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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

796–799

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Link-Wieczorek, Ulrike

Titel/Untertitel:

Inkarnation oder Inspiration? Christologische Grundfragen in der Diskussion mit britischer anglikanischer Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 390 S. gr 8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 84. Kart. DM 98,-. ISBN 3-525-56291-8.

Rezensent:

Günther Gaßmann

In der Heidelberger Habilitationsschrift (1996) der Oldenburger Professorin Ulrike Link-Wieczorek geht es um eine Untersuchung der Grenzen und Möglichkeiten der Inkarnationschristologie mit dem Ziel, angesichts gegenwärtiger Fragen in Gemeinde und Theologie das Verhältnis zwischen dem Menschen Jesus und Gott in der Verbindung von Inkarnationschristologie und Geistchristologie neu zur Sprache zu bringen. Neben diesem durchgängigen Hauptthema steht ein zweites Hauptthema, das aber vom ersten "umarmt" (ein Lieblingswort der Vfn.) wird: eine Darstellung und Interpretation der anglikanischen Inkarnationstheologie im ausgehenden 19. und 20. Jh.

Der größere Teil der Arbeit, über 200 Seiten, ist diesem zweiten Hauptthema gewidmet. Es wird in zwei Teilen entfaltet:

Teil A umreißt den theologischen Hintergrund und Rahmen der anglikanischen Inkarnationschristologie, wie er sich in der Herausstellung entweder der Einheit von Schöpfer/Gott und Schöpfung/Welt oder deren Differenz oder aber in deren trinitätstheologischer Verknüpfung abzeichnet. Für diese drei Konzeptionen werden jeweils einige bedeutende anglikanische Theologen (Charles Raven, William R. Inge, Reginald J. Campbell, John R. Illingworth, Samuel Clarke, Henry P. Liddon und Frederick D. Maurice), aber auch zwei schottische Presbyterianer (John Caird und Edward Irving) und der große Freikirchler Peter T. Forsyth exemplarisch vorgestellt.

Teil B über "Stationen der anglikanischen Inkarnationstheologie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart" ist der zentrale und umfangreichste Teil der Arbeit. Diese Stationen werden mit dem Werk dreier Theologen, die auch Bischöfe bzw. Erzbischof waren, markiert und analysiert: Charles Gore (bes. seine Kenosis-Christologie), Frank Weston (Betroffenheit Gottes durch die Welt), und William Temple ("Die stetige Bereicherung Gottes"). Der Teil schließt mit der eine breite und heftige Debatte auslösenden Kritik und Ablehnung der Inkarnationschristologie in dem von John Hick verantworteten Sammelband (nicht nur anglikanischer Autoren) "The Myth of God Incarnate" (dt. "Wurde Gott Mensch?", Gütersloh 1979) und den Reaktionen auf diesen Band. Besondere Beachtung finden unter den Reaktionen und weitergehenden Überlegungen anglikanischer und nicht-anglikanischer britischer und amerikanischer Theologen Neuinterpretationen der Zweinaturenlehre im Sinne einer differenzierteren Sicht der gott-menschlichen Einheit in Jesus Christus.

Noch stärker über den anglikanischen und britischen Bereich gehen die folgenden kürzeren Teile C bis E des Bandes hinaus, die zu einer mehr grundsätzlichen konzeptionellen und methodologischen Bearbeitung des durchgängigen ersten Hauptthemas der Arbeit, der Inkarnationsproblematik als solcher, hinführen. Den ersten und wesentlichen Schritt in diese Richtung unternimmt Teil C, in dem nun "Konturen der Geist-Christologie" als Alternative oder korrigierende Ergänzung zur Inkarnationschristologie eingeführt werden.

Diese Konturen werden repräsentiert in ihrer mehr radikalen, nicht-trinitarischen Form durch den Anglikaner Geoffrey Lampe und in ihrer vermittelnden Form durch die Geist-Logos-Christologie der beiden römisch-katholischen Theologen Philip Rosato und Piet Schoonenberg. Der sehr kurze Teil D über "Die Gegenwart Gottes angesichts des Leidens in der Welt" will die christologische Problematik und besonders das Gott-Welt-Verhältnis noch einmal von dieser Fragestellung her beleuchten. Hierfür werden einige der früher behandelten anglikanischen Theologen (G. Lampe, Ch. Raven, J. R. Illingworth, W. Temple) mit ihrer von eigenen Erfahrungen wie vom Optimismus des 19. Jh.s geprägten Sicht erneut herangezogen. Dem wird die "realistische" Auffassung des schottischen Anglikaners Donald M. MacKinnon gegenübergestellt, der das Leiden als bleibende tragische Seite menschlicher Existenz interpretiert, das dann von Gott in seiner gott-menschlichen Erfahrungs- und Handlungseinheit ausgehalten und überwindend transformiert wird. Der noch kürzere (15 S.) Teil E diskutiert, von John Hick (s. o.) ausgehend, Anwendungsmöglichkeiten des Metaphern-Begriffs für die christologische Reflexion.

Der Band schließt mit dem Ergebnis, das in der Unterscheidung der beiden Erkenntnis- und Sprachebenen des Redens vom Menschen Jesus in der Geistchristologie und dem ihm nachgeordneten "kontemplativen" Reden von Gott in der Logoschristologie besteht. Da aber auch in diesem Ergebnis-Abschnitt die engagierte Diskussion mit den vorgestellten Konzeptionen und Personen weitergeführt wird, kommen Ziel, Durchführung und Ergebnis der Arbeit deutlicher in der ausführlichen (27 S.) und hilfreichen Einleitung zum Ausdruck.

Das Buch von L.-W. ist aus mehreren Gründen als eine großartige, beeindruckende Leistung zu werten. Dies zeigt sich zunächst in der Art und Weise, wie sie die beiden Hauptthemen der Arbeit miteinander verbindet, verzahnt, integriert. So ist die anglikanische Inkarnationschristologie über die ihr gewidmeten Teile A und B hinaus durchgehend präsent in Rückbezügen und klärenden Vergleichen und Verweisen. Die christologischen Grundsatzfragen wiederum werden in den Anglikanismus-Teilen thematisiert und prägen deren Akzentsetzungen. Die christologischen Positionen der einzelnen Theologen werden nicht nur dargestellt und analysiert, sondern auch der Stand der Forschung zu Person und Werk wie auch die theologiegeschichtlichen Zusammenhänge und Verbindungslinien ihrer Aussagen werden einbezogen. Mehr noch, die Vfn. führt mit diesen Theologen einen beständigen Dialog, hinterfragt kritisch und hebt weiterführende und für ihre eigenen theologischen Anliegen wichtige Gedanken hervor. Die besonders herausgestellten 17 "Hauptpersonen" werden mit einer unwahrscheinlichen Fülle an Material und sachlichen und personalen Verweisen umgeben. Diese reichen von der altkirchlichen Christologie bis hin zur gegenwärtigen afrikanischen Theologie, vom christlich-jüdischen Dialog bis hin zur Sprachanalyse und Erkenntnistheorie, von der ökumenischen Theologie bis hin zur gegenwärtigen Finnischen Lutherforschung. Neben der großen Gruppe anglikanischer Theologen werden führende Vertreter der reformierten, orthodoxen, römisch-katholischen, freikirchlichen und lutherischen Traditionen herangezogen. Die Vfn. gibt jeweils Re-chenschaft über die nächsten Schritte in der Behandlung dieser gewaltigen Stoffmenge. Sie fügt viele kleingedruckte Erläuterungen, Zitate, Kurzbiographien, dogmenhistorische Exkurse, etc. ein, die zudem den eintönigen Satzspiegel auflockern.

Großartig und beeindruckend ist aber auch, wie es L.-W. inhaltlich gelungen ist, sich in die nicht leicht faßbare anglikanische theologische und geistliche Tradition hineinzudenken und einen fundamentalen Aspekt dieser Tradition in den deutschsprachigen theologischen Raum hinein zu vermitteln. Dieser kenntnisreiche und anregende Beitrag zur Überwindung theologischer Provinzialismen hätte allein schon die Veröffentlichung dieses Buches gerechtfertigt.

Mit gleicher konzeptioneller Kraft wird aber auch von der ersten bis zur letzten Seite die für diese Arbeit zentrale Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der Inkarnationschristologie, nach Aspekten von deren Neuinterpretation und Ergänzung durch eine Geistchristologie durchbuchstabiert. Dabei geht die Vfn. von Fragen vieler Christen nach dem Verständnis der Person Jesu Christi aus. Entsprechend durchzieht das ganze Buch als Leitmotiv und wesentliches Beurteilungskriterium die Frage, die zugleich These ist: Erlauben die vorgestellten Inkarnationschristologien von der Menschheit Jesu deskriptiv als von einer partikularen historisch denkbaren Person zu sprechen, deren Menschheit mit der der übrigen Menschen vergleichbar ist? In einem höheren oder geringeren Maße sei dies in den untersuchten Konzeptionen nicht der Fall, urteilt die Vfn. immer wieder. Denn: in der anglikanischen Inkarnationschristologie gehe es letztlich darum, über Gott zu reden und nicht über den Menschen Jesus. Die Menschheit Jesu werde hier und in ähnlichen christologischen Konzeptionen nahezu doketisch überdeckt von der vorgegebenen, aus der immanenten Trinität abgeleiteten Präexistenz des Logos, der dann in der gott-menschlichen Personen-Einheit des Inkarnierten in die Geschichte eintritt und folglich identisch ist mit Jesus von Nazareth. Somit könne von Jesus nicht mehr als von einem Geschöpf gesprochen werden. Dies aber ermögliche die Geistchristologie, die in einer zu anderen Menschen analogen Weise von der Gegenwart des Geistes in Jesus spricht (wobei die Vfn. gelegentlich auch eine spezifische Form der Gegenwart Gottes nicht ausschließen möchte). Auf einer anderen Sprachebene könne sodann die ebenfalls als weiterführend herangezogene Geist-Logos-Christologie dazu helfen, die Inkarnation als auf Gott bezogenes Reden und als Ergebnis der Geschichte Gottes mit Jesus, der "erkenntniserschließenden Gegenwart Gottes" in Jesus, zu verstehen. Mit der Rede von der Inkarnation werden Aussagen über das Wesen Gottes gewagt in der Form eines "kontemplativen" - apophatisch zurückhaltenden und der Wirklichkeit sich nur annähernden - Redens von Gott, es werden aber nicht Aussagen über die historisch vorstellbare Person Jesu gemacht.

Das Buch von L.-W. fordert zu weiterer Diskussion und Klärung heraus. Ich kann nur in aller Kürze fragen, ob nicht bereits das Vorverständnis, mit dem die Vfn. an die Arbeit herangeht, zu hinterfragen ist: Der Mensch Jesus als Geschöpf unter anderen Geschöpfen. Ich würde z. B. dem Bericht der "Doctrine Commission of the Church of England" über "We believe in the Holy Spirit" (London 1991), den die Vfn. nicht herangezogen hat, zustimmen, wenn er von einer Geist-Wort-Christologie ausgehend sagt: "Jesus’ relation to the Spirit cannot be exactly like ours. He is the source from which the Spirit’s power flows to us ..." (62-64) und ähnliche Aussagen, die dem Menschen Jesus eine besondere Nähe zu Gott und eine besondere Bedeutung für die Menschen zuweisen. Daraus folgt die weitere Frage, ob die Durchführung der Arbeit nicht bereits von Anfang an zu sehr von dem genannten Vorverständnis im Sinne eines vorausgesetzten Beurteilungskriteriums bestimmt ist. Das hat m. E. zur Folge, daß andere Dimensionen der Christologie wie z. B. deren "Erdung" in der Ekklesiologie und (zuweilen radikalen) Sozialethik bei den untersuchten Anglikanern oder im soteriologischen und pastoralen Zuspruch von Rechtfertigung und Befreiung in der reformatorisch-lutherischen Tradition - um beides weiß die Vfn. natürlich und erwähnt es auch - gegenüber der am Ende des Buches doch recht abstrakt wirkenden erkenntnistheoretischen und sprachanalytischen Reflexion der Vfn. nicht bestimmend in den Blick kommen.

Damit stellt sich die noch grundsätzlichere Frage, die der Vfn. ebenfalls bekannt ist, aber keine zentrale Rolle in ihren Überlegungen spielt: Nicht die Menschheit Jesu scheint für viele Menschen heute das Problem zu sein, auch nicht, daß dieser Mensch vom Geist Gottes umhüllt war wie andere Menschen auch, sondern die Frage: Wie kann man heute glauben und bekennen, daß mit diesem Menschen Jesus das Heil und Wohl Gottes für jeden Menschen und die ganze Menschheit in die Welt gekommen sind? Eine alte Frage, ich weiß, aber auch alte Fragen können sich mit großer Beharrlichkeit immer wieder einstellen und die Theologen auffordern, neue Antworten zu suchen. Für diese Aufgabe liefert das Buch von L.-W. unendlich viele Bausteine.

Neben einigen unerheblichen Druckfehlern hat sich auf S. 105, Anm. 1 ein kleines Versehen eingeschlichen: statt Karl Rosenthal muß es Klaus Rosenthal heißen.