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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

769–772

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter, u. Sebastian Günther[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 406 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-151679-5.

Rezensent:

Johannes Wienand

Die Göttinger Gelehrten Peter Gemeinhardt (Kirchengeschichte) und Sebastian Günther (Arabistik und Islamwissenschaft) haben im Verlag Mohr Siebeck einen interdisziplinären Sammelband zum Verhältnis von Bildung und Religion in der Zeit von der römischen Kaiserzeit bis in den klassischen Islam hinein vorgelegt. Der Band versammelt Beiträge aus einer Ringvorlesung des Jahres 2011, die für die Publikation überarbeitet wurden. Die thematische Bandbreite der Beiträge erstreckt sich von der paganen Kultur der römischen Kaiserzeit über Judentum und Christentum bis in die klassische Zeit des Islam hinein. Geographisch werden die gesamte Mittelmeerwelt und der Nahe Osten in den Blick genommen. Literaturwissenschaftliche und historische Perspektiven sind dabei gleichermaßen vertreten. Der kritische Apparat wurde bewusst im Umfang begrenzt, der Duktus der Vorlesungen weitestgehend beibehalten. Der Navigation innerhalb des Bandes dienen diverse Re­gister (neben Personen und Orten auch »bildungsrelevante Begriffe«), für die geographische Orientierung wurde eine Karte beigegeben. Der Band ist als Einführung in das Thema konzipiert, wirft aber auch eine ganze Reihe forschungsrelevanter Fragen auf und bietet auch dem Spezialisten interessante Perspektiven. Gewinnbringend ist nicht zuletzt, dass der Band das erste Millennium der christlichen Zeitrechnung insgesamt in den Blick nimmt und dabei auch die longue durée der Entwicklungslinien abbildet.
Den Beiträgen liegt fast durchgängig ein sozial- und/oder kulturwissenschaftlich inspiriertes Verständnis von Bildung zugrunde, womit ganz unmittelbar die gesellschaftlichen Milieus und diskursiven Biotope der entsprechenden Wissenskulturen in den Blick geraten. Das Feld dessen, was dann in den Einzelanalysen konkret unter Bildung verstanden wird, reicht von den Strukturen, Funktionen und Dynamiken der Wissensaneignung und -vermittlung über die Kanonisierung, Kritik und Modifikation von Wissensbeständen bis zur Theorie und Praxis der Unterweisung und des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Interessant sind diese Aspekte für den Band vor allem mit Blick auf die Frage, welchen Einfluss religiöse Faktoren auf das soziokulturelle Geflecht und den historischen Wandel der fraglichen Institutionen, Praktiken und Diskurse ausgeübt haben. Um die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den Einzelanalysen deutlicher herausarbeiten zu können, werden für den folgenden Kurzüberblick die 14 Einzelbeiträge des Bandes teilweise neu gruppiert.
Einen ersten zentralen Problemkomplex, mit dem sich der Band auseinandersetzt, stellen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen der dominierenden paganen hellenistisch-römischen Bildungstradition einerseits und unterschiedlichen christlichen und jüdischen Aneignungs- und Abgrenzungsstrategien andererseits dar, die sich für die Zeit vom 1. vorchristlichen bis ins 3. nachchristliche Jh. hinein greifen lassen.
Bereits für die Zeit des Entstehens einer genuin christlichen Bildungskultur arbeitet U. Schnelle (Denkender Glaube. Schulen im Neuen Testament) anhand der Paulus-Schule und der johanneischen Schule (die in einem ersten Schritt als solche rekonstruiert werden) heraus, wie Organisationsform, Kommunikation, Interaktion, Rollenmodelle und Lehrkonzepte im frühen Christentum vom hellenistischen Umfeld beeinflusst waren, auch wenn sich hier bereits charakteristische innerchristliche Divergenzen und auffällige Differenzen zur nichtchristlichen Umwelt abzeichnen. Dass es aber nicht bei einer bloßen Prägung der christlichen Wissensaneignungs- und Wissensvermittlungskultur durch die hellenistische Tradition bleibt, dass christliche Akteure vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit den hellenistischen und römischen Bildungswelten auch auf argumentativer Ebene suchten und sich hierzu spezielle Aneignungsverfahren und Vermittlungsstrategien entwickeln mussten, zeigt F. R. Prostmeister (»Was will wohl dieser Schwätzer sagen?« Bildung und reli- giöses Wissen im 2. Jahrhundert n. Chr.), indem er die theologisch-argumentative Mechanik der Auseinandersetzung von Christentum und pagan-hellenistischer (Bildungs-)Umwelt anhand der paulinischen Areopag-Rede und der Schrift »An Autolykos« des Theophilos von Antiochia diskutiert. Für den selben Zeithorizont, der von Prostmeier untersucht wird, blickt U. Engelhaaf-Gaiser (Quaestiones Romanae. Antiquarische Spaziergänge zwischen Kapitol und Venustempel) quasi komplementär auf die pagane römische Bildungskultur und ihre Beziehung zur Religion. Anhand von Plutarch und Aulus Gellius spürt die Autorin den Kommunikations- und Distinktionspraktiken römischer Aris­tokraten im 2. Jh. nach, als im überregionalen und kultur- wie sprachübergreifenden Personennetzwerk der imperialen Elite »Religion zum erstrangigen Bildungsgut und damit zu einem Leitwert der kaiserzeitlichen Bil- dungskultur« (166) wurde.
In zwei Beiträgen wirft der Band auch einen Seitenblick auf Bildungskulturen des Judentums, speziell auf die Qumran-Gemeinschaft und das rabbinische Judentum.
In weit geringerem Maße, als dies für das frühe Christentum gilt, suchte die Qumran-Gemeinschaft Anschluss an ihre soziale Umwelt. Durch ein penibles Studium der in den Qumran-Handschriften überlieferten Pescharim, in den Kommentaren zu Propheten und Psalmen also, lassen sich aber auch hier Spuren einer Aneignung hellenistischen Bildungsgutes erkennen, konkret eine (wenn wohl auch indirekte) Rezeption der Gattung des literarischen Kommentars, die sich – wie R. G. Kratz aufzeigt (Text und Kommentar. Die Pescharim von Qumran im Kontext der hellenistischen Schultradition) – nicht unter Rekurs auf die Middot der jüdischen Tradition alleine erklären lässt. Der Frage, wie sich das Ideal eines umfassenden religiösen Lernens aber nicht nur durch die religiösen Spezialisten erreichen, sondern für die gesamte Reli-gionsgemeinschaft verwirklichen ließ, hat sich mit Blick auf das rabbinische Judentum G. Stemberger gewidmet (Lebenslanges Lernen als Programm im rab­binischen Judentum). Eine regelrechte Kultur des Lernens in Tiefe wie Breite gleichermaßen konnte sich nur dadurch ausbilden, dass weiten Kreisen der Gesellschaft durch pragmatische Lösungen ermöglicht wurde, das Gebot des permanenten religiösen Lernens formal einzulösen.
Eine weitere Gruppe an Beiträgen befasst sich mit der Phase der intensivierten Christianisierung der römischen Gesellschaft und Herrschaftsordnung in der Spätantike. Hier ergibt sich das Bild eines großflächigen und tiefgreifenden, aber weitgehend konfliktfreien historischen Wandels, der von charakteristischen Formen der Abgrenzung, aber auch der Aneignung der überkommenen Bildungsgüter gekennzeichnet ist.
Wie P. Gemeinhardt herausarbeitet (Non vitae sed scholae? Pagane und christliche Ansichten über Schule, Lehrer und das Leben), zeigen christliche Bildungsbiographien des 4. und 5. Jh.s (vor allem Augustinus, Martin von Tours, Sidonius Apollinaris und andere) zwar eine kritische Distanz zu den soziokulturellen Mechanismen der klassischen Paideia, zugleich aber auch eine anhaltende Bedeutung der römischen Schule und eine relativ konfliktfreie Auseinandersetzung des Christentums mit den etablierten Bildungsinstitutionen – vor allem bedingt durch den Wert, den pagane Bildung quasi als Propädeutik zur christlichen Exegese gewinnen konnte; erst im Laufe des 5. Jh.s begann sich eine genuin christliche Bildungstradition auszubilden, ausgehend vor allem von den Klöstern. Welche Bedeutung den überkommenen Bildungsgütern konkret für Exegese wie praktische Lebenshilfe im christlichen Umfeld zukommen konnte, wie sich also die klassische Bildungstradition unmittelbar auf die christliche Frömmigkeit beziehen ließ, arbeitet dann J. Leemans (Die Briefe des Isidor von Pelusium. Bildung, Glaube, Kommunikation) anhand der überlieferten Korrespondenz des klassisch gebildeten Rhetors und späteren Mönchs Isidor von Pelusium (ca. 360–435/440 n. Chr.) heraus. Hier zeigt sich deutlich das Ideal einer Synthese von Bildung und Frömmigkeit, die allerdings nur über eine funktionale Unterordnung der Paideia unter die christliche Eusebeia gelingen konnte. Aus der Ausrichtung der christlichen Wissenskultur auf die Exegese entwickelten sich auch neue hermeneutische Verfahren, wie T. Fuhrer (Die Schöpfung als Modus göttlicher Rede. Augustin über Religion und Hermeneutik) anhand einer Analyse von Augustins Schriften De ordine und De doctrina christiana herausarbeitet. Während auch für Augustinus klassische Bildungsinhalte ihre funktionale Bedeutung für die Schriftauslegung bewahren konnten, entwickelte sich nun mit der Idee einer Lesbarkeit Gottes im »Buch der Welt« (liber orbis terrarum) ein Bereich christlicher Paideia, der sich von der klassischen Bildungskonzeption weitgehend entkoppeln ließ. Dass das Werk Augustins schließlich auch eine Fülle an Möglichkeiten bietet, das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der christlichen Bildungstradition zu studieren, hat C. Tornau (Medium und Text. Buch, Buchproduktion und Buchkomposition bei Augustinus) herausgearbeitet: Im Prozess der Textproduktion und bedingt durch das noch relativ junge Medium Codex lässt sich hier ein schillerndes Wechselspiel zwischen charakteristischen Strategien literarischer Komposition und fiktiver Mündlichkeit greifen.
Die letzte Gruppe an Beiträgen befasst sich mit der Bedeutung des Islam für den historischen Wandel der Wissenskulturen in der Mittelmeerwelt und im Nahen Osten.
M. Tamcke (Wie der Islam die christliche Bildung beflügelte) widmet sich dabei den Auswirkungen der frühen Phase der Islamisierung auf das Geistesleben der ostsyrischen Kirche. Am Beispiel der Kirchenprovinz Qatar wie mit Blick auf den Bischof und späteren Mönch Isaak von Ninive (gest. ca. 700) zeigt Tamcke, dass sich die Blüte der charakteristischen mystischen Prägung christlicher Bildung auf der Arabischen Halbinsel auf die politischen Rahmenbedingungen (und möglicherweise auch auf den Einfluss der mystischen Literatur des Sufismus) nach der arabischen Eroberung der Region zurückführen lässt, aus denen unter dem äußeren Druck (u. a. ökonomische Anreize zur Konversion) »die Potenz geschaffen [wurde], sich ins Geistige hinein zu retten und auf das Vorbildliche zurückzuziehen« (267). G. Schoeler (Gesprochenes Wort und Schrift. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühislamischen Lehrbetrieb) rekonstruiert dann die Entwicklung der unterschiedlichen Bildungsinstitutionen und Bildungsakteure (in den Bereichen Elementarunterricht und höhere Ausbildung) im frühen Islam, die nur in ihrer engen Beziehung zum Prozess der Kodifizierung des Koran und der Hadithe verständlich werden. L. Behzadi (Muslimische Intellektuelle im Gespräch. Der arabische literarische Salon im 10. Jahrhundert) geht anschließend den Zeugnissen einer intellektuellen Gesprächskultur der arabischen Elite des 10. Jh.s nach, deren gesellschaftliche Bedeutung sie mit dem europäischen literarischen Salon des 18. und 19. Jh.s vergleicht. I. Hehmeyer (Denker und Tüftler. Wissenschaft und Technik in klassisch-islamischer Zeit) widmet sich in ihrem Beitrag dem breiten Spektrum naturwissenschaftlichen und technischen Denkens in klassisch-islamischer Zeit und seiner Bedeutung für Aneignung, Adaption und Tradierung naturwissenschaftlicher und technischer Wissensbestände. Dabei werden speziell die Bereiche Medizin, Optik, Pharmazie, Technik und Astronomie in den Blick genommen, an denen sich eine grundsätzliche Offenheit gegenüber dem vorislamischen Erbe und ein Austausch über ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg zeigen. Der Schlussbeitrag von S. Günther (»Das Buch ist ein Gefäß gefüllt mit Wissen und Scharfsinn.« Pädagogische Ratschläge klassischer muslimischer Denker) widmet sich anhand einer Reihe prominenter Vertreter (Dschahiz, Ghazali, Ibn Ruschd und andere) dem pädagogischen und didaktischen Schrifttum im klassischen Islam (9.–13 Jh. n. Chr.) und stellt hier eine hohe Wertschätzung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, motivierenden Unterrichts und ganzheitlicher Erziehung fest, wie sie sich auch in der pädagogischen Literatur europäischer Denker dieser Zeit greifen lassen.
Den Herausgebern des Bandes ist es gelungen, durch ein dichtes Tableau insgesamt stimmig gewählter Fallstudien und Detail-untersuchungen über die üblichen Fächer- und Epochengrenzen hinweg eine gut lesbare und anregende Kulturgeschichte der Be­ziehung von Bildung und Religion für eine formative Phase der mediterranen und nahöstlichen Gesellschaften vorzulegen. Von den detaillierten Einzelbeobachtungen ausgehend reflektieren die Autorinnen und Autoren immer wieder auch die übergeordneten Entwicklungslinien, so dass sich in der Zusammenschau der Einzelbeiträge tatsächlich ein Verständnis der Gesamtentwicklung »von Rom nach Bagdad« ergibt, das sich aufgrund der diversen fachlichen und sprachlichen Voraussetzungen in monographischer Form kaum erfassen ließe.