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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

780–782

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schwartz, Daniel R., and Zeev Weiss [Eds.]

Titel/Untertitel:

Was 70 CE a Water-shed in Jewish History?On Jews and Judaism before and after Destruction of the Second Temple.

Verlag:

Ed. in collaboration with R. A. Clements. Leiden u. a.: Brill 2012. XV, 548 S. m. Abb. = Ancient Judaism and Early Christianity, 78. Geb. EUR 173,00. ISBN 978-90-04-21534-4.

Rezensent:

Beate Ego

Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. stellt – so haben es Generationen von Studierenden als eine Selbstverständlichkeit gelernt – eine fundamentale Epochengrenze in der Geschichte des antiken Judentums dar, deren Relevanz gar nicht überschätzt werden kann, da dies das Ende des priesterlich dominierten Judentums und den Beginn des synagogalen rabbinischen Judentums bedeutet. Dass dieses Geschichtsbild bei Weitem nicht so evident ist, wie man es zunächst annehmen möchte, demonstriert Daniel Schwartz in dem hier vorliegenden Band, der verschiedene Beiträge einer Konferenz am Jerusalemer Scholion Center for Interdisciplinary Research in Jewish Studies aus dem Jahre 2009 zusammenstellt, zunächst in einem einführenden Forschungsüberblick (»Was 70 CE a Watershed in Jewish History?«, 1–19). Tatsächlich finden sich in der Geschichte der Erforschung des antiken Judentums ganz unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels.
So maß man diesem Ereignis für die Epocheneinteilung des Judentums zunächst in einer ersten Phase, die ungefähr bis in die Mitte des 20. Jh.s dauerte, zunächst gar keine fundamentale Bedeutung zu, da man davon ausging, dass sowohl vor als auch nach 70 die pharisäische Bewegung bzw. deren Erben, die Rabbinen, die bestimmende Gruppierung innerhalb des Judentums darstellten. Der Zerstörung des Tempels als einer primär priesterlichen Einrichtung musste vor diesem Hintergrund für eine Epochengrenze kein allzu großes Gewicht beigelegt werden. Dies änderte sich freilich, als man – vor allem durch den Impuls der Funde aus Qumran – die Bedeutung des Priestertums weitaus höher einzuschätzen begann, als dies in dem älteren Konzept der Fall war. Diese Neubewertung schlug sich dann genau in jenem Geschichtsbild nieder, das eingangs erwähnt wurde. Demnach ist zwischen der Zeit vor der Zerstörung des Zweiten Tempels mit einem maßgeblich pries­terlich geprägten Judentum und der Zeit danach mit dem synagogalen rabbinischen Judentum deutlich zu unterscheiden. Neuere Arbeiten wiederum, deren Stimmen nach und nach ungefähr seit Beginn der 1980er Jahre laut wurden, stellten dann schließlich die überragende Bedeutung des Rabbinats für die Zeit nach der Zerstörung in Frage und postulierten, dass das Priestertum auch nach 70 noch einen erheblichen Einfluss innerhalb des Judentums besaß und dass das Rabbinat zunächst noch für Jahrhunderte nur einen marginalen Status hatte. So kehrt das Pendel, wenn nun auch unter einem anderen Vorzeichen, wieder in seine Ausgangsposition zurück, wenn die Zeit vor und die Zeit nach der Tempelzerstörung nun wiederum weit mehr in einem Kontinuum gesehen wird, als dies in der vorherigen Phase der Forschungsgeschichte der Fall war. Vor diesem breiten Hintergrund bemühen sich die hier vorliegenden Aufsätze um eine differenzierte Aufarbeitung der Frage nach der Bedeutung der Tempelzerstörung für die Geschichte des Judentums, indem diese nun nicht generell, sondern vielmehr in Bezug auf spezifische Themen erörtert wird.
So versammelt der erste Teil des Buches zunächst Aufsätze, die nach der Bedeutung des Priestertums vor und nach 70 n. Chr. fragen (Sons of Aaron and Disciples of Aaron: Priests and Rabbis before and after 70, mit folgenden Beiträgen: Martha Himmelfarb, »Found Written in the Book of Moses«: Priests in the Era of Torah, 23–41; Gideon Aran, The Other Side of Israelite Priesterhood: A Sociological-Anthropological Perspective, 43–58; Hannan Birenboim, »A Kingdom of Priests«: Did the Pharisees Try to Live Like Priests?, 59–68; Jodi Magness, Sectarianism Before and After 70 CE, 69–89; Zeev Weiss, Were Priests Communal Leaders in Late Antique Palestine?, 91–111).
Weitere Arbeiten beleuchten die Rolle, die dem Tempel und dem Konzept des Heiligen Raumes in der entsprechenden Zeit zukommt (»The Place« and other Places, mit folgenden Beiträgen: Ori Schwarz, Place beyond Place: On Artifacts, Religious Technologies, and the Meditation of Sacred Place, 115–126; Jutta Leonhardt-Balzer, Priests and Priesthood in Philo: Could He Have Done without Them?, 127–153; Noah Hacham, Sanctity and the Attitude towards the Temple in Hellenistic Judaism, 155–179; Michael Tuval, Doing without the Temple: Paradigms in Judaic Literature of the Diaspora, 181–239).
Entwicklungen im Bereich von »Kunst und Magie« sind ein weiteres Thema, das in diesem Band durch verschiedene Beiträge beleuchtet wird (Naama Vilozny, The Rising Power of the Image: On Jewish Magic Art from the Second Temple Period to Late Antiquity, 243–276; Gideon Bohak, Jewish Exorcism Before and After the Destruction of the Second Temple, 277–300; Lee I. Levine, The Emergence of a New Jewish Art in Late Antiquity, 301–339).
Dem folgen mehrere Beiträge, die nach der Rolle von Heiligen Texten und Entwicklungen in der Schriftauslegung fragen (Sacred Texts: Exegesis and Liturgy; mit Beiträgen von Paul Mandel, Legal Midrash between Hillel and Rabbi Akiva: Did 70 CE Make a Difference?, 343–370; Esther G. Chazon, Liturgy Before and After the Temple’s Destruction: Change or Continunity?, 371–392; Michael D. Swartz, Liturgy, Poetry, and the Persistence of Sacrifice, 393–412).
Der Band schließt mit Beiträgen, die der Frage nachgehen, inwieweit die Entstehung des rabbinischen Judentums auch auf andere Faktoren als die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, so z. B. die Auseinandersetzung mit der Römerherrschaft oder die Reaktion auf das immer bedeutender werdende Christentum, zurückgeführt werden könnte (Communal Definition – Pompey, Jesus, or Titus? Who Made a Difference, mit folgenden Beiträgen: Nadav Sharon, Setting the Stage: The Effects of the Roman Conquest and the Loss of Sovereignty, 415–445; Jörg Frey, Temple and Identity in Early Christianity and in the Johannine Community: Reflections on »the Parting of the Ways«, 447–507; Martin Goodman, Religious reactions to 70: The Limitations of the Evidence, 509–516; Ruth A. Clements, Epilogue: 70 CE After 135 CE – The Making of Watershed?, 517–536).
Da an dieser Stelle die Beiträge nicht im Einzelnen referiert werden können, müssen hier einige allgemeine Bemerkungen genügen: Wie nicht anders zu erwarten, entsteht durch den themenbestimmten Zugriff auf die Fragestellung ein äußerst nuanciertes Bild der betreffenden Epoche bzw. – je nach Blickwinkel – der be­treffenden Epochen. Dabei sind Bereiche mit einer relativen Konstanz (so z. B. die Magie mit verschiedenen Exorzismus-Formeln oder das Fortbestehen von sektiererischen Gruppen und Praktiken) von deutlichen Veränderungen (z. B. im Bereich der Liturgie, der Schriftauslegung oder der Bildkunst) zu unterscheiden. Allerdings ist dabei nicht immer deutlich auszumachen, inwieweit diese Entwicklungen monokausal auf die Zerstörung des Tempels zurückgeführt werden können oder inwieweit hier noch weitere Faktoren politischer bzw. sozialer und religiöser Art in Anschlag gebracht werden müssen. Zudem wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen einer priesterlichen und einer nicht-priesterlichen Haltung (und damit auch zwischen Priestern und Nicht-Priestern) oftmals nicht deutlich gezogen werden kann, da Elemente des religiösen Symbolsystems wie die Tora- oder Reinheitskonzeptionen der Reinheit sowohl in priesterlichen als auch in nichtpriesterlichen Kreisen von Bedeutung sein konnten. Wichtig ist zudem die Er­kenntnis, dass die Wertung der Tempelzerstörung als einer fundamentalen Epochengrenze auch mit geschichtstheologischen Konzepten zusammenzusehen ist, die in christlichen Kreisen im Gefolge des Bar-Kochba-Aufstandes entwickelt wurden und deren Ziel darin bestand, die Diskontinuität der jüdischen Geschichte zu betonen, um so die eigene Identität zu entwickeln und zu stärken. Einzelne Beiträge des Bandes markieren auch deutlich verschiedene Positionen innerhalb der Forschung, so z. B. die Frage nach der Bedeutung des Tempels für das Diasporajudentum oder die Rolle von Priestern im synagogalen Gottesdienst), so dass wichtige Themen künftiger Forschungsarbeit klar artikuliert werden.
Den Herausgebern dieses Bandes ist für die Herausgabe einer gehaltvollen und hochinteressanten Publikation zu danken, mit deren Hilfe bedeutsame Einblicke in die Dynamiken der antik-jüdischen Religionsgeschichte gewonnen werden können und die wichtige Anstöße zu weiteren Forschungsarbeiten gibt.