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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

696-698

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pollmann, Arnd, u. Georg Lohmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch.

Verlag:

Stuttgart u. a.: J. B. Metzler 2012. XIV, 466 S. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-476-02271-4.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 markiert eine zentrale Wegmarke in dem Prozess der völkerrechtlichen Institutionalisierung von Menschenrechten, der bis heute anhält. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung haben sich neben der Rechtswissenschaft auch andere Wissenschaften wie Philosophie, Geschichtswissenschaften, Ethik und Theologie den Menschenrechten zugewandt. Dieses interdisziplinäre Forschungsinteresse scheint noch nicht an seinem Höhepunkt angelangt zu sein. Gerade weil Forschungsprojekte zu den Menschenrechten in der Regel interdisziplinär und international angelegt sein müssen, ist von entscheidender Bedeutung, wie die Grenzen der versäulten Wissenschaften übersprungen werden. In solchen unübersichtlichen Forschungslagen schaffen Handbücher und Lexika Abhilfe. Arnd Pollmann und Georg Lohmann haben das Medium des Handbuchs gewählt, um den Forschungs- und Diskussionsstand über Menschenrechte, Kontroversen und Debatten, aber auch Erkenntnisse und anstehende Projekte in einer übersichtlichen Darstellung den interessierten Lesern zugänglich zu machen.
Im Gegensatz zu alphabetisch angelegten Lexika weist das Handbuch eine systematische Gliederung auf, die nach einer Einleitung zunächst die Geschichte der Menschenrechte (1–128), dann Begriffe und Systematisierungen (129–232), in einem dritten Teil einzelne Menschenrechte (233–330) und schließlich aktuelle Kontroversen (331–459) auflistet. In diesem letzten Teil steht dabei an vorderster Stelle die Diskussion über Universalismus und Relativismus (331 ff.). Es folgen Artikel über die in den Menschenrechten angelegte Spannung zwischen Recht, Politik und Ethik (358 ff.), Überlegungen zur Institutionalisierung von Menschenrechten (390 ff.) sowie in einem vierten Kapitel Darstellungen aktueller Problemfelder (410 ff.) wie militärische Intervention, Migration, Ar­mut etc.
Das Handbuch enthält am Schluss leider nur ein Personenregis­ter. Ein Sachregister mit Themen und Stichworten wäre hilfreich gewesen. Das Inhaltsverzeichnis, das in nuce einen systematischen Überblick über die Problemlagen bietet, reicht hierfür nicht aus.
Die Herausgeber bezeichnen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Menschenrechten als nicht wertneutral (IX), weil sie sich nicht vollständig von der politischen und rechtlichen Debatte um die globale und regionale Implementierung von Menschenrechten ablösen kann. Mit Menschenrechten verbinden sich bestimmte Interessen und Machtfragen. Darum wollen die Herausgeber eine »orientierende Bestandsaufnahme der Diskussion« (XI) vorlegen. Dafür rufen sie Expertise aus den Bereichen der Philosophie, des Rechts, der Historik, der Politikwissenschaft und der Soziologie ab (XI f.). Die Philosophie nimmt für das Handbuch die Rolle einer »Vermittlerin und Platzhalterin für allgemeine, begriffliche und argumentative Fragen« (XII) ein, die anderen Wissenschaften bringen sich in diese philosophische Diskussion ein. Allerdings fehlen hier auch Disziplinen als Teilnehmer (XI), vor allem die Theologie, die Pädagogik, die ja in der Menschenrechtspädagogik eine eigene Unterdisziplin ausgebildet hat und nur am Rande berücksichtigt wird (443 ff.), sowie die Kulturwissenschaften. Man kann fragen, ob diese Reduktion auf bestimmte Wissenschaftsgruppen nur pragmatische Gründe hat oder ob sich dahinter eine bestimmte philosophische Absicht verbirgt. Dennoch erscheint das Konzept, Forschungsergebnisse in einem Handbuch systematisch zu bündeln, als klar und überzeugend, dem gegenwärtigen verworrenen, interdisziplinären Forschungsstand völlig angemessen. Trotzdem soll die zweite Frage gestellt werden, ob der umfassende Orientierungsanspruch der Einleitung auch durch Aufbau und Durchführung eingelöst wird.
Erstaunlich ist zum Beispiel, dass kein eigenes Kapitel über Menschenrechte im Zusammenhang sexueller Orientierung vorliegt, weder bei den einzelnen Menschenrechten noch bei den Minderheitenrechten (queer rights) noch im Kapitel über aktuelle Konfliktfelder. International wird über die rechtliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diskutiert. Interkulturell und interreligiös werden im Moment traditionelle Orientierungen beim Umgang mit sexuellen Minderheiten kontrovers diskutiert. Die Diskussion könnte durch das Herausarbeiten einer menschenrechtlichen Dimension der Akzeptanz diverser sexueller Orientierungen versachlicht werden, zumal entsprechende Versuche in den Kultur- und Religionswissenschaften, aber auch in der Ethik schon unternommen worden sind. Das Fehlen eines Kapitels über Menschenrechte sexueller Orientierung scheint mir ein Defizit zu sein, das in folgenden Auflagen bereinigt werden müsste.
Was die theologischen und ethischen Passagen des Handbuchs betrifft, so wird der Leser mit anderen Problemlagen konfrontiert. Der Artikel über »Christentum und Mittelalter« von Ludger Honnefelder beschränkt sich keineswegs auf das Mittelalter, sondern er stellt die Verknüpfung von christlicher Theologie und Menschenrechten bis in die Moderne dar. Dabei aber bleiben die Reformation und ihre Auswirkungen auf die Menschenrechtsdiskussion ganz unberücksichtigt. Der Autor springt von Thomas von Aquin zur Ablehnung der Menschenrechte durch die katholische Kirche (8 f.) und von dort zur katholischen Lehre von den Menschenrechten im 19. und 20. Jh. Der protestantische Beitrag wird dann mit gewissen Verkürzungen nachgeliefert, aber die Mitwirkung und Initiative amerikanischer protestantischer Theologen an der Allgemeinen Er­klärung der Menschenrechte wird ebensowenig erwähnt wie der Beitrag des späteren Papstes Johannes XXIII. zu dieser Erklärung und die Mitwirkung amerikanischer katholischer Theologen an den Menschenrechtsdokumenten des 2. Vatikanums.
Merkwürdiges über die christliche Theologie findet sich im Artikel über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Angeblich wird in dieser der »Gott der Aufklärung« (93) apostrophiert, während die Pointe doch gerade darin besteht, dass die Formulierung »creator« in der Erklärung für unterschiedliche Gottesvorstellungen zugänglich ist. Wenig später ist von einem »christlichen Gott der Juristen, den das 12. Jahrhundert erfunden hat« (93) die Rede. Auch das erscheint als eine merkwürdige Formulierung, welche die theologische Traditionsgeschichte christlicher Gottesprädikate nicht in dem Maße beachtet. Hier hätte man sich eine stärkere Rezeption der theologischen wie sozialethischen Diskurse über Menschenrechte, selbstverständlich aus beiden großen Konfessionen gewünscht.
Die in kritischer Absicht genannten Beispiele sind keinesfalls symptomatisch für alle Artikel. Aber es liegt in der Idee eines Hand-buches, bei der Lektüre auch über mögliche Themen und Wissenschaften nachzudenken, die ausgespart wurden. Artikel in Handbüchern können gar nicht anders angelegt sein, als die Darstellung komplexer Diskussionslagen zu verkürzen und zusammenzufassen. Das ist auch in diesem Handbuch geschehen. Die Lektüre ist an die selbstverständliche Voraussetzung geknüpft, dass bestimmte Problemlagen der Menschenrechtsdiskussion auch völlig anders gesehen werden können. Deswegen ist die genannte Kritik im Sinne eines Desiderats zu verstehen. Mit dem Handbuch der Menschenrechte haben die beiden Herausgeber einen hervorragenden Anfang gemacht, der noch ergänzt und erweitert und modifiziert werden könnte.