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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

826–827

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hénaff, Marcel

Titel/Untertitel:

Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken. Übers. aus d. Franz. v. E. Moldenhauer.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2014. 274 S. = Sozialphilosophische Studien, 8. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-8376-2385-7.

Rezensent:

Martin Hailer

Nach Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009 ist dies die zweite Studie zum Phänomen der Gabe des an der University of California lehrenden Sozialphilosophen Marcel Hénaff, die ins Deutsche übersetzt wurde. Im früheren Buch wurde vor allem ethnologisch und historisch argumentiert, der anzuzeigende Band diskutiert französische Beiträge zur Philosophie der Gabe und der Anerkennung. So gewinnt der Band Anschluss an die anerkennungstheoretische Diskussion und untermauert den Anspruch, nicht nur ethnologisch und historisch, sondern sozialphilosophisch zu argumentieren.
Der Vf. legt intensive Lektüren zum Phänomen der Gabe bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion, Paul Ri-cœur, Claude Lefort und Vincent Descombes vor (zur Auswahl: 17–22). Sie werden durch drei »Vorschläge« unterbrochen (51 ff.109 ff.217 ff.), in denen die eigenen Überlegungen systematisch vorgetragen werden.
Der Gabediskurs, so die in »Vorschläge I« präsentierte Hauptthese, ist von einer Fehlabstraktion in Atem gehalten worden. Diese rückt einseitig die selbstlose Gabe in den Mittelpunkt, so dass als Gabe ausschließlich eine solche gelten kann, die zum Besten des Empfängers überreicht wird und bei der eine Gegengabe weder erwartet noch provoziert wird. Alles andere, so die vom Vf. als gängig ausgemachte Meinung, würde den Reinheitscharakter der Gabe verletzen und sie zu einem Teil des ökonomischen Kreislaufs machen: Wer gibt, um seinerseits eine Gegengabe zu empfangen, gibt gar nicht, sondern ist Teil des Güterkreislaufs, den er zu seinem eigenen Besten zu beeinflussen trachtet. Die Gabe ist so auf einen einzigen Typus reduziert, der noch dazu, wenn er rein auftritt, nicht als Gabe erkennbar sein darf: Die moralische Codifizierung führt zum Verschwinden dessen, was sie doch beschreiben will. Demgegenüber konstatiert der Vf. drei Typen von Gabe: die zeremonielle Gabe, die wohltätige und die solidarische (58–62). Die solidarische Gabe – etwa unter Freunden – erwartet durchaus eine Gegengabe, dies jedoch nicht notwendig; die wohltätige Gabe ist spontan, freudig und ohne Gegengabe, zugleich das, was der Vf. als biblisch erkennt (60). Die zeremonielle Gabe hingegen, der im Folgenden fast ausschließlich die Aufmerksamkeit gilt, ist fundamental auf Gegenseitigkeit angelegt, sie erzeugt eine Bindung zwischen Gebern und Nehmern. Das Überreichte steht dabei für das Selbst des Gebers, so dass dieser Gabetyp zu wechselseitiger Anerkennung dient: »dass man dem Anderen etwas von sich selbst gibt, als Unterpfand und Substitut des Selbst« (65, i. O. teilw. herv.). Im Gegensatz zu ethnologischen Studien ist mit dieser Bestimmung die These verbunden, dass auch heutige Gemeinschaften und Gesellschaften in diesem Sinne funktionieren (71–77). Hier gewinnt die Studie Anschluss an die von Hegel inspirierte Anerkennungstheorie Axel Honneths.
Der Gabentausch, so »Vorschläge II«, beschreibt eine prekäre und nicht vertraglich geregelte Gegenseitigkeit: Es geht nicht um Kauf und Verkauf wie im ökonomischen System, vielmehr wird eine Gegenseitigkeit begründet. Deren agonaler Untergrund ist aber weiterhin spürbar: Die Gegenseitigkeit ist ein Balancespiel (119–124), auch wenn sie zu stabilen Zuständen der multipolaren Wechselseitigkeit führen kann (127).
In einem dritten Anlauf wird die eigentümliche Sozialgestalt der Gabe noch einmal betrachtet: Der Vf. kritisiert die Tradition von Martin Buber bis Emmanuel Levinas dafür, die Ich-Du-Beziehung und die Ich-Es-Relation himmelweit geschieden zu haben – denn wäre dies in Geltung, so wäre an eine beziehungsstiftende Funktion von (Gabe-)Dingen nicht zu denken. Weltdinge sind aber auch Beziehungssymbole (227). Der Vf. führt dies u. a. für performative Sprechakte und für einfachste soziale Austauschprozesse durch: Beziehung und Kommunikation bestehen nie ›an sich‹, sondern sind je symbolvermittelt, so dass sich die Realität der Gabe auch da zeigt, wo nicht ein Ding weitergereicht wird (236–239): »Immer wieder entdecken wir, dass eine rein duale Beziehung nur eine Abstraktion sein kann.« (241) Der/das Dritte in einer Beziehung ist kein Addendum, sondern macht die Beziehung allererst möglich.
Die erwähnten Lektüren dienen vor allem der Verstärkung des Gesagten auf der Folie der Kritik – ob sie die Genannten zuverlässig wiedergeben, ist demgegenüber eine eigene Frage (so auch der Hrsg., 11). Derrida gilt als Kronzeuge der Theorie, die die Gabe durch ihre moralische Aufladung de facto zum Verschwinden bringt (47 ff.), Levinas dagegen als der, der eine gabelose, »absolute« Beziehung propagiert und so den durch die soziale Welt erst möglichen Gabentausch außer Blick drängt (102–106.222–227). Bei Ri-cœur konstatiert der Vf. viel Gespür für die Realität der zeremoniellen Gabe, aber er moniert, dass sie zu einer Sonderform führt, nämlich zum Friedenszustand der (religiösen) Agape. Dieser aber, so die Metakritik, ist nicht ein höherer Zustand, sondern lediglich ein »Moment ruhender Rivalität« (189). Die stets prekären Gabeverhältnisse auf der einen und die friedvolle Wechselseitigkeit auf der anderen Seite sind nicht schlechter und besser, sondern schlicht »verschiedene Beziehungssphären« (ebd.).
Ist hier bereits die Religionskritik mit Hilfe des Modells der zeremoniellen Gabe mit Händen zu greifen, macht der Vf. dies in seinem Schlussabschnitt vollends deutlich: Er kommt ein letztes Mal auf die Idee der bedingungslosen Gabe zu sprechen und verfolgt sie bis zur religiösen Idee von der Welt schlechthin als Gabe: die »wesentliche Selbstlosigkeit der Welt« (256, Derridas Wurzeln bei Heidegger). Dies nun gilt ihm als Transfer vom Feld der Er­kenntnis zu den Konstruktionen von Religion und Moral: »Von dieser Art Amalgam hält die im vorliegenden Essay vertretene Position sich fern.« (260) Die selbstlose Gabe, Negativfolie des Buches überhaupt, ist also wesentlich religiös, genauso wie die Ricœursche Idee der Friedenszustände.
Diese Pointen machen das Buch zu einer faszinierenden Irritation: Zum einen überzeugt das Tableau der Gabetypen und ihrer einzelnen Kategorien, bis hin zum Anschluss an die Anerkennungs-debatte. Zum anderen provoziert der an Nietzsche gemahnende Hintergrund, als sei die zeremonielle Gabe Exponent einer stets agonalen Gesellschaft in allen ihren Formen und zugleich Kritik am moralisch-religiösen Diskurs. Die Theologie wird zeigen wollen, inwiefern die selbstlose Gabe zu ihrer Signatur gehört – etwa in der Schöpfungstheologie. Warum aber sollte das mit der strengen Gegenüberstellung der selbstlosen und der auf Anerkennung ge­münzten Gabe einhergehen? Denn schon die Gabe der Schöpfung und des Geschöpfseins zielt doch auf die Antwort des Geschöpfs und damit auf – Anerkennung.