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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

792–795

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grandy, Andreas

Titel/Untertitel:

Die Weisheit der Gottesherrschaft. Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 266 S. m. 3 Abb. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 96. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-53978-1.

Rezensent:

Martin Ebner

Andreas Grandy wagt sich in seiner Dissertation, die von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg in der Schweiz angenommen wurde, an ein klassisches Streitthema der Exegese: an die Verortung des historischen Jesus zwischen Apokalyptik und Weisheit, präziser: an die Verortung der jesuanischen Weisheit zwischen traditioneller und apokalyptischer Weisheit. Mit Rekurs auf die Fragen der »›bauernschlauen‹ Nazarener« (15) in Mk 6,2 hält G. gleich zu Beginn fest: »Es wird sich bestätigen, dass Jesu σοφία zutiefst mit seiner Praxis und der darin sichtbar werdenden δύναμις zusammenhängt. In ihr zeigt sich, welche neue Qualität die Gegenwart jesuanischer Option erhalten kann, wenn die Synthese von apokalyptisch-feuriger Dramatik des Kampfes der himmlischen Mächte hinter den Kulissen der Geschichte und traditionell-weisheitlicher Ruhe und Zuversicht aufgrund der in Genesis grundgelegten Schöpfungsordnung gelingt« (17). Die Grundlage (»Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung«: 15–48) bildet eine kundige und leichtfüßig geschriebene Charakterisierung der typisch jüdischen Weisheitskonzeptionen in hellenis-tisch-römischer Zeit: auf der einen Seite die traditionelle Weisheit (als Tora Gottes), die auf die paradiesische Schöpfungsordnung rekurriert, aber selbst in den Gebrochenheiten der Gegenwart nach »Gehwegen« sucht, die diese Defizite beheben können, was ein grundsätzliches Vertrauen in die Gegenwart zeigt, so dass entsprechende Handlungsimpulse gesetzt werden; auf der anderen Seite die apokalyptische Weisheit, die von einer gänzlichen Zerbrochenheit der gegenwärtigen Wirklichkeit ausgeht und deshalb alles Heil in der von Gott gesetzten Zukunft erwartet. Auf diesem Hintergrund werden typische Jesusdeutungen vorgestellt, die den historischen Jesus auf einer der beiden Seiten (schwerpunktmäßig) verorten wollen (Merklein, Weder, Löning, Zeller, von Lips, Ebner, Rondez). G. möchte diesen Hiatus schließen, indem er die Trans formation apokalyptischer (49–86) sowie traditioneller (86–117) Weisheit »unter besonderer Berücksichtigung der gegenseitigen Durchdringung beider Weisheitsstränge darzustellen« (45) versucht sowie eine Spezialuntersuchung zum Logion vom Berge versetzenden Glauben (Mk 11,23 par Mt 21,21; Lk 17,6; Mt 17,20) an­hängt, die aus seiner Lizenziatsarbeit hervorgegangen ist und eine ausführliche Motivgeschichte zur jüdischen Tradition der »hüpfenden Berge« (samt eines interkulturellen Vergleichs) bietet (166–216).
Das auf den ersten Seiten angekündigte Ergebnis wird am Ende differenziert aufgegriffen: »In weltanschaulicher Hinsicht zeichnet sich jesuanische Weisheit dadurch aus, dass sie die traditionell-weisheitliche Ruhe der Geschichte aufbricht und die apokalyptisch-weisheitliche Dramatik hinter den Kulissen irdischen Ge­schehens entscheidend umwandelt in eine lebensförderliche Dynamik innerhalb der Geschichte. Nur durch diese Transformation beider weltanschaulicher Optionen wird es möglich, dass die apokalyptische Abwertung des gegenwärtigen Äons überwunden [sic!] und sich im Kairos der Gegenwart Freiräume der sich bereits realisierenden βασιλεία τοῦ θεοῦ eröffnen können. Diese Freiräume sind dabei nicht einfach als zeitliche Vorwegnahme der βασιλεία τοῦ θεοῦ zu deuten, sondern vom Machtaspekt der βασιλεία und ihrem Raumgewinnen in der Gegenwart her zu verstehen. Sie werden zu einem Machtbereich Gottes; in ihnen kommt Gottes lebensförderliche Kraft zum Ausdruck und es scheint auf, was es mit erfülltem Menschsein von Gott her auf sich hat« (244 f.). Was G. hier konzise und treffend formuliert, wird wohl kaum ein Jesusforscher bestreiten, insbesondere wenn Lk 10,18 als Schlüsselvision dafür gewertet wird, dass – gemäß der Überzeugung Jesu – die Herrschaft Gottes bereits in der Gegenwart Platz auf dieser Erde greift, was insbesondere in den Krafttaten Jesu empirisch zum Ausdruck kommt. So ähnlich lässt sich der Sachverhalt inzwischen in vielen Jesusbüchern lesen. Der Fortschritt, den G. zu erreichen anstrebt, besteht aber darin, dass er die apokalyptisch in die Zukunft verlegten Erwartungen als Impuls für das Handeln in der Gegenwart in den Logien Jesu festmachen will. Am besten gelungen zu sein scheint mir das im Blick auf das Doppellogion von den Raben und den Lilien (Mt 6,26.28–30 par Lk 12,24.27 f.). Pointiert stellt G. den Überschuss des Raben- und Lilienbeispiels heraus: Hier werden alle Ambivalenzen der Gegenwart ausgeblendet und – gemäß G. – eine »paradiesische Wirklichkeit« (108) als Handlungsimpuls für die Gegenwart vor Augen gestellt: »Die traditionelle Weisheit erfährt eine Radikalisierung durch den apokalyptischen Horizont, so dass die traditionell-weisheitlichen Freiräume, worin die Gegenwart fragmentarisch möglichst nahe an das verlorene Paradies herangeführt werden sollte, zu Orten vollends paradiesischer Zustände und damit zu anfanghaften Realisierungen jener neuen Wert- und Lebensordnung werden, die im apokalyptischen Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ als Orientierung aufscheint« (110). Das ist großartig formuliert. Geht man jedoch ins Detail, lässt sich aus den beiden Sprüchen lediglich das (passive) Vertrauen auf Gottes Fürsorge herauslesen. Erst über das Abschlusslogion der Spruchreihe (»Sucht zuerst das Reich Gottes …«) in Verbindung mit der Warnung vor übertriebener Sorge zu deren Beginn kann man tatsächlich zu einem Handlungsimpuls vorstoßen, nämlich jegliche Fixierung auf die Sicherung des Lebensunterhalts hinter sich zu lassen.
Mag ein Doppelspruch aus der Spruchquelle (auch wenn er im Kontext der gesamten Spruchreihe interpretiert wird) als belastbares Material für den historischen Jesus gerade noch angehen, wird es schwierig, sobald einzelne Logien, darunter das »Wanderlogion« von den Ersten und Letzten (Mk 10,31 par; Mt 20,16; Lk 13,30 sowie Mk 9,35; 10,43 f.), im Kontext der jeweiligen synoptischen Evangelienschrift interpretiert werden (so auch die Logien von den Großen und Dienenden, den Erhöhten und Niedrigen, vom Kamel und Nadelöhr sowie von Gott und dem Mammon). Dass der historische Jesus einen »solidarische[n] Umgang« mit Besitz anstrebt, »der nicht irdische Schätze sammelt (Mt 6,19), sondern alles aufgibt und dafür schon im gegenwärtigen Kairos das Vielfache zurück erhält« (112; leider mit irreführendem Stellenverweis: Mk 10,25 parr statt Mk 10,29 f.; vgl. 61) und dadurch die Tendenzen apokalyptischer Weisheit, die Reichtum in dieser Welt generell verteufelt, hinter sich lässt, aber auch die traditionell-weisheitlichen Leitkonzepte, die die Sozialpflicht des Eigentums anmahnen, durch subversive Tendenzen (Sprüche von Gott und Mammon: Mt 6,24) zuspitzt, dieses Ergebnis kann G. nur dadurch erreichen, dass er sich u. a. auf die Gemeinderegel in Mk 10,29 f. stützt. Dieser prinzipiellen Schwierigkeit, sicher als Gemeindebildungen ausgewiesene Traditionen auf den historischen Jesus zurückzuführen, ist sich G. allerdings bewusst (vgl. 72). Wohl deshalb streut er mehrfach »Rückfragen nach dem historischen Jesus« ein (84–86.114–117.241–243), die aber auch nicht viel weiter helfen. Denn sie kommen über ein »wahrscheinlich« (86) bzw. die Behauptung »größte[r] Plausibilität« (84) nicht hinaus. Es geht vielmehr um eine prinzipielle Entscheidung, die im Zusammenhang der methodischen Reflexion (47 f.) folgendermaßen zur Sprache gebracht wird:
»Die Jesuslogien werden […] mit dem zur Verfügung stehenden philologisch-literaturwissenschaftlichen Instrumentarium in synchroner Hinsicht in ihrem jetzigen Kontext der synoptischen Evangelien und in ihrem Verhältnis zu anderen Logien des Forschungsbereiches verortet und verstanden. Ohne sich in (fragwürdige und letztlich irreführende) hypothetisch-spekulative Rekonstruktionen zu verlieren, werden besonders bei Doppelüberlieferungen in Mk* und Q traditionsgeschichtliche Zusammenhänge (basierend auf der Zwei-Quellen-Theorie) und redaktionelle Gestaltung bei den einzelnen Evangelisten nur soweit untersucht, als sie für das Verständnis wesentlich sind.« (47)
Im Blick auf das Logion vom »Berge versetzenden Glauben« legt G. aber dann doch zumindest Überlegungen für die Rekonstruktion bzw. die Gestalt eines einzigen Urlogions bzw. zweier ursprünglicher Ausgangslogien vor – und entscheidet sich für Letzteres (118–126): Beide Motive, sowohl das vom Versetzen des Maulbeerbaumes (vgl. Lk 17,6) als auch des Berges (vgl. Mk 11,23) als Zeichen für den (Senfkorn-)Glauben »können […] auf Jesus selbst zurückgehen« (125). Untersucht wird dann aber nur das Motiv vom Bergeversetzen. Über den apokalyptischen Traditionsstrang, der z. B. in Dan 2,44 oder Ass Mos 10,4 den Berg bzw. das Erbeben und das Einebnen der Berge mit dem Erscheinen der Gottesherrschaft in Verbindung bringt, und über den πίστις-Begriff, wie er im Mk- bzw. MtEv ge­prägt wird (136–141.162–165), will G. das Logion als Ausdruck der eigentlich erst für die Zukunft erwarteten Dynamik der Gottesherrschaft lesen, die in den Krafttaten Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger bereits in der Gegenwart aufscheint:
»Jesus teilt die große Vision vom Kommen Gottes und übernimmt daher das endzeitliche Bild des Bergeversetzens in der ganzen Radikalität der Endzeit; er macht aber den ›apokalyptischen Exodus aus der Gegenwart‹ nicht mit, sondern gibt dem Kommen Gottes bereits in der Gegenwart einen Ort: in den Freiräumen des heilenden und wunderwirkenden Handelns seiner selbst und seiner Jüngerinnen und Jünger.« (223)
Wie aus dem Kurzreferat und den Kommentierungen zu sehen sein dürfte, wäre als Titel für die Arbeit angemessener gewesen: »Die Wirkungsgeschichte jesuanischer Weisheit in den synoptischen Evangelien«. Die Hoffnung von G., dass »unsere Darstellung […] nicht zu viele Kratzer davon tragen wird, sondern durch den Einbezug der einen oder anderen zusätzlichen Erkenntnis weiteren Glanz gewinnen kann« (114), hat sich in meinen Augen insofern erfüllt, als die Überlagerung von Apokalyptik und Weisheit im Auftreten Jesu in gelungene, zitationsfähige Formulierungen überführt wird. Ob dieses Ergebnis aber wirklich von dem untersuchten Material abgelesen werden kann und ob die be­wusst gewählte synchrone Methodik dafür geeignet ist, wage ich zu bezweifeln.