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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

806–808

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Uytanlet, Samson

Titel/Untertitel:

Luke-Acts and Jewish Historiography. A Study on the Theology, Literature, and Ideology of Luke-Acts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVIII, 327 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 366. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153090-6.

Rezensent:

Knut Backhaus

Diese Londoner Dissertationsschrift von Samson Uytanlet sucht eine religionsgeschichtliche Kluft in der Lukasforschung zu schließen: Während das lukanische Doppelwerk unter theologischem Ge­sichtspunkt im Rahmen der alttestamentlich-frühjüdischen Überlieferung untersucht wird, wird es unter literarischem Ge­sichtspunkt zumeist in der hellenistisch-reichsrömischen Ge­schichtsschreibung verortet. Dagegen geht der Vf. von der triftigen Annahme aus, dass bio- und historiographische Gestalt und theologischer Inhalt nicht voneinander zu trennen sind.
Im Anschluss an die (eher aufzählende als durchdringende) forschungsgeschichtliche Situierung seiner Fragestellung (1–24) un­tersucht der Vf. das Problem in drei komparativen Umläufen. Der erste widmet sich dem theologischen Verstehenskontext antiker Geschichtsschreibung (25–69), der zweite dem Texttypus der Nachfolgeerzählung (71–157), der dritte dem Deutungskonzept (»ideol-ogy«) von Genealogie, Landnahme und göttlicher Herrschaft (159–254). In allen drei Fällen gelangt der Vf. zu dem Urteil, dass das lukanische Doppelwerk der alttestamentlich-frühjüdischen Vorgabe näher steht als griechisch-römischer Vergleichsliteratur.
Zu 1) Der Vergleich zwischen paganer und lukanischer Theologie scheint reizvoll, aber die Rekonstruktion der ersten enttäuscht. Der Vf. beansprucht nur, einen »snapshot« (33) zu bieten, aber selbst dieser ist ein Zufallsphoto, dazu noch verwackelt. Es ist sicher richtig, dass pagane Historiographie nicht zwischen dem »profanen« Ge­schichtsverlauf und dem Einwirken numinoser Mächte trennt, aber der Vf. vermengt die religio mythica mit religionsphilosophischer Geschichtsdeutung und versteift sich auf das euhemeristische Konzept von Göttern als vergöttlichten Herrschern. Der Un­terschied zwischen jüdischer und paganer Geschichtsdeutung liegt, wie der Vf. betont, zweifellos im konfessorischen Charakter der ersten, aber darüber hinaus in dem Umstand, dass sie die religiöse Tradition als »Rezeptwissen« und damit als Konstruktionsansatz nutzt. In der paganen Geschichtsschreibung ist sie dagegen eher Erzählinhalt als Ordnungsfaktor. Der Vf. gelangt zu dem Ergebnis, das Doppelwerk setze die JHWH-Erzählung der Schriften Israels fort, und folgert: »Hence, Luke-Acts is best seen as Jewish theological history« (69). Das genannte Ergebnis steht außer Zweifel, aber um seinetwillen hätte es des Aufwands kaum bedurft. Die Folgerung indes scheint insofern unterkomplex, als sie das eigentliche Problem – eine theologische Geschichtsdeutung im kulturellen Schnittfeld zwischen »Israel« und »paganer Umwelt« – ausklammert.
Zu 2) Strukturelles Merkmal einer Nachfolgeerzählung sind die vielfältigen Parallelen, die wir in Lk/Apg zwischen Jesus und den Evangeliumsboten, namentlich Petrus und Paulus, finden. Der Vf. sieht sich hier vor die Alternative zwischen einer paganen Nachfolgeerzählung, den Vitae philosophorum des Diogenes Laertios (Ch. H. Talbert), und – neben der Mose-Josua-Achse – dem Elija-Elischa-Zyklus (Th. L. Brodie) gestellt. Der Vorschlag Talberts umgeht elegant die Schwierigkeit, dass Lk/Apg eine bio-/historiographische Mischgattung darstellt. Angesichts der doxographischen Ausrichtung der Vitae philosophorum überrascht es nicht, dass der Vf. sich für die alttestamentliche Variante entscheidet. Auch hier freilich führt ihn das Interesse am Kontinuum zur Einseitigkeit: Dass Petrus und Paulus mittels der parallelen Konfiguration als Jesu »successors« präsentiert werden (118.149 u. ö.), Petrus gar als »new Jesus« firmiert (136) und Paulus im Leiden seinem »Vorgänger« Jesus entspricht (144), verdankt sich eher der verfolgten These als der christologischen Grundlinie des Lukas. Die Funktion solcher Rekurrenz liegt jedoch nicht in der theologischen Gleichsetzung der Aktanten, sondern im typologischen Aufweis bestimmter Sinnmuster, die die Geschichte der werdenden Kirche lesbar machen.
Zu 3) Bei den politischen Konzepten vereinfacht der Vf. wieder sehr, wenn er der paganen Geschichtsdeutung pauschal zu­schreibt, dass die Götter »chief orchestrator of history« seien und damit irdische Königreiche legitimierten (178). Abermals verzerrt die gezwungen wirkende alttestamentliche Perspektive die lukanische Christologie: Jesus wird als frommer davidischer König JHWHs Koregent, der sich durch Erez Israel definiert und die Tora verkörpert (z. B. 196.215.251 f.), während etwa Pilatus im Sinne von Num 35,33 f. das »Land« verunreinigt (vgl. 225) und ausgerechnet Agrippa II. den Satan vertritt (231). Überhaupt nimmt der Vf. die politische Option des Lukas unnuanciert apokalyptisierend wahr. Gerade hier wäre der Seitenblick auf zeitgenössische (jüdische wie pagane) Geschichtsschreibung und deren Oppositionsstrategien aussagekräftiger gewesen.
Wer eine bestimmte Fischsorte fangen will, wählt sich ein Netz, dessen Maschenöffnung dazu passt. Am Ende dieses Fischzugs finden wir eine Reihe alttestamentlicher Deutungsmuster im exegetischen Netz. Was ist für die Lukasforschung damit gewonnen?
Bereits die Grundannahme, die Exegese scheide zwischen einer jüdischen Theologie und einer »griechisch-römischen« Gestalt, ist anfechtbar. Die im Ganzen sorgfältige Untersuchung erschließt keineswegs eine spezifisch jüdische Geschichtsschreibung, sondern bestimmte biblische Deutungsfiguren, die Lukas, wirklich oder vermeintlich, übernimmt. Das liegt angesichts des biblischen Verstehensrahmens von Lk/Apg durchaus nahe, trägt aber zur Frage der historiographischen Gestalt wenig bei. Wo der Vf. tatsächlich jüdische Historiographie heranzieht, bleibt der Ertrag dünn (z. B. 112–116). Die zeitgenössische Biographie, die für den ersten Teil des Doppelwerks deutliche Relevanz besitzt, kommt erst gar nicht in den Blick. Die Funktion des »Alten Testaments« für Lukas liegt nicht in der literarischen Gestalt, sondern in der Motiv- und Traditionsgeschichte sowie vor allem in der Herkunftsmimesis: Er bedient sich der Schriften Israels als des normativen Herkunftsgemäldes des werdenden Christentums. Indem er dies unternimmt, beteiligt er sich – freilich als »apologetischer Historiograph« einer kulturellen Minderheit (G. Sterling) – am späthellenistisch-frühreichsrömischen Ge­schichtsdiskurs. In dieser Hinsicht ist die suggestive Ausgangsfrage »Is Luke-Acts Hellenistic writing containing Jewish theology? Or to put it in another way: Is Luke-Acts Jewish theology in Greco-Roman garb?« (19) durchaus zu bejahen. Aber diese Bejahung bleibt trivial, weil die Diastase Judentum/Hellenismus längst überwunden ist. Vielmehr möchte man erfahren, warum sich bei Lukas (wie bei anderen apologetischen Historiographen) die frühjüdisch-urchristliche Theologie eines neuen Gewandes bedient. Wo das Geschichts- und Gattungskonzept des Lukas Brücken baut, rechnet der Vf. mit Ufern und nötigt ihn mit sanfter Gewalt an das »jüdische«. In der Tat ist die theologische Synthese des lukanischen Doppelwerks von seiner literarischen Synthese nicht zu trennen. Gerade dieser Syntheseleistung wird die Untersuchung jedoch nicht gerecht.