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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

834–836

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wiedebach, Hartwig / Hrsg. v. d. Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft

Titel/Untertitel:

Pathische Urteilskraft.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2014. 272 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-495-48693-1.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Menschliches Leben und Leben überhaupt lässt sich, allen technisch-naturwissenschaftlichen Errungenschaften und auch neurophysiologischen Erklärungsversuchen zum Trotz, nicht in einem naturwissenschaftlichen Erkenntnismodus erfassen. Denn ein solcher Erkenntnismodus rückt, um mit Heidegger zu sprechen, das Leben in die Betrachtungsweise von Seiendem als Vorhandenem, verfehlt so aber seine Eigentümlichkeit. Die für die Lebenswissenschaften nach wie vor drängende Frage lautet: Wie dann? Was wäre ein dem Leben angemessener Erkenntnis- und Urteilsmodus?
Die Beschäftigung mit dieser Frage kennzeichnet Entwürfe von M. Heidegger und M. Scheler bis zu B. Waldenfels, mittlerweile verstärkt auch Diskussionen im Bereich der Kognitionswissenschaft und der Philosophie des Geistes, etwa im Rahmen einer »Philosophie der Verkörperung«. Der Neurologe und Medizinphilosoph Viktor von Weizsäcker (1886–1957) hatte dieser Frage schon grundlegende Bedeutung zugemessen und sie im Zuge seines Bemühens um eine medizinische Anthropologie bearbeitet. Seiner darauf antwortenden Konzeption wird zwar häufig beachtliches Potential bescheinigt, sie verbirgt sich aber hinter einer eigenwilligen und schwer zugänglichen Sprach- und Denkwelt.
In seiner Studie nimmt Hartwig Wiedebach, Philosoph und Leiter des Hermann Cohen-Archivs in Zürich, jene Frage nach einem dem Leben angemessenen Erkenntnis- und Urteilsmodus auf. Die thematische Durchführung erfolgt einerseits auf der Spur Weizsäckers, andererseits auch in weitergehender Eigenständigkeit und im Kontext neuerer Debatten um Leiblichkeit und Geist.
In einem ersten Teil (9–35) wird die Neuorientierung des Er­kenntnis- und Urteilsmodus’ am Charakter des Lebens festgemacht. Dieses ist zuerst Widerfahrnis, ehe es Handeln ist. Pathische Urteilskraft wendet sich dem pathischen Untergrund des Lebens zu; in der konstitutiven Beteiligtenperspektive ist es antwortendes Denken, bevor es reflektierendes Denken wird. Der Unterschied zu Kants Verständnis der Urteilskraft zeigt sich auch darin, dass eine Isolation des Sollens und eine Gewissheit des Könnens zurückgewiesen werden. Die Krisen des menschlichen Daseins, von denen pathische Urteilskraft ihren Ausgang nimmt, offenbaren vielmehr einen pathisch-leidenschaftlichen Untergrund von gleichwertigen Kräften (Sollen, Können, Müssen, Wollen, Dürfen), deren Konstellation von Konflikten und Integrationsversuchen geprägt ist. Wenn von einem Gebot ausgegangen werden kann, dann vom Ge­bot »Leiden soll nicht sein!« Denn im Leiden zeigt sich die Gewalt eines Müssens, welche das Können, Wollen und Dürfen erstickt (23 ff.163).
Der zweite Teil (37–125) widmet sich der Interpretationsperspektive der pathischen Betrachtung: Das Pathische tritt hervor in der Frage des gewünschten, erträumten, erhofften, aber auch gefürchteten und gemiedenen Lebens. Nicht-Seiendes wird so zum Motor der Gegenwart. Dementsprechend werden biologische Akte unter dem Aspekt eines mehrdimensionalen »Mangels« interpretiert. Gegenüber dem naheliegenden Gedanken einer einlinigen Ausgleichung bzw. Lebenserhaltung arbeitet Weizsäcker mit einer Dialektik von Erhaltung und Vernichtung. In diesem Zusammenhang gewinnt der geschichtlich höchst belastete Begriff einer »Vernichtungsordnung« konstitutive Bedeutung. W. will ihn funktional verstanden wissen: Es dient dem Wohl des Lebens, wenn die absichtlichen und unvermeidlichen Elemente der Gewalt in allem (!) ärztlichen Tun nicht verschleiert, sondern unter eine Regel ge­bracht werden. Vorausgesetzt ist die Anerkennung dessen, dass das Leben immer wieder Leistungen der Falschheit hervorbringe.
Zentrale Aufgabe einer metapathischen Reflexion der Besonnenheit ist nun, zu klären, in welchem Gewichtsverhältnis die pathischen Einzelelemente zueinander stehen. Krankheit zeigt, dass die von Mangel getriebene Ausgleichsbewegung des Lebens misslingen kann. Metapathisches Handeln bleibt dabei eine Entscheidung unter Unsicherheit und Schuldgefahr. Das schon von Kant bearbeitete Problem der Teleologie besteht darin, zwischen pathischem Handeln aus (begrenzter) Freiheit und biologisch-leiblicher Struktur zu vermitteln. W. folgt Weizsäckers Grundbegriff der »Selbstbewegung« und streift dessen Umstellung von Zweck auf Liebe, er bemüht sich dann vor allem um einen eigenen Vermittlungsversuch im Rahmen der Idee eines sogenannten »Konnektionismus«: Pathisches Werden erscheint physiologisch als gestaltbildendes und informatives Element. Man kann diesen Versuch als eigenständige Antwort auf das Leib-Seele-Problem lesen. Über Weizsäcker hinaus soll so das pathische Pentagramm physiologisch geerdet werden.
Der dritte Hauptteil (127–238) wendet sich der pathischen Person zu und expliziert zunächst die Bedeutung der pathischen Kräfte für die Entwicklung der Person, für Gesundheit und Krankheit ebenso wie für die Therapie. Gegenüber einer nicht angemessenen Auszeichnung von Bewusstseinsphänomenen (auch bei Freud) wird lebendiges Werden dabei auch als fortschreitendes Unbewusstwerden festgehalten. In Leidens- und Sinnkrisen vermag die pathische Konstellation aus der Verborgenheit herauszutreten und eine Neuintegration erforderlich machen. Es handelt sich um »Kontaktereignisse« zwischen lebensgeschichtlichem Geschehen und Symptom, die nicht kausal, sondern im Sinne einer »Koinzidentialkorrespondenz« zu interpretieren seien.
Die pathische Antwort bedarf als stets individuelle eines Vergleichsmaßstabs, den W. in Gott als dem Spender des Dürfens finden will. Dementsprechend müsse man auch das Neue bzw. Schöpferische des Lebens als »Offenbarung« auffassen. Das Paradigma von Selbstorganisation und Emergenz verschleiern an dieser Stelle nur die Grenze des naturwissenschaftlichen Horizonts. Ob man im Ergebnis dann zu einem pelagianischen Naturglauben geführt wird, wie W. ihn im Gefolge Weizsäckers aufnimmt, darf allerdings bezweifelt werden. Dieser setzt Weizsäckers mangelnde Differenzierung von Schöpfungs- und Heilslehre voraus.
W. umreißt schließlich ein Verständnis von pathischer Wissenschaftlichkeit. Denn das pathische Urteil stehe der Formulierung allgemeiner Gesetze nicht entgegen; ja es unterwerfe sich geradezu der »Gestaltungsmacht« allgemeiner Naturwissenschaft (196). Wie am Beispiel einer Infektion plausibel zu machen ist, gelte es Kausales und Ereignishaftes zusammenzudenken. Der Vorschlag lautet: Pathisches Urteilen folgt einer abduktiven Logik. Es setzt bei der Nichtselbstverständlichkeit eines Einzelfalls (einer Erkrankung) ein, um zu einem Schluss auf die beste Erklärung zu gelangen. Dabei spiele die biographische Verstehensarbeit eine bedeutende Rolle. Das schließt nicht aus, dass in anderen Kontexten ein deduktiv ge­wonnenes medizinisches Urteil durchaus ausreichen kann.
Überblickt man den gesamten Gedankengang, wird man bei allen Verästelungen das Ziel von W.s Studie wertschätzen: Um der Praxis gelebten (erlittenen) Lebens willen gilt es, den Weizsäckerschen Gedanken einer pathischen Urteilskraft für philosophische, medizinische, aber auch theologische Diskurse wiederzuentde-cken. Manches könnte man wohl auch einfacher haben, zumal W. das Niveau der Denk- und Sprachwelt Weizsäckers kaum unterschreitet. Den Brückenschlag zu medizinischem Denken und Handeln hat man hier einerseits noch vor sich. Andererseits bietet W. bereits operationalisierbare Unterscheidungen und Kontextualisierungen der Erkenntnisse Weizsäckers. Darüber hinaus besteht der wichtige Beitrag des Projekts einer pathischen Urteilskraft letztlich darin, deutlich gemacht zu haben, dass und inwiefern ein dem Leben angemessener Erkenntnis- und Urteilsmodus bedeutende Umstellungen in erkenntnistheoretischer und anthropologischer Hinsicht erfordert (etwa gegenüber einer anthropologischen Hochschätzung des Willens und des Sollens).