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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

795 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Goldmann, Manuel

Titel/Untertitel:

"Die große ökumenische Frage ...". Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition mit ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. XII, 455 S. gr.8 = Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie, 22. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1650-9.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Für die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden ist seit den hoffnungsvollen Anfängen in den 60er Jahren viel geschehen. Aus der zarten Pflanze eines beginnenden Dialoges sind regelmäßige Begegnungen, Studienprogramme und Arbeitsgemeinschaften hervorgewachsen. In theologischen Untersuchungen und kirchlichen Verlautbarungen hat sich niedergeschlagen, was die Vordenker dieser Neubesinnung an Einsichten gewonnen haben. Dennoch spielt das christlich-jüdische Gespräch im Ganzen der kirchlichen Wirklichkeit offensichtlich noch immer eine "periphäre Rolle". Zugleich haben die Erfahrungen der letzten Jahre deutlich werden lassen, daß im Dialog auch die Wahrnehmung der jüdischen Eigenperspektive sowie der strukturellen Verschiedenheit jüdischer und christlicher Tradition einer hermeneutischen Aufarbeitung bedürfen.

Dieser Aufgabe hat sich G. in seiner Heidelberger Dissertation von 1996 gestellt. Wie der Titel schon andeutet, nimmt die Arbeit ihren Ausgangspunkt bei der Israellehre Karl Barths. In einer kritischen Würdigung, die den ganzen ersten Teil umfaßt, kommt Barths epochaler Ansatz dabei differenziert und weit über den zentralen § 34 in KD II/2 hinaus zur Sprache. Die Leistung von Barths Entwurf, grundlegend konzipiert in der Zeit zwischen Pogromnacht und Wannseekonferenz, liegt fraglos in einer neuen Sicht von der bleibenden Erwählung Israels, die zu einer der wichtigsten Vorgaben für das nach der Shoa beginnende Gespräch werden sollte. Zugleich aber bleibt seine Israellehre mit Denkmustern behaftet, die G. als "gereinigten Antijudaismus" beschreibt. Sorgfältig werden die Zusammenhänge und Brüche im systematischen Gesamtkonzept Barths nachgezeichnet und auf die Ursachen hin befragt, die zu einem solchen "Janusgesicht" führten und die G. wesentlich in einer "verobjektivierenden Vereinnahmung jüdischer Existenz" erkennt. Hier gilt es, über die (auch in Zeit und Biographie begründeten) Grenzen von Barths Ansatz hinauszukommen und den berechtigten Anspruch, die Israelfrage als Herausforderung an die christliche Theologie zu begreifen, neu aufzunehmen. Das aber kann nur gelingen, wenn jüdisches Denken nicht nur von außen und in den Kategorien christlicher Systematik, sondern in dem Bemühen um ein Verständnis seiner strukturellen Eigenart wahrgenommen wird. Durch seine Studien in New York und Jerusalem hat G. dabei Voraussetzungen erworben, die zu einer solchen Wahrnehmung befähigen und die sich im weiteren Fortgang des Buches immer wieder in einer eindrucksvollen Sachkompetenz bemerkbar machen.

Der zweite und zentrale Teil des Buches ist folgerichtig als "Wahrnehmungsübung für eine zu vertiefende christlich-jüdische Kommunikation" angelegt. Zunächst führt ein längerer Abschnitt in die rabbinisch-jüdische Traditionsliteratur ein. Sie wird nach einigen grundlegenden Bemerkungen nach ihrer halakhischen und haggadischen Dimension entfaltet, wobei sich der Bogen von den Anfängen bis zu gegenwärtigen Diskussionen spannt und die Vielgestaltigkeit jüdischer Tradition differenziert und kenntnisreich vor Augen führt. Die konkreten Beispiele, die zur Veranschaulichung eingefügt sind (etwa über die Pflichten des Lohnhüters, die Rezitation des Schma oder die Versuchung Abrahams), bieten dem Leser Einblicke, deren Wert auch über den unmittelbaren Zusammenhang der Darstellung hinausgeht und dazu einlädt, die Denkbewegung jüdischer Diskussionen nachzuvollziehen. Wer diesen gelegentlich an eine Einführung erinnernden Abschnitt dennoch für entbehrlich halten mag, wird immerhin im folgenden Abschnitt wiederholt darauf zurückgreifen können. Denn hier werden die großen Linien einer 2000jährigen Entwicklung überschaubar nachgezeichnet und dabei in Beziehung zur christlichen Tradition gesetzt, bevor G. nun in modifizierter Aufnahme des Entwurfes einer jüdischen Theologie von M. Wyschogrod die Beschreibung der Strukturverschiedenheit jüdischer und christlicher Tradition unternimmt. Sie wird unter drei Aspekten anhand von Paarbegriffen entfaltet: Torah und Logos verdeutlichen die unterschiedliche Denkform, Mitzwah und Kerygma die unterschiedliche Praxisorientierung, Ge’ullah und Soteria die unterschiedliche soteriologische Perspektive.

Bei allen drei Aspekten steht die Darstellung des Phänomens am Anfang, gefolgt von der Frage nach den Hintergründen und dem hermeneutischen Ertrag. Dadurch treten die Chancen und die Sackgassen einer Begegnung jenseits konkreter Inhalte mit einer Deutlichkeit in den Blick, die das gegenseitige Verständnis über bloßes Wohlwollen oder ehrliche Sensibilität hinaus vertieft. Dabei bleibt für G. auch beständig im Blick, daß sich die strukturellen Bedingungen mit den inhaltlichen Vorgaben des Gespräches in einer selbstverständlichen Wechselwirkung befinden. Die Wahrnehmungsübungen dieses Teiles sind dazu angetan, dem jüdisch-christlichen Gespräch nach den ersten, so wichtigen Anfängen einer vorsichtigen Annäherung zu einer neuen, reflektierteren Phase zu verhelfen.

In einem knappen dritten Teil, der mit "Theologia Viatorum im Gegenüber und Zusammensein mit Israel" überschrieben ist, schlägt G. den Bogen noch einmal zurück zu Barth. Im Lichte der zuvor herausgearbeiteten Strukturverschiedenheit von jüdischer und christlicher Tradition wird die Israellehre Barths nun als Herausforderung dargestellt, deren Annahme noch immer aussteht. Die Richtung, in der sie erfolgen müßte, zeigen drei Ausblicke an: Sie liegt in einer erneuten Reflexion des Volk-Gottes-Begriffes, einer bewußten Bewährung theoretischer Einsichten in der Praxis des Glaubens sowie der Gestaltung eines lebendigen Rückbezuges der Kirche auf Israel. Daran wird deutlich: Das jüdisch-christliche Gespräch ist am Ende dieses Jahrhunderts bereits in eine neue Etappe eingetreten.

Das Buch von G. ist zugleich Bilanz und Impuls. Es beginnt da, wo in der jüngeren Theologiegeschichte eine neue Sichtweise Israels begann, bündelt die Erfahrungen, die auf diesem Weg seither gewonnen worden sind und zieht mit einer präzisen Analyse die Konsequenzen. Zwei gründliche Register sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis ermöglichen es, auf diese Arbeit auch als auf eine gediegene Informationsquelle dankbar zurückzugreifen. Die Einführung in die rabbinisch-jüdische Tradition und die exemplarischen Überblicke zu einzelnen halakhischen und haggadischen Traditionen motivieren zu eigenen Wahrnehmungsübungen. Vor allem aber rückt G. die "große ökumenische Frage" nun als eine Aufgabe in den Blick, die für die Theologie in ihrer ganzen Breite ansteht. Insofern ist dem Buch auch ein breiter Leserkreis zu wünschen.