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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

772–774

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Trampedach, Kai, u. Andreas Pečar [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. IX, 532 S. = Colloquia historica et theologica, 1. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-151987-1.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Der Band enthält die (meisten, nicht alle) Beiträge zu einer Tagung über Begriff und Konzept der »Theokratie«, die vom 21.–24. Oktober 2010 im Internationalen Wissenschaftszentrum Heidelberg unter internationaler Beteiligung stattfand. Eingeladen waren Historiker, Theologen und Religionswissenschaftler, »die über die poli-tischen Konsequenzen religiöser Phänomene, insbesondere der drei monotheistischen Weltreligionen (Judentum, Christentum, Is­lam), geforscht haben« (so die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung, 2). Ein Beitrag (V. Reinhardt [Fribourg; s. u.]), konnte, wegen Erkrankung des Verfassers, auf der Tagung selbst nicht vorgetragen werden, wurde aber für die Drucklegung zur Verfügung gestellt; umgekehrt wurden zwei Vorträge (J.-C. Gertz [Heidelberg] über »Theokratische Argumentation in der Tora?« und I. J. Yuval [Jerusalem] über »Im Land Israel wohnen: Die Entstehung eines neuen Gebots«) zwar zur Diskussion gestellt, aber nicht für die Publikation in dem Band freigegeben (Vorwort, III).
Außer einer Einleitung (»Theokratie und theokratischer Diskurs«) durch die beiden Herausgeber (1–17), einem Autorenverzeichnis (517–521) und einem Orts- und Personenregister (523–532) enthält der stattliche Band folgende Beiträge: J. Assmann (Heidelberg/Konstanz), Theokratie im Alten Ägypten (19–38); M. Leuenberger (Tübingen), Die theokratische Theologie des Psalters (39–53); R. Albertz (Münster), Theokratie und Gewaltenteilung. Der sogenannte Verfassungsentwurf des Ezechiel (Ez 40–48 [55–73]; E. Flaig (Rostock), Radikale Anthroponomie. Wieso griechische Polis und Theokratie diametrale Gegensätze sind (75–99); M. Konradt (Heidelberg), Das Verständnis der Königsherrschaft Gottes bei Jesus von Nazareth (101–115); K. Trampedach, Schwierigkeiten mit der Theokratie. Warum die römische Herrschaft in Judäa scheiterte (117–142); R. Reichman (Heidelberg), Grenzen theokratischer Orientierung in der halachischen Tradition (143–163); U. Gotter (Konstanz), Überblendungen. Kaiser, Kirche und das Problem der zivilen Gewalt in der Spätantike (165–195); G. G. Stroumsa, God’s Rule in Late Antiquity (197–209); L. Greisiger (Jerusalem), Messianische versus politische Theokratie. Kaiser Herakleios und die Restitutio Crucis in imperialer Propaganda und nahöstlicher Apokalyptik (211–234); T. Nagel (Göt-tingen), Theokratie im frühesten Islam. Von Mohammed zum Kalifat der Omaijaden (235–253); S. Scholz (Zürich), Das Papsttum und die theokratischen Ansprüche der Herrscher im frühen Mittelalter (255–278); S. Patzold (Tübingen), Das theokratische Argument im Frankenreich der Karolingerzeit (8./9. Jahrhundert [279–300]); S. Enderwitz (Heidelberg), Islam, Gesellschaft und Theokratie im Mittelalter (301–326); T. Kaufmann (Göttingen), Theokratische Konzeptionen in der spätmittelalterlichen Reformliteratur und in der Radikalen Reformation (327–372); V. Reinhardt (Fribourg), Theokratie? Politik und Reformation im Genf Calvins (373–388); C. Strohm (Heidelberg), Theokratisches Denken bei calvinistischen Theologen und Juristen am Beginn der Moderne? (389–408); A. Pečar (Halle), Monarchie und Theokratie in England. Symbiose und Konkurrenz zweier Herrschaftsmodelle von der Reformation bis zum Bürgerkrieg (409–435); R. G. Asch (Freiburg), »Regibus ut scires sanctius esse nihil«. Die umstrittene Sakralität des französischen Königtums. Von der Ermordung Heinrichs III. bis zum Tode Ludwigs XIII., 1589–1643. Eine Antwort auf theokratische Ordnungsmodelle? (437–463); H.-D. Metzger (Nürnberg), »Jethros Rat«. Gottesherrschaft und Gemeindeverfassung in England, Massachusetts und Sierra Leone (1550–1800 [465–491]); G. Krämer, Gottes Recht bricht Menschen Recht. Theokratische Entwürfe im zeitgenössischen Islam (493–515).
Schon die Inhaltsübersicht lässt erkennen, dass das Symposion, im Allgemeinen glänzend besetzt, sowohl kultur- wie epochenübergreifend angelegt war und zu einem interkulturellen Vergleich einlud. So kommt denn auch die Lektüre des vorliegenden Ta­gungsbandes ganz unterschiedlichen Interessen entgegen. Mich z. B. haben die drei Beiträge zum Islam, zumal der den Band abschließende über den zeitgenössischen Islam, besonders angezogen und reich belehrt.
Gleichwohl denke ich, dass der Band in erster Linie um der zum Teil ganz vorzüglichen Einzelbeiträge, wahrer Perlen an Gelehrsamkeit, willen geschätzt, aber kaum als ein Ganzes wahr- und angenommen werden wird. Daran haben offensichtlich auch die intensiven Diskussionen während der Tagung wenig geändert, von denen in der Einleitung der Herausgeber wie in den Anmerkungen einiger überarbeiteter Vortragstexte die Rede ist. Dass kein größeres Maß an Geschlossenheit erreicht wurde, hat m. E. vor allem zwei Gründe: Zum einen hätte der Band, um eine gegenteilige Wirkung zu erzielen, wohl noch stärker enzyklopädisch als exemplarisch angelegt sein müssen, ließ jedoch de facto empfindliche Lücken; Byzanz etwa und die von Byzanz geprägten Kulturen blieben bis auf die Anfänge ausgespart. Zum anderen und vor allem ist man in meinen Augen den Beweis dafür schuldig geblieben, dass »Theokratie« sich als Schlüsselbegriff eignet, um die »politischen Konsequenzen religiöser Phänomene, insbesondere der drei monotheistischen Weltreligionen« (s. o.) angemessen zu erfassen, wie sie in den einzelnen Beiträgen in den Blick genommen werden; und damit fehlt eine substantielle Klammer, die das Ganze zusammenhält. Eine Worthülse kann das kaum leisten. Es ist mir nicht entgangen, dass sich sogar die meisten Beiträger mit dem Problem abgemüht und nicht nur, wie es in der Einleitung beschönigend heißt, den schillernden Begriff »Theokratie« präzisiert haben (8). Doch ist es ein Ausweg, wenn sich ein jeder seinen eigenen Reim auf das Problem machen muss, sich zu einer eigenen Definition genötigt sieht? Wenn es möglich sein soll, wie in diesem Band sowohl im Blick auf das oströmisch-byzanti-nische Reich, dem gewöhnlich ein »caesaropapistisches« System der Unterordnung der Kirche unter ein »christliches Kaisertum« zugeschrieben wird, als auch auf das zunehmend »papalistisch« verfasste abendländische Christentum mit seinem Führungsanspruch der Kirche, letztlich des Papstes, den weltlichen Ge­walten gegenüber gleichermaßen von »theokratischen« Strukturen, Ansprüchen, Diskursen und Argumenten zu reden, dann ist m. E. ein Punkt erreicht, wo es sich zu entscheiden gilt, entweder auf den ominösen Begriff ganz zu verzichten oder aber ihn so strikt zu fassen, wie es seinem Wortsinn (und seiner Verwendung bei seinem Urheber, Josephus [Contra Apionem 2,164–165]) entspricht.
Ob es (auch) damit zusammenhängt, dass es bislang bei diesem ersten Band der Reihe (Colloquia historica et theologica) geblieben ist, dass es keinen Reihenherausgeber, kein Reihenprogramm zu geben und ein Folgeband nicht einmal in näherer Aussicht zu stehen scheint (falls der Verlagswebsite zu trauen ist)?
Inhaltliche Bedenken habe ich hauptsächlich gegen den Beitrag von S. Scholz (255–278), kann das aus Raumgründen jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausführen und verweise stattdessen auf meine Sammlung von Texten und Kommentaren zum Thema Religion und Politik in der Antike unter dem Titel »›Kirche und Staat‹ im Denken des frühen Christentums« (Traditio Christiana 13), Bern u. a. 2005, und meinen Aufsatz »Augustine and Patriarch Photius on Religion and Politics«, in: Studia Patristica 40 (= Papers presented at the Fourteenth International Conference on Patristic Studies held in Oxford 2003), ed. by F. Young aliique, Leuven u. a. 2006 (tatsächlich 2007), 221–238.
Davon wie von dem angesprochenen Terminologieproblem abgesehen, kann ich nur versichern: Wer sich für die Verhältnisbestimmung von Religion und Politik, vielleicht auch unter besonderer Berücksichtigung der Gewaltenfrage, in den verschiedenen, von den drei monotheistischen Weltregionen geprägten Kulturen, und zwar epochenübergreifend, interessiert, der kommt, je nach seinen spezifischen Neigungen, durch die Lektüre des Bandes gewiss auf seine Kosten; sie lohnt sich unbedingt!