheidend wird sein, wie weit sich die Beharrungskräfte gegenüber den Kräften des Aufbruchs behaupten können" (46).

Die Autoren des vorliegenden Bandes sind sich in ihrer Option für den Aufbruch in eine zukünftige Soziale Marktwirtschaft einig, aber auch darin, daß den Menschen Handlungsstrukturen zur Verfügung gestellt werden müssen, die ein würdiges Leben in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglichen: Gesundheitsvorsorge (141 ff.), Altersvorsorge (157 ff.) und Familienpolitik (121 ff.) rücken deshalb ins Zentrum des Interesses. Es geht dem Band vor allem darum, den erwähnten Paradigmawechsel zu analysieren, zu kritisieren und Punkte des Neueinsetzens aufzuzeigen. Dabei spielt auch die hermeneutische Arbeit des Verstehens eine entscheidende Rolle. An den Worten "Neoliberal" und "Eigenverantwortung" sei dies noch andeutungsweise nachskizziert.

Neoliberal wird heute oft zur Kennzeichnung einer rücksichtslosen Haltung des Laisser-faire-Liberalismus und des uneingeschränkten Eigennutzes mißverstanden. "Wer - gerade in Deutschland - die orginär soziale und freiheitliche Ausrichtung des neoliberalen Gedankengutes verkennt und als "Kapitalismus pur" bezeichnet, dokumentiert damit nur seine offensichtliche Unkenntnis sowohl der Quellen und der Motive als auch der Inhalte der neoliberalen Denkschule" (204). Aus dieser Schule - Eucken, Böhm, Rüstow, Müller-Armack und Erhard gehörten ihr an - ist das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entstanden.

In ihrem Engagement gegen jeglichen totalitären Zugriff auf das persönliche Leben in der Nachkriegszeit war dieser Schule der Begriff Eigenverantwortung äußerst wichtig. Heute ist Eigenverantwortung zu einem politischen Schlagwort verkommen, das fälschlicherweise mit Egoismus und Entsolidarisierung verbunden wird. - Als zukunftsfähig erweisen wir uns nicht zuletzt darin, daß wir zuvor bedacht haben, was wir danach sagen, daß wir der Macht der Gewöhnung kritisch zu begegnen bereit sind, und daß uns die Verantworgung für das eigene Leben und für das Zusammenleben mit andern wichtiger ist als "die beharrungsverstärkend Wirkung gewisser Symbolbegriffe" (46) oder Schlagworte.