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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

701-703

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rentsch, Christian

Titel/Untertitel:

Ritual und Realität. Eine empirische Studie zum gottesdienstlichen Handeln des Priesters in der Meßfeier.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2013. 599 S. = Studien zur Pastoralliturgie, 35. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7917-2541-3.

Rezensent:

Andreas Odenthal

Es ist genuine Aufgabe der Theologie, kirchliche Praxis zu reflektieren. Somit tritt Christian Rentsch an, die Liturgie der Kirche auf empirischer Grundlage zu thematisieren. Die Untersuchung geht in folgenden Schritten vor.
Nach einem eher essayistischen Nachspüren der Begriffes der ars celebrandi im 1. Abschnitt (Ars celebrandi – Signaturen eines vielgebrauchten Begriffs, 13–22) formuliert der Vf. im 2. Abschnitt die Fragestellung und erläutert das Forschungsdesign (23–43). Es geht um fünf sonntägliche Eucharistiefeiern, die der Vf. aufgezeichnet und in Bezug auf den gesprochenen oder gesungenen Text und die rituelle Inszenierung transkribiert hat. Die Untersuchung fokussiert dabei das Handeln des Priesters, wie der 3. Abschnitt (Der Zelebrant zwischen fiktivem Rollenspiel und sozialer Realität, 44–105) deutlich macht. Hierin untersucht der Vf. die Eröffnungssequenzen der Eucharistiefeiern, den Einzug, die einführenden Worte des Priesters sowie den Bußakt und deutet die Ergebnisse der Transkripte anhand der Ritualtheorien von Goffman, Durkheim, Rappaport, Douglas und anderen. Der 4. Abschnitt (Zwischen dem christlichen »heiligen Kosmos« und der Lebenserfahrung von heute, 106–155) thematisiert die Predigten und wägt zentrale Aussagen vor dem Hintergrund des Luhmannschen Säkularisierungsparadigmas ab. Nach den freieren Formen wie Einleitung und Predigt fokussiert der 5. Abschnitt (Das liturgische Gebet, 156–197) die mehr restringierten Sprechakte des Betens und diagnostiziert eine Ent-Hierarchisierung und anthropologische Wendung des Betens. Im 6. (Liturgie als Ritual und Unselbstverständlichkeit der Religion, 198–217) und 7. Abschnitt (Die Strategie der Abhängigkeitsverminderung, 218–246) wird eine erste Bilanz gezogen. Die aufgewiesenen Adaptationsversuche der Liturgie auf die Lebenswirklichkeit der Menschen hin möchte der Vf. als Versuche enttarnen, Glaube und Liturgie in heutiger Zeit plausibel zu machen, da sie grundsätzlich nicht mehr plausibel seien. Dabei sei eine Akzentverschiebung festzustellen: »Die Inhalte der Liturgie werden nicht als gültig präsentiert […]. Grundlegend ist nun die Lebenswelt mit den ihr gültigen Plausibilitäten« (216). Der 8. Abschnitt ( Die Passivität Gottes: eine Marginalisierung der Transzendenz, 247–291) knüpft hieran an und spürt den beobachteten Tendenzen auch im Fürbittgebet nach, das, da Gebet der Gläubigen und nicht des Priesters, gar nicht zum Untersuchungsfeld gehört. Der 9. Abschnitt (Der Priester vor der Gemeinde, 292–312) und der 10. Abschnitt (Die körperlich-räumliche Inszenierung, 313–389) nehmen einen Fokuswechsel von den verbalen zu den nonverbalen Ritualelementen vor, um im 11. Abschnitt (Die Eucharistie: Sakrament in verändertem Umfeld, 390–443) das Eucharistische Hochgebet näher zu untersuchen. Im 12. Abschnitt werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung (444–455) gebündelt. Im 13. Abschnitt entwirft der Vf. eine Alternative (Zur Möglichkeit einer alternativen ars celebrandi, 456–497). Es folgen das Schlusswort im 14. Abschnitt (Liturgie als Liturgie – um ihrer selbst willen und aus pastoralem Interesse, 498–500), die Transkripte (501–585) sowie das Abkürzungs- und Literaturverzeichnis (586–599).
Das zentrale Ergebnis der Untersuchung ist im Grunde Folgendes: Gemessen an einer metaphysisch konstruierten Theologie mit (ontologischem) Wahrheitsanspruch (so etwa 231) machen die erhobenen Befunde die Krise solcher Anschauungen deutlich. Sie sind als Indizien zu werten, dass theologisch letztgültige Aussagen durch lebensweltlich relevante, also »anthropologische« Botschaften ersetzt werden. Dies geschieht, um dem Gottesdienst Plausibilität zu verleihen, die nicht mehr fraglos vorausgesetzt werden kann. Damit ist das Ergebnis im Grunde die oft bemühte Verfallshypothese: Die Krise des Glaubens spiegele sich auch im Gottesdienst wider. So nötig es ist, da genauer hinzusehen und latente Strömungen zu diagnostizieren, so schwierig wird es bei einer Be­wertung solcher Fakten. Denn der Vf. stellt alle Prozesse im Gottesdienst, die einen lebensweltlichen Bezug herstellen wollen, unter Häresieverdacht (etwa: Verschwinden des Sündenbegriffs, 81; Ent hierarchisierung, 166–175; Vorwurf des Monophysitismus, 363; Tendenz zur Philanthropie, 426–431): »Funktionalität statt Wahrheit, Pluralität der Lösungen, Minimierung der Botschaft« (154). An dieser Stelle setzt die Kritik an der Untersuchung ein, die vor allem drei Punkte betrifft.
1. Ärgerlich ist das fast völlige Fehlen praktisch-theologischer Theoriebildung. Der Vf. arbeitet frei von allen bisherigen Positionsbestimmungen, die in den vergangenen Jahrzehnten vorgelegt wurden und deren Niveau er in keiner Weise erreicht. So sehen die Ergebnisse (die Liturgie Liturgie sein zu lassen, um sie in ihrer Fremdheit wahrnehmen zu können, so die Schlussfolgerung in Abschnitt 14) zwar oft Richtiges, doch letztlich nichts Neues. Problematisch ist der Weg, auf dem die Ergebnisse gewonnen sind. Reinhard Messner hat davor gewarnt, »eine humanwissenschaftlich (kulturanthropologisch, psychologisch oder wie immer) gewonnene Symboltheorie zum (normativen) Ausgangspunkt der liturgiewissenschaftlichen Erschließung zu machen« (Reinhard Messner, Was ist systematische Liturgiewissenschaft? Ein Entwurf in sieben Thesen, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 40 [1998], 257–274, 270). Der Vf. aber macht ohne Methodendiskussion außertheologische Ritualtheorien zu normativen Größen für kirchliche Praxis. Damit lässt der Vf. die Ritualtheoretiker vorgeben, was christliche Liturgie zu sein hat. Außer dem Traditionsargument vermag der Vf. letztlich kaum theologische Gründe für seine Kritiken anzugeben. Damit bestätigt er den Plausibilitätsverlust des Glaubens, gegen den er doch vorzugehen beabsichtigte.
2. Als empirisch erhobenes Material können strenggenommen nur die Transkriptionen gewertet werden. Die Interpretationen des Vf.s sind nicht mehr durch Interviews mit den am Ritual beteiligten Akteuren abgesichert. Deshalb wären auch andere Deutungen möglich, etwa wenn man nicht mehr die doch fraglich gewordene Säkularisierungsthese zugrunde legt. Zu fragen wäre dann, warum die Menschen ihre religiösen Bedürfnisse nur noch zu einem Teil innerhalb der Großkirchen befriedigen, ferner, ob die vom Vf. diagnostizierten Tendenzen zur anthropologischen Wendung der Liturgie sich nicht einem Defizit der Tradition liturgischen Betens im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit der Menschen verdanken. Doch solche Perspektiven mit einer Kritik an der liturgischen Tradition fehlen völlig.
3. Das Ausblenden praktisch-theologischer Theorie geht Hand in Hand mit dem Verzicht auf einen konsistenten theologischen Bezugsrahmen. Die Parallelen, die zum Bultmannschen Entmythologisierungskonzept gezogen werden (186–195), sind nach Meinung des Rezensenten reichlich abstrus. An dieser Stelle hätte die Rezeption eines theologischen Entwurfes der sogenannten anthropologischen Wende helfen können, das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz näher zu bestimmen. Dem Vf. gelingt es hier nicht, auf der Grundlage symbolischer Erfahrung zu reflektieren (etwa 232), was ihn vor einer Spaltung in ein folgenschweres Entweder – Oder bewahren würde: entweder Lebenswirklichkeit des Menschen – oder Wahrheit des Christentums; »locus anthropologicus statt locus theologicus« (176–186). In der Diagnose, eine transzendent geprägte Liturgie werde durch eine immanent (also anthropologisch ausgerichtete) ersetzt, zeigt sich, dass das spezifisch Christliche, die Transzendenz in der Immanenz, oder anders: die Inkarnation als ein Paradigma des Gottesdienstes, vom Vf. verfehlt wird. Dies rächt sich auf vielfältigen Ebenen und bringt den Vf. in folgenschwere Dilemmata, etwa beim Bittgebet (worüber er etwa bei dem Religionsphilosophen Richard Schaeffler vieles hätte lernen können). Entweder gibt es für den Vf. eine »direkte Einwirkung« Gottes (269), oder Gott wird zur Passivität verdammt: »Die Psychologisierung des Gottesdienstes generiert eine Passivität Gottes.« (145) Wiederum gelingt es dem Vf. nicht, Gottes Wirken gerade in menschlichen Erfahrungen zu situieren. Damit aber wird er zum Vertreter der Richtung, die er kritisiert, nämlich Gott nur mehr im »Jenseits« zu verorten und somit letztlich sein Wirken in dieser Welt zu leugnen. In diesen Kontext hätte gehört, was die Liturgie eigentlich ausmacht: die Begegnung mit der Transzendenz Gottes in Jesus Christus und das damit verbundene Neue an Erfahrung. Von hierher würde ein ganz neuer Blick auf die untersuchten Sequenzen Einleitung, Predigt und Fürbitten fallen, nämlich dergestalt, dass die Hauptsache das im Gottesdienst selbst wirkmächtige Gotteswort ist und erst sekundär seine Auslegung.
Wenn im rückwärtigen Klappentext vermerkt wird, die Untersuchung setze Maßstäbe, so hofft der Rezensent gerade das nicht: Ein solches methodisch und theologisch fragwürdiges Vorgehen ist für eine praktisch-theologische Liturgiewissenschaft völlig inakzeptabel und darf nicht zum Standard werden.