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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

818–821

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Herfarth, Margit

Titel/Untertitel:

Leben in zwei Welten. Die amerikanische Diakonissenbewegung und ihre deutschen Wurzeln.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 482 S. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 53. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-03788-9.

Rezensent:

Thomas Zippert

Diese bei Heinz Schmidt (und Michael Klein) in Heidelberg betreute Doktorarbeit von Margit Herfarth legt man so schnell nicht aus der Hand. Das Buch der derzeitigen Dozentin am Wichernkolleg des Johannesstiftes in Berlin, einer traditionsreichen Ausbildungsstätte für Diakoninnen und Diakone, ist ein Genuss zu lesen. Hier wird nicht amerikanische Diakoniegeschichte (sozusagen re-)im-portiert; nein: Eine kluge Systematisierung mit klaren Fragestellungen, eine Fähigkeit zu anschaulicher Darstellung aus selbst erschlossenen Quellen vor Ort, gut gewählte und ausdrucksstarke Zitate und am Schluss eine Öffnung hin zu Fragen des Verhält-nisses zur beginnenden Sozialen Arbeit und zum Social Gospel machen das Lesen zum Vergnügen. Einzig die Zusammenfassungen der Zusammenfassungen bieten ein paar Wiederholungen, die der Gattung geschuldet sind, machen aber auch dem flüchtigen Leser das Lesen leicht.
Nach Forschungen von Gause und Köser ist diese Schrift weit mehr als ein Lückenschluss für die deutsche Diakonissengeschichtsschreibung, die das Thema in jüngeren Veröffentlichungen nur streift (Norbert Friedrich/Martin Wolff [Hrsg.], Diakonie in Gemeinschaft. Perspektiven gelingender Mutterhaus-Diakonie, Neukirchen 2011 – für Löhe und Amerika sieht das anders aus). Sie lässt sich mindestens so spannend lesen als Untersuchung zu In­kulturationsproblemen und -phänomenen einer sehr deutschen Pflanze, nämlich der Diakonissenbewegung Theodor Fliedners, die sozusagen als Neophyt im Gepäck deutscher Auswanderer in eine dafür zunächst nicht empfängliche Umgebung nach Nordamerika ge­langte. Leser und Leserin tauchen ein in eine Neue Welt.
Von ihrer Methodik her verbindet die diakoniegeschichtliche Arbeit Fragen der Organisations-, Sozial-, Migrations- und Kulturgeschichte mit Genderfragen, denen das ihnen gebührende Ge­wicht beigelegt wird. Inhaltlich geht es ihr um die Frage, ob und wie unter den Bedingungen der Neuen Welt das Fliednersche Konzept der Mutterhaus-Diakonie aufgegriffen, verwandelt und mit Erfolg adaptiert wurde, und zwar gezielt aus einer »transatlantische[n] Perspektive«, die schon zu Beginn klarmacht, dass es spannend wird: Während Fliedner »zum einen den ansonsten zur Untätigkeit und Unfreiheit verurteilten unverheirateten Frauen eine sinnvolle berufliche Tätigkeit und eine entsprechende Ausbildung ermöglichte, zum anderen aber auf ein fest etabliertes patriarchalisches Ordnungsdenken zurückgreifen konnte, um die Schwes­tern zu gehorsamen, tüchtigen Arbeiterinnen zu formen, waren diese beiden Bedingungen in Amerika nicht gegeben« (27). Amerikanische Frauen, auch frisch ausgewanderte, wussten, dass sie frei waren, auch in der Öffentlichkeit. Schon ab 1830 stand ihnen die höhere Bildung offen (z. B. zur säkularen Krankenschwester). Sie konnten ihren Ehepartner frei wählen und selbst berufstätig wer den. Insofern zeugt der meist von frisch ausgewanderten deutschen Pfarrern angeregte Aufbau von Mutterhäusern von einer gewissen Blindheit für die neue soziale Situation. Es mutet aus heutiger Perspektive reichlich naiv an, wie patriarchal gesinnte Vorsteher versuchen, mit Polemiken und Verurteilungen ihre alte Welt in die neue Welt hinüberzuretten.
Aber nicht darum geht es primär, sondern warum es dann doch eine schließlich sehr eigene amerikanische Diakonissenbewegung gegeben hat. Zwischen 1880 und 1930 waren es immerhin um die 200 Institutionen verschiedener Denominationen und mit unterschiedlichem »Migrationshintergrund« vor allem im German Triangle zwischen Cincinnati, St. Louis und Milwaukee (30).
Nach dieser Einleitung schildert H. im zweiten Kapitel quasi als Folie und Vorbild die Geschichte Kaiserswerths bis 1905 und entscheidende Charakteristika der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie. Die Darstellung nimmt von vier Orten ihren Ausgang.
Pittsburgh: Die »Institution of Protestant Deaconesses« (IPD), das erste Mutterhaus Kaiserswerther Prägung in Amerika, wurde 1849 von William Passavant nach Besuch in Kaiserswerth gegründet. Fliedner selbst besuchte es und entsandte vier Schwestern dorthin. Nach wenigen Jahren scheiterte es (Kapitel 3) – hier lassen ausgewählte Schwesternbriefe die wohl auch personell schwierige Situation sehr anschaulich werden.
Philadelphia: Der erfolgreiche Neuanfang im amerikanischen Luthertum ab 1884 wird dargestellt am Beispiel des Mutterhauses dort, das mit sieben Schwestern aus Iserlohn startete, sich zwar personell, organisatorisch und strukturell an Kaiserswerth anlehnte. Dieser Teil des in der Kaiserswerther Generalkonferenz repräsentierten deaconess-movement hatte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt; die weitere Entwicklung wird kurz ge­kennzeichnet, bis zur Gegenwart fortgeführt und unter dem Titel »Modell der alten Welt in der neuen« (270) zusammengefasst, auch wenn die Individualität amerikanischer Schwestern mehr, dafür die Demut weniger gelebt wurde, auch wenn neben der Ar­beit die Spiritualität (Neuendettelsauer Prägung) einen größeren Raum einnahm, während mit dem strikten Ordnungsdenken Kaiserswerther Provenienz bald liberaler umgegangen wurde (auch im Blick auf den Verbleib verheirateter Schwestern). Briefe legen erschütterndes Zeugnis vom Frauenbild deutscher Einwanderer ab.
Dayton: Spuren eines kurzzeitigen und in der Literatur kaum dokumentierten Versuchs eines interdenominationellen Mutterhauses in den Jahren 1891–95, das mit Schwestern der Betheler Schwesternschaft Sarepta startete, werden als Versuch dargelegt, mit Hilfe des deaconess-movement die in Amerika viel offensichtlicheren konfessionellen und sprachlichen Gräben der verschiedenen Einwandererkirchen als Träger gemeinsamer diakonischer Arbeit zu überbrücken – was zu der Zeit noch nicht gelang.
Chicago: Am spannendsten ist die Diakonissenarbeit, die von Lucy Rider Meyer in der dortigen Methodist Episcopal Church an­gestoßen wurde. Mit der von ihr gegründeten und in ihrem Bildungsangebot eindrucksvollen »Chicago Training School« (339 f.!) bildet sich dort um 1885 ein weiterer Nukleus professioneller so-zialdiakonischer Arbeit, der sich zwar an Kaiserswerth orientiert (einige »Marker« werden von H. identifiziert), dann aber eine eigene Entwicklung nimmt. Aus einem Beisammensein in den Ferien entsteht aus dem Schulhaus eher nebenbei ein Deaconess Home eigener Prägung, in dem Gehorsam und Demut fehlen, dafür aber gelebter Glaube, gute Ausbildung und Eigenständigkeit im Mittelpunkt stehen. Diese Schwestern, »Miss« genannt, sind »gesund, aktiv, fröhlich, hübsch, lebhaft und mit gutem Appetit gesegnet« (398) – und haben in dieser Kirche folglich auch ein eigenes Amt.
Das fachliche Profil wurde geschärft durch Auseinandersetzung mit dem Social Gospel und säkularer Sozialer Arbeit – in Gestalt der dort als Dozentin engagierten Jane Addams, die 1889 ebenfalls in Chicago die Hull House Settlement-Bewegung gegründet hatte, von der noch heute wichtige Impulse für Gemeinwesenarbeit ausgehen (422 f.; das hätte etwas ausführlicher sein dürfen). Vertieft wurde es durch eine eigene, sehr breite und vielfältige Öffentlichkeitsarbeit in Form von »Deaconess Stories« und Diakonissenromanen.
Diese so zukunftsträchtigen Ansätze professioneller diakonischer Arbeit in den methodistischen Kirchen werden in den 1930er Jahren durch »The great reversal« weg von liberal-progressiven zu evangelikalen Positionen zurückgenommen, aber nicht gänzlich aufgegeben; es gibt sie bis heute.
Ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis rundet diese hervorragende Arbeit ab.