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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

805–807

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hilpert, Konrad

Titel/Untertitel:

Caritas und Sozialethik. Elemente einer theologischen Ethik des Helfens.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1997. 271 S. gr.8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-506-73919-0.

Rezensent:

Horst Seibert

Das Buch bietet keine systematische Darstellung ethischer Probleme im sozialen Zusammenhang, sondern ein interessantes Konglomerat aus Vorträgen vor Caritas-Gremien, Gutachten für den Caritas-Präsidenten und Artikeln für die zentrale Zeitschrift des Caritasverbandes. D. h., die Beiträge des Saarbrücker Professors können eigentlich jeweils für sich stehen, müssen nicht im Zusammenhang gelesen werden; wenn man’s freilich tut, stellt sich eine Ahnung davon ein, in welchen Terrains sich einer, der Caritaswissenschaft (oder Diakoniewissenschaft) betreibt, bewegen können muß: er braucht eine funktional und sozial "leistungsfähige" Theologie (um christlich begründetes Hilfehandeln für die soziale Praxis definieren und für caritativ-diakonische Konzeptionen bereitstellen zu können), wissenschaftstheoretische Argumentationsfähigkeit (um das Gespräch zwischen Theologie und Human- und Sozialwissenschaften u. a. m. sachgerecht führen zu können), detaillierte Kenntnisse der Kirchen- und Sozialgeschichte aller Epochen (um christliche Gestaltungen und Gestalter/innen der sozialen Wirklichkeit im zeitgeschichtlichen Kontext deuten zu können), gediegenes Wissen über Organisationstheorie (um Strukturen und Handlungsformen organisierter Nächstenliebe beurteilen zu können) und gründliche Einblicke in Sozialrecht und Sozialpolitik (um die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für christlich begründete soziale Arbeit zu den theologischen Intentionen dieser Arbeit in Beziehung setzen zu können). Und als katholischer Wissenschaftler muß einer - das ist ein Spezifikum gegenüber dem evangelischen Diakoniewissenschaftler - versiert sein im Umgang mit Sozialenzykliken, Dogmatischen Konstitutionen, Dekreten und Pastoralkonstitutionen, um z. B. zum Problem von Norm und geschichtlichem Wandel Stellung nehmen zu können, um sich z. B. noch in der Anfrage zurückzubinden und z. T. radikal klingende sozialtheologische Positionen abzusichern: auch noch in der Kritik an der Idee einer "einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge" (so in der Sozialenzyklika Rerum novarum).

Wenn man das Buch in Gänze liest, erschließt sich einem, daß dieses große Spektrum H. zur Verfügung steht; daß zwar manches nur gestreift werden kann, daß aber zu einem Streifzug mit Tiefgang eingeladen wird. Und den evangelischen Leser beschleicht hier und da die Ahnung, sich dabei möglicherweise in einer subtil und nobel geführten Auseinandersetzung über das katholische Profil, die katholische Identität der Caritasarbeit zu befinden.

Das Buch besteht aus 15 Einzeluntersuchungen, die durch einen etwas künstlich gewirkten roten Faden verbunden sind - mit den Abschnitten "Theologische Perspektiven", "Geschichte", "Gesellschaftliche Kontexte" und "Krankheit als exemplarisches Feld". Aus der Fülle behandelter Themen greife ich im folgenden einige wenige heraus.

Der Vf. sieht die Caritasarbeit zum einen generell der Gefahr der kirchlichen Randständigkeit ausgesetzt, zum andern der der entlastenden Delegation der Nächstenliebe an sozialberufliche Spezialisten. Daher ist er insbesondere bemüht,

- die Caritas mit dem kirchlich Unverzichtbaren zu verknüpfen (Caritas als "Vollzug dessen, was Kirche letztlich sein will: nämlich Sakrament" [28]; als "ein Ort, an dem Kirche jeweils neu entsteht" [29], als "Glaubwürdigkeitskriterium für die Wahrheit dessen, wofür Kirche steht" [31]),

- die katholische Soziallehre in Adaption v. Nell-Breunings als "ganz spezifische Fortsetzung und Ausdifferenzierung der Tradition kirchlicher Caritas" (40) auszuweisen (demnach mußte die Caritas auf beschwerlichem Wege der Kirche zum Begreifen der sozialen Frage verhelfen)

- und als theologische Zentralidee für die Arbeit des Caritasverbandes das prophetische Prinzip zu entfalten (54 ff.), das die Merkmale des aktuellen Bezugs, der Kritik, des Anwaltschaftlichen, des Sich-Riskierenden, Unkonventionellen, und des Politischen hat. Die dreifache Elementarisierung des Prophetischen (1. "die besondere Zuwendung zu den Schwachen und Armen", 2. eine die Wirklichkeit transzendierende Hoffnung, 3. die Bereitschaft, sich den persönlichen Einsatz etwas kosten zu lassen [66]) bildet de facto Kriterien aus, die es möglich machen, auch diejenigen Caritas-Mitarbeiterschaften, die sich nicht religiös artikulieren und definieren, in die Verbandsarbeit (und kirchlich!) zu integrieren: Sie handeln so gleichwohl "aus der Perspektive Gottes" (67; spez. in der Pflege: 244) - und dazu ohnehin im Einklang mit christlicher Wirkungsgeschichte. Zugleich definiert aus dieser Perspektive die Bedürftigkeit "den Nächsten". Dieses Perspektiven-Verständnis, sozusagen der prophetisch-caritative Blick, bildet bei H. eine erkenntnistheoretisch relevante Kategorie: "Die Gerechtigkeit erweitert sich zur sozialen Gerechtigkeit, die Liebe zur Solidarität" (43).

Gerechtigkeit und Solidarität sind m. E. die ethischen Zentralkategorien, die der Vf. explizit und implizit darlegt:

- explizit z. B. bei Darstellung und Würdigung W. E. von Kettelers (er habe eine Gesellschaftsdiakonie propagiert, "die auf der Gleichwürdigkeit aller Glieder fußend Freiheit mit dem solidarischen Einstehen füreinander zu verknüpfen sucht" [97]) und O. von Nell-Breunings, des "Inbegriffs der katholischen Soziallehre und ihres Potentials an Humanität" (130);

- implizit z. B. in wertethischen Urteilen zu Fragen der pränatalen Diagnostik, der Bioethik, zur Technisierung der Medizin u. ö.; H. wendet sich z. B. gegen die Sicht von Krankheit als Defekt, gegen illusionäre Glücksbilder, gegen technologische Lösungen, die blind seien "gegenüber den Sinnwerten", fordert aber auch "eine Kultur der Argumentation im bioethischen Diskurs" (186), denn "Selbstzufriedenheit mit moralischer Entrüstung wäre noch unerträglicher ..." (251).

Gerechtigkeit und Solidarität sind für H. das Gegengift zur traditionellen Verinnerlichung der "Nächstenliebe", die meist "verdünnt" werde zu einer Grundeinstellung aus Achtung und Wohlwollen: im Neuen Testament sei sie aber immer verbunden mit Hilfe.

Die Tragweite der Wahrnehmungsproblematik veranschaulicht Hilpert eindrücklich durch zwei Rückblicke: Er analysiert die Beiträge der Zeitschrift "caritas" zur weiblichen Hilfebedürftigkeit und zur weiblichen Sozialberuflichkeit im Zeitraum von hundert Jahren, von 1895 bis 1995. Er beobachtet bei der Caritas Zurückhaltung bei der Annäherung an emanzipatorische Positionen ("... gewisse Empfindlichkeit im kirchlichen Kontext", 125) und beachtenswerte Lernprozesse.

Nach einer differenzierten Auseinandersetzung mit Peter Singer und zugleich mit denen, die sich mit Singer eher moralisierend auseinandersetzen, hört das Buch auf. Einfach so. Ohne Zusammenfassung oder Schlußwort. Mitten in den Diskussionen - wie als Gefühl zurückbleibt. Man hätte weiterlesen mögen.