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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

724-726

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Vischer, Lukas, Luz, Ulrich, u. Christian Link

Titel/Untertitel:

Ökumene im Neuen Testament und heute.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 339 S. Kart. EUR 44,99. ISBN 978-3-525-56355-7.

Rezensent:

Thomas Söding

Die Ökumene ist in der Krise. Vor dem Reformationsjubiläum drohen die Profile geschärft und die Gemeinsamkeiten geschwächt zu werden. Konsense werden von vielen Intellektuellen nicht ge­schätzt, sondern als Kompromisse verdächtigt. Dass die katholische Kirche keine Eucharistiegemeinschaft mit der evangelischen sieht und den kirchlichen Charakter der evangelischen »Gemeinschaften« in Frage stellt, gilt vielen als Indiz einer Stagnation, die fast schon auf sich beruhen kann, weil vor Ort ohnedies andere Fakten geschaffen würden.
Deshalb ist es gut, auch ein paar Jahre nach dem Erscheinen sorgfältig das Buch dreier emeritierter evangelischer Theologen zu studieren, die kritische Bilanz ziehen und Zukunftsoptionen be­nennen. Es ist dem Andenken an Lukas Vischer (1926–2008) gewidmet, einem Nestor der modernen Ökumene. Auf dem Cover steht der bemerkenswerte Satz: »Die Spaltung der Kirche ist zu allen Zeiten als Widerspruch zum Evangelium der Versöhnung empfun-den worden.« Deshalb wird die »Einheit« der Kirche zum Thema. Vischer analysiert in seinem postum publizierten Beitrag »Schwierigkeiten bei der Befragung des Neuen Testaments« (21–52). Er entwickelt ein evangelisch geprägtes, aber ökumenisch aufgeschlossenes Konzept des klassischen Themas »Schrift und Tradition«, das den Biblizismus hinter sich lässt und den Rezeptionen ihr Gewicht gibt. Deshalb mündet der Beitrag folgerichtig in eine Betrachtung diverser Modelle der Kircheneinheit – wobei ihm eine »konziliare Gemeinschaft« als Ziel vorschwebt, das mit dem Neuen Testament am ehesten kongruent ist; die Fähigkeit, ein Konzil einzuberufen (und Beschlüsse zu finden, die auch umgesetzt werden können), wird zum Kriterium. Das geht, wie Vischer bemerkt, über das Konzept einer »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« hinaus, weil das Wie des Weges konkretisiert wird. Der Katholik wird allerdings fra gen, wie ohne den Papst ein solches Konzil denkbar sein kann – nicht nur aus logistischen, sondern aus theologischen Gründen. Hier müsste das Gespräch weitergehen, wenn es nicht nur eine evangelische Verständigung sein soll. Die Orthodoxie hätte ein entscheidendes Wörtchen mitzureden.
Ulrich Luz, unterstützt von einer Reihe von Ko-Autoren aus seinem Umkreis, schreibt unter dem Titel »Unterwegs zu Einheit: Gemeinschaft der Kirche im Neuen Testament« (53–222) eine kleine, exegetisch profunde, theologisch profilierte Ekklesiologie, die schon für sich äußerst lesenswert ist. Sie nähert sich dem ökumenischen Thema unter der fundamentaltheologisch zentralen Problemanzeige, wie sich die Universalität der Heilsbedeutung Jesu Christi, auf der jedes Kirchenkonzept beruht, zu den Abgrenzungen verhält, ohne die es kein Bekenntnis gibt, das aber seinerseits für eine Kirche des Glaubens konstitutiv ist. Luz arbeitet klar heraus, dass »Einheit« nicht ein immer schon feststehender Begriff ist, sondern sich im Neuen Testament und seiner Rezeption bildet und wandelt – nicht in völliger Biegsamkeit, aber doch in einem sehr viel breiteren Korridor, als es viele Verfechter und Kritiker von Einheitsmodellen denken. Luz geht zur Jesustradition zurück – nicht um sie ekklesiologisch zu vereinnahmen, sondern um die Verbindung von »Evangelium und Liebe« als »Grundauftrag der Kirche« zu bestimmen (69).
Die Sendung von Jüngern, die Einsetzung des Zwölferkreises, die Verleihung des Petrusnamens werden als kirchenkonstitutive Momente zwar mit dem skeptischen Blick des historisch-kritischen Exegeten analysiert, gehen aber nicht in die Grundlegung ein. Luz geht weiter in zwei großen Schritten vor. Zuerst beschreibt er die apostolische Zeit (70–131), die für ihn die paulinische ist, dann die nachapostolische (131–222), die gleichfalls stark von der Paulustradition her verstanden wird, aber auch weitere neutestamentliche Schriften einbezieht, insbesondere Matthäus und das lukanische Doppelwerk. Luz beginnt beide Teile damit, dass er »Spannungen und Divergenzen« gegen einheitsfördernde Elemente stellt. Die Spannungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Erfahrungen und Einsichten, die unterschiedliche Lebensstile entwickeln und verschiedene Aspekte des Bekenntnisses betonen. Zu den Einheitsmomenten rechnet Luz in der apostolischen Zeit Taufe, Herrenmahl, Bekenntnis, Mission, Tradition, Apostel und Jerusalem, in nachapostolischer Zeit kommen zum einen die Entwicklung von Ämtern und zum anderen ekklesiologische Konzepte hinzu, also Prozesse der Selbstreflexion. Luz arbeitet aus der Reflexion der Geschichte zwei Grundkonflikte heraus. In apostolischer Zeit stehe die Beziehung zu Israel auf dem Prüfstand, die – mit Paulus – nur als begründete Unterscheidung (»Kirche gegenüber Israel«) und eschatologische Weggemeinschaft (»Kirche für Israel«) gedacht werden könne (110 ff.), gegen breite Strömungen in der Kirchengeschichte und andere neutestamentliche Modelle (Mt; Joh; Hebr). In nachapostolischer Zeit werde die Beziehung zur Gnosis zum Thema, die auf das Grundproblem stoße, dass ein Bekenntnis, das sich seines analogen Charakters nicht mehr gewiss sei, Gemeinschaft zerstöre und deshalb Jesus Christus, dem es die Ehre erweisen solle, widerspreche (221). Im jeweiligen Zentrum stehen Rekonstruktionen der Ekklesiologie, zuerst bei Paulus: »Kirche als Christuswirklichkeit« (113–131), dann Konzepte kirchlicher Einheit, sehr unterschiedlich im Epheserbrief, in der Johannesoffenbarung, im lukanischen Doppelwerk und im Johannesevangelium ausgeführt. In einer Anmerkung zum Pauluskapitel stellt sich Luz die selbstkritische Rückfrage, ob dies die Interpretation eines »liberalen Protestanten« sei (131, Anm. 71). Der (katholische) Rezensent bejaht diese Frage entschieden – und ist gerade deshalb für den facettenreichen, hochreflexiven und charakteristischen Beitrag dankbar. Es bleibt die Skepsis, ob das Bekenntnis des Glaubens derart hinter der Praxis der Liebe zurücktreten kann, wie es bei Luz der Fall zu sein scheint. Am Ende ist dann auch von den Riten und vom Recht, von der Institution und der Tradition wenig die Rede. Aber abgesehen von der Tatsache, dass diese Rückfragen wiederum einen konfessionellen Hintergrund haben: Wenn Paulus – kein anderer als er – sagt, die »Liebe« sei gegenüber Glaube und Hoffnung »am größten« (1Kor 13,13), kann der Primat der Agape so ganz falsch nicht sein.
Christian Link greift in seinem systematisch-theologischen Beitrag nicht nur den Impuls von Lukas Vischer, sondern – was höchst bemerkenswert, weil so selten ist – auch die Rekonstruktion der neutestamentlichen Ekklesiologie auf, um mit ihr ökumenisch-theologisch zu arbeiten: »Die Bewegung der Einheit. Gemeinschaft der Kirchen in der Ökumene« (225–333). Stichworte sind: Einheit als Prozess; Kirche und Israel; Brennpunkte der Einheit (Schrift, Bekenntnis, Abendmahl, Amt) und konziliare Gemeinschaft. Link ist aber weit davon entfernt, die exegetische Basis nur zu affirmieren; er profiliert die Themen vielmehr aus protestantischer Sicht im ökumenischen Diskurs der Gegenwart. Das geschieht in höchst differenziert, aufgeschlossener Weise. Allerdings muss der Hinweis gestattet sein, dass sich die Erklärung des II. Vaticanums, dem Lehr amt obliege die verbindliche Schriftauslegung, nicht auf exege-tische Rekonstruktions-, sondern auf aktuelle Geltungsfragen be­zieht (was allerdings lange Zeit, vor allem von der Bibelkommis-sion, verunklart worden war); dann aber ist die Diskussion um die Kompetenz theologisch verbindlicher Schriftauslegung nicht mehr und nicht weniger als die Frage nach den Instanzen und Prozessen verbindlichen Lehrens in der Kirche, die auf evangelischer und katholischer Seite unterschiedlich, aber, wie Link zu Recht bemerkt, nicht ohne eine Theologie des ordinierten Dienstes be­antwortet werden kann, so wichtig im Lauf der Zeit für die evangelische Seite die Synoden geworden sind.
Das Buch ist aktueller denn je. Es ist ein Pfund, mit dem gewuchert werden kann, in der Exegese wie in der Ökumene.