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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

807 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Profile - Krisen - Perspektiven. Zur Lage des Protestantismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 248 S. 8 = Bensheimer Hefte, 80. ISBN 3-525-87169-4.

Rezensent:

Christofer Frey

Die Stimme des Bonner Sozialethikers Martin Honecker ist in öffentlichen Diskussionen des deutschen Protestantismus wichtig; seine Beiträge lassen sich in zentralen Denkschriften der EKD mittelbar vernehmen. Der Vf. der hier vorzustellenden Diagnose des deutschen Protestantismus hat sich immer wieder gegen eine von ihm befürchtete theokratische oder klerikale Tendenz aufgrund einer bestimmten Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung und eines Linksbarthianismus ausgesprochen; weniger deutlich wurde dagegen seine Distanzierung gegenüber dem Konservatismus gehört, obwohl sie im Namen einer kritischen Vernunft erfolgte (vgl. sein "Konzept einer sozialethischen Theorie", Tübingen 1971). Aufgrund dieser Mittelstellung heraus ist der Blick des Vf.s auf den gegenwärtigen Protestantismus höchst aufschlußreich. Obwohl die deutschen Kirchen einen großen Teil der ökumenischen Aktivitäten finanzieren und zudem im Ursprungsland der Reformation zu Hause sind, ist die Stimme des deutschen Protestantismus häufig genug nicht gehört worden. Vielleicht hat er sich auf Grund der mörderischen Geschichte Deutschlands im 20. Jh. zurückhalten müssen. Aber sein Wort müßte heute kräftiger werden - angesichts der Globalisierung, die den Völkern der Erde ein bestimmtes Wirtschaftssystem aufzwingt, aber auch angesichts der europäischen Einigung, die den katholischen Bischöfen Europas offenbar eher als Chance und Herausforderung bewußt geworden ist. Um so wichtiger ist eine Diskussion des notwendigen Profils des deutschen Protestantismus. Honecker geht sie aus der Sicht eines neuzeitlichen deutschen Luthertums an; die Weltwirkungen des Calvinismus (der den deutschen Protestantismus bekanntlich nicht unberührt gelassen hat) rücken an den Rand.

H. bestimmt das Profil des Protestantismus von der Lebensform her (7). Dabei fällt auf, daß der aus der neueren Philosophie stammende Begriff der Lebensform hauptsächlich unter ethischen Gesichtspunkten entfaltet wird. Die praktisch-ethische Lebensform bedarf einer Begründung, zumal - wie der Autor feststellt - in der gegenwärtigen Situation Gott weitgehend unbekannt (9 ff.), der Markt der Religionen unübersichtlich (10) und ein allgemeiner Traditionsabbruch zu konstatieren ist (12). Troeltsch und Elert hatten einst mit ihren Analysen einen Blick auf die allgemeine geistige Situation der Zeit verbunden, auch wenn sie diese unter beinahe konträren Gesichtspunkten betrachteten. H. geht eher von einer Binnensicht aus, die sich an einigen Stellen auf die Krise der gesellschaftspraktischen Vernunft ausrichtet. In der Krise des Fortschrittsgedankens (16) wird ein politisches Profil des Protestantismus gefordert (114 f.), der die ihm eigentümliche Zweireichelehre ernst nehmen soll (121). Zwar verdient sie geschichtliche Kritik, vor allem wenn das Reich der Welt mit der Nation oder der Heimat verbunden wird (125 ff.), aber sie gibt der Vernunft ein Recht, wenn die Thesen 2 und 5 der Barmer Theologischen Erklärung verbunden werden, während doch die fünfte allein dem Staat die notwendige Freiheit läßt. Damit will H. der Zivilgesellschaft entgegenkommen (160 ff.), Maßstäbe des bürgerlichen Lebens bewahren helfen und der Säkularisierung einen Wahrheitsgehalt zusprechen (169).

Wenn die protestantische Lebensform so umfassend mit der modernen Gesellschaft verbunden sein soll, darf sie nicht doppeldeutig werden und auf der einen Seite soziales Handeln und gesellschaftliche Praxis allen aufgeben, auf der anderen Seite die Sinnwelten an das Individuum je für sich delegieren. Der protestantischen Lebensform sei es eigentümlich, Rechenschaft über die Freiheit zum Handeln abzulegen (50 ff.). Eine befreite Vernunft müsse sich im Raum des Wirklichkeitsbezuges des Evangeliums entfalten können. Deswegen darf die umfassende Lebenswirklichkeit nicht in die Bereiche des Innerlichen und Äußerlichen unterteilt werden (52 f.). Diese beiden Perspektiven müssen in ihrer Gegensätzlichkeit an einem Menschen hervortreten (57).

Jedoch fällt dem Vf. die Vermittlung der Doppelperspektive mit der Sozialität des Protestanten schwer, weil er Luthers Verständnis der Freiheit zunächst einmal mit Hilfe von vier Negationen bestimmt: Die Freiheit sei nicht Freiheit der Kirche, auch nicht politisch gemeint oder psychologisch zu verstehen, und schon gar nicht absolut. Solche Negationen dürfen nicht mit extremer Konsequenz durchgeführt werden, denn der Protestantismus soll nicht die Kritik des Philosophen Charles Taylor auf sich ziehen (61). Wie es aber der Existenztheologie (die hinter diesem Freiheitsverständnis steht) nie gelungen ist, ihre Einsichten mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu vermitteln, so bleibt der Vf. leider auch bei der Versicherung stehen, daß die reformatorische Theologie eine Art Befreiungstheologie sei (62). Wie soll diese Befreiung Gestalt in der Gesellschaft gewinnen?

Im Blick auf die Kirche konstatiert H. eine Spannung zwischen Idee und Freiheit (177). Im Blick auf die Bildung geht ihm die Idealismuskritik vor allem der Theologie der zwanziger Jahre zu weit (93). In Hinsicht auf die Wirtschaft wird sich vermutlich mancher Leser eine deutlichere Aussage wünschen, wie Intentionen des Wirtschaftsliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft zu vermitteln seien (139 ff.). Je brüchiger und abstrakter ein Universalismus wird, desto mehr werden die spezifischen Traditionen und Kulturen vor die Frage gestellt, welchen Beitrag sie zur humanen Entwicklung der Welt vorschlagen können oder wollen. Während H. vor allem das Freiheitsverständnis profilieren und es in die Auseinandersetzung mit modernem Individualismus führen möchte (212), müßte eine zeitgemäße protestantische Lebensform auch die kritische Vermittlung mit dem Gleichheits- und Solidaritätsgedanken zu suchen. Hat nicht der Protestantismus - etwa seit Pufendorf - das Verständnis der Person und damit auch eines modifizierten Natur- oder Vernunftrechts profiliert? Wie hat sich diese Tradition im modernen Protestantismus Gestalt gegeben? Oder ist sie verdrängt worden?

H. hat einen allgemeinverständlichen Überblick zur protestantischen Politikberatung niedergeschrieben (offenbar manchmal etwas schnell, wie lexikalisch wirkende Aufzählungen beweisen, z. B. 94 ff.), aber damit noch einmal jene Fragen verdeutlicht, die der Protestantismus in der modernen Welt immer wieder in Angriff nehmen muß.