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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

699-701

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Raschzok, Klaus

Titel/Untertitel:

Predigt als Leseakt. Essays zur homiletischen Theoriebildung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 362 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-03757-5.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Raschzok, Klaus: Traditionskontinuität und Erneuerung. Praktisch-theologische Einsichten zu Kirchenraum und Gottesdienst. Hrsg. v. H. Kerner u. K. Müller. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 358 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03779-7.
[Raschzok, Klaus:] Modellhaftes Denken in der Praktischen Theologie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus Raschzok. Hrsg. v. A. von Heyl u. K. E. Kemnitzer. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 224 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03735-3.


Klaus Raschzok ist seit 2003 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie und Direktor des Instituts für evangelische Aszetik an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, nachdem er von 1997 bis 2003 die Professur für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena innehatte. Die drei hier zu besprechenden Bände sind anlässlich seines 60. Geburtstages erschienen. Hervorgetreten ist R. – prädestiniert durch sein Studium auch der Kunstgeschichte – mit Arbeiten zum Kirchenbau und Kirchenraum, mit einem an der Existenz des Künstlers orientierten paradigmatischen Konzept in der Praktischen Theologie (mit enger Bezugnahme auf den früh verstorbenen Künstler und Theologen Thomas Lehnerer) und insbesondere durch die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte der Praktischen Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus. Aus dem Letzteren gewinnt er für seine kritische Analyse bestimmter Situationsbezüge in Homiletik und Liturgik bzw. Predigt- und Gottesdienstpraxis die Urteilsbasis, beispielsweise in seiner Beteiligung im und seiner Rekonstruktion des »Thüringer Kanzelstreites« oder im Blick auf die Konjunktur der »Gottesdienste in anderer Form« in der kirchlichen und insbesondere kirchenleitenden Wahrnehmung.
Das praktisch-theologische Programm von R., wie es sich in den Texten erschließt und auf das die Beiträge in der Festschrift reagieren, wird einerseits durch das Stichwort der »Modellvorstellung« erfasst, die sich die Praktische Theologie im interdisziplinären Gespräch zur Glaubenspraxis bildet. Dabei ist R. vor allem an einer kulturwissenschaftlichen Perspektive interessiert, in die auch se­miotische und phänomenologische Aspekte eingespielt werden. Andererseits ist sein Programm durch einen Anspruch gekennzeichnet, der deutlich aus dem Titel des Beitrags »Orte der ›Begegnung der Gemeinde mit dem lebendigen Gott‹« spricht. Er kennzeichnet sowohl sein Verständnis des Kirchenraums als eines durch die Spuren seines Gebrauches nicht nur geprägten, sondern durch das Anregungspotential dieser Spuren auch wirksamen Raumes, wie sein Verständnis von Predigt und Gottesdienst.
Im Band »Predigt als Leseakt« veröffentlicht der Jubilar überwiegend in den Jahren 1991–2011 veröffentlichte sowie einige neue Texte zur Homiletik. Die Basis bildet das Verständnis der Predigt als Beziehungsaufnahme (315 ff.), die zwar zunächst zwischen Prediger und Hörern spielt, aber als spezifisches Predigtgeschehen den »auferstandenen und gegenwärtigen Christus« (323) einschließt. Vermittelt ist diese Beziehungsaufnahme ebenso durch das Medium personaler Beziehung wie durch den »Textraum« (324), in dem sich die Predigt mit den Hörern bewegt. Der Integralbegriff für das Predigt- wie für das homiletische Geschehen ist daher der Begriff »Leseakt« des Titels: R. versteht die Predigt als einen gemeinsam mit den Hörerinnen und Hörern vollzogenen performativen Leseakt eines biblischen Textes (105). Dieser Leseakt ist kein abstrakter Zeichenprozess, sondern als ein leibhaft, durch die Stimme vermitteltes Geschehen charakterisiert. Mit der Rezeption von Konzepten der frankophonen reformierten Homiletik (Bernard Reymond) ordnet R. die Predigt unter die »performing arts«, die den Zeichenvorgang in der rezeptiven Tätigkeit der Rezipienten verorten. Wenn die Predigt daher durch die Hörer (mit)konstituiert wird, kann sie auch nur rezeptionsästhetisch verstanden werden, was auch insgesamt für den Gottesdienst gelten wird. Andererseits kritisiert R. aber eine rezeptionsästhetische Engführung der Homiletik und erweitert sie durch ein produktionsästhetisches Modell, indem er mit Thomas Lehnerer den homiletischen Prozess unter dem Gesichtspunkt einer »Künstlertheorie« rekonstruiert. Wie der Künstler mit dem Kunstwerk keinen außer ihm liegenden Zweck anstreben darf – für den er sich an eine technische Anleitung halten könnte, gilt auch für die Predigt, dass ihr Ziel, einen »Raum der Gottesbegegnung« zu eröffnen, unverfügbar bleibt und nur als Möglichkeit in einem Prozess der Textauslegung erscheint, dem sich die Predigt zur Verfügung stellt. Diese Kategorie des sich »Zur- Verfügung-Stellens« bildet auch die Brücke zur Liturgik, wo sie unter den Gesichtspunkten der Dramaturgie und Performativität für die »Begegnung der Gemeinde mit dem lebendigen Gott« in Anspruch genommen wird.
Im Band »Traditionskontinuität und Erneuerung« werden von den Leitern des Gottesdienstinstituts in Nürnberg, Hanns Kerner und Konrad Müller, Texte zu Gottesdienst und Kirchenraum aus den Jahren 1998–2013 herausgegeben. Der von R. in die Debatte eingebrachte Begriff des »traditionskontinuierlichen Gottesdienstes« bildet die Folie ebenso für die Rekonstruktion der neueren evangelischen Liturgiewissenschaft vor dem Hintergrund des reformatorischen Gottesdienstes wie für die Einordnung von gegenwärtigen Tendenzen in der Gottesdienstpraxis. Im Mittelpunkt steht zum einen die Zielbestimmung, »vom auferstandenen Herrn der Kirche menschlich unverfügbar in den Dienst genommen« zu werden, »damit es zur lebendigen Begegnung mit ihm kommt« (77). Das gilt gleichermaßen für die liturgische Rolle wie für die Gottesdienstgemeinde, deren konstitutiver Beitrag im Aufbau eines rezeptiven Feldes für diese Begegnung besteht. Dieser Begegnung wird zum anderen strukturell die Agende zugrunde gelegt, die im Sinne eines »Archivs« das gottesdienstliche Gedächtnis der Kirche präsent hält. In diese Gedächtnisfunktion wird – über den semiotisch gefärbten Begriff der »Spur« (223 u. ö.) – auch das Verständnis des Kirchenraums integriert. Dem Raumbezug schreibt R. insbesondere eine eschatologische Horizontbestimmung zu, insofern der Kirchenraum der in ihm versammelten Gemeinschaft der Gläubigen vor Augen führt, sich »als eine erst in der Ewigkeit vollkommen verwirklichte vorzustellen« (244). Im Sinne einer begrifflichen Integration vermisse ich hier den semiotisch verstandenen Begriff der »Enzyklopädie«, der dem Konzept des Zeichenprozesses nähersteht und die Enzyklopädie der Texte und Raum-Texturen mit der Enzyklopädie der Rezipienten verknüpfen würde. Nicht ganz verständlich ist, dass der bereits mehrfach veröffentlichte Text »Der Feier Raum geben. Zu den Wechselbeziehungen von Raum und Gottesdienst« von 1996 nicht aufgenommen wurde, da er einen der meist angeführten Selbstbelege R.s bildet. Redaktionell ist auch zu bemängeln, dass in den Textbezügen keine Querverweise auf die Veröffentlichungen in diesem Band erfolgen. Auf das Konto des (fehlenden?) Lektorats gehen auch einige Schreibfehler, von denen der gravierendste in einer Verwechslung von (Ort) und (Gott) im Ausdruck der Begegnung von Gott und Mensch (329) besteht.
Die Festschrift »Modellhaftes Denken in der Praktischen Theologie« versammelt Beiträge von 17 Kolleginnen und Kollegen aus der Praktischen Theologie, die sich von diesem Stichwort zu Überlegungen und Einsichten auf ganz unterschiedlichen Feldern haben anregen lassen (herausgegeben von Konstanze Kemnitzer, der Assistentin für Praktische Theologie, und Andreas von Heyl, dem Kollegen in der Praktischen Theologie in Neuendettelsau). Hervorzuheben sind insbesondere vier Beiträge. Alexander Deeg gewinnt dem angelsächsisch und paulinisch inspirierten Modell des predigenden Narren (»Preaching Fools«) pastoraltheologische Einsichten zur »liminalen Existenz« (30) im Pfarramt ab, die auf eine Unterbrechung des Alltags im Sinne der »Liminalität« des Passagerituals zielt. Christian Grethlein konstelliert seine am Kommunikations-Modell orientierte Praktische Theologie im Gegenüber zum Gestalt-Modell des Jubilars. Dessen Proprium sieht er darin, der Preisgabe des Beständigen in der Dynamik des Kommunizierens etwas entgegenzustellen. Helmut Schwier entwirft Grundzüge eines österlichen Modells der Praktischen Theologie, in der die liturgischen Grundvollzüge auf die aktuale Gegenwart des Auferstandenen in Friedensgruß, Brotbrechen, Auslegung der Schrift, Taufe und Sendung hin durchsichtig werden. Und Wolfgang Steck, der gelehrte Nestor der Praktischen Theologie, skizziert mit einem Augenzwinkern das Modell einer Alltagstheologie und -religion in einem unterhaltsamen Text, der ohne Literaturverweise und Fußnoten auskommt.
Hält man sich das Ganze der Texte vor Augen, so könnte noch deutlicher werden, dass es R. mit dem Konzept des »traditionskontinuierlichen Gottesdienstes« (im Verhältnis zur »Kommunikation des Evangeliums«) nicht um die Bewahrung, sondern um die Rettung der Tradition geht, wenn es konsequent auf die umfassende Dimension des Gottesdienstes im Alltag der Welt ausgerichtet würde. Mit dem Ausdruck »Lebensgottesdienst« (Traditionskontinuität, 271.341) wird diese Dimension zwar benannt, aber (noch?) nicht systematisch in das Modell eingearbeitet. Eine von ihm avisierte »Zusammenführung von Homiletik und Liturgik zu einer integrativen Gottesdiensttheorie« (a. a. O., 58) hätte ihre Aufgabe eben darin, auch die ethische Dimension systematisch zu integrieren. Mit dem Modell des Alltags hat Wolfgang Steck dazu die Richtung gewiesen.