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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

790–792

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Georg Hamann. "Der hellste Kopf seiner Zeit".

Verlag:

Tübingen: Attempto 1998. 272 S. 8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-89308-289-1.

Rezensent:

Martin Seils

Als "hellsten Kopf seiner Zeit" hat Goethe den Königsberger Denker Johann Georg Hamann einmal bezeichnet. Im Sommersemester 1997 ist eine Ringvorlesung im studium generale der Universität Tübingen unter dieses Goethesche Diktum gestellt worden. Der vorliegende Band dokumentiert die dabei gehaltenen Vorlesungen.

In seinem Vorwort bezieht sich Oswald Bayer auf die Unterscheidung Richard Rortys zwischen konstruierenden Systemdenkern und bildenden "edifying" philosophers und möchte Hamann den letzteren zurechnen. Sein Einleitungsvortrag beschreibt Hamann als "radikalen Aufklärer", der im Widerspruch unterwegs ist zu umfassender Integration (17) und gerade so auch als "unser Zeitgenosse" (20) gelten kann. Joachim Ringleben geht Hamanns originärem Topos von "Gott als Schriftsteller" nach, ordnet ihn in umfassende geistes- und wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge ein und deutet so Hamanns Gedanken von "Gottes Wortwerdung" (29). Friedemann Fritsch fügt dem eine Analyse des Hamannschen Ansatzes bei der christologischen communicatio idiomatum an und interpretiert mit Hamann "die Wirklichkeit als göttlich und menschlich zugleich" (52). Wolfgang-Dieter Bauer macht auf Hamanns publizistische Wirksamkeit aufmerksam, in der Hamann sehr früh die eben erst sich herstellende Problematik dessen, was als öffentlichkeitsfähig und kommunikabel gilt, erkannt hat und sich bemüht, "in der Öffentlichkeit an der Öffentlichkeit auf die Wahrheit aufmerksam zu machen, die im Verborgenen liegt" (100).

Arnold Krieg befaßt sich mit der Kontroverse zwischen Hamann und dem mit ihm von früh her freundschaftlich verbundenen Mendelssohn, wobei Hamann den Menschen sowohl als Rechthaber als auch als Pflichtträger der Natur verstanden sehen möchte und den Gesellschaftsvertrag als göttlichen Schenkungsvertrag deutet. Hans Graubner interpretiert in bemerkenswerter Weise die Bezüge zwischen Hamann und Hume. Er zeigt, daß Hamann bereits in seiner "Hofmeisterzeit" Humes damals noch kaum beachtete "Treatise of Human Nature" las, dessen "Erkenntnisbilder" in eine "Bildersprache" umarbeitete und dadurch "den Empirismus in eine Sprachtheorie" umformte, "die er dann Kants transzendentaler Entschärfung Humes entgegensetzen wird" (140). Bewegend ist auch Hans-Georg Kempers Analyse der "Freundschaft mit Mißverständnissen" zwischen Hamann und Herder, wobei der eine - Hamann - von der Menschwerdung Gottes ausgeht und der andere - Herder -, ohne die lebenslang mitbestimmende Rolle Hamanns zu leugnen, auf die Gottwerdung des Menschen zielt: "Vielleicht haben sich die beiden auch mißverstehen wollen oder gar müssen, um Freundschaft halten ... und von einander profitieren zu können" (176).

Johannes v. Lüpke meditiert die "Diagnose des Todes Gottes" bei Hamann und Nietzsche und meint, daß "Nietzsches Philosophie ... sich auch dort noch, wo sie die Vergöttlichung des Menschen in der Negation der Menschwerdung Gottes zu denken unternimmt, in ihrer Sprache von dem Anliegen geprägt" zeigt, "das Göttliche im Menschlichen, die Wahrheit im sinnlichen Gleichnis zu entdecken" (201/202). Günter Figal beschäftigt sich mit der anregenden Bedeutung, die Hamann für Ernst Jünger hatte und betont deren eigenartige Paradoxalität: "Gerade weil Jünger kein Epigone, kein Imitator Hamanns ist, kann sich in seinem Werk das Denken und Schreiben Hamanns so, wie es ist, reflektieren: inkommensurabel, ein abweisendes oder ansprechendes Rätsel" (215). John Milbank schildert Hamann und Jacobi als "Propheten radikaler Orthodoxie", die gegen die nominalistischen Grundlagen gesamtneuzeitlichen Denkens für eine "Erkenntnis aus Glauben allein" plädierten. Gwen Griffith-Dickson schließlich stellt Hamanns metakritisches "Verständnis von Erkenntnis und Wahrheit" dar "als Ausdruck eines verläßlichen Verhältnisses zwischen unseren Verstehensversuchen und der Welt" (260), das im Gottesverhältnis grundgelegt ist.

Kurzreferate lassen das meist sehr hohe Forschungsniveau kaum erkennen, auf dem sich diese Vortragsreihe bewegt hat. Es geht durchweg in übersichtliche Darstellungen ein. Neben den Theologen und Germanisten hätte die philosophische Repräsentanz etwas umfänglicher sein können. Insgesamt wird ein ziemlich umfassendes Bild des Denkens und der Wirkung Hamanns geboten. Dem Rez. ist - einmal abgesehen von den Dokumentationen der Internationalen Hamann-Kolloquien - keine vergleichbar informative und herausfordernde Sammelveröffentlichung zu Hamann bekannt.

Es sind ein paar Fragen, die nach der Lektüre verbleiben. Die eine ist die nach der immer wieder herausgestellten, von Kemper jedoch in Frage gezogenen Apostrophierung Hamanns als "radikaler Aufklärer". Sie hatte recht, insofern sie Hamanns wenn auch kritisch-metakritische Zugehörigkeit zu seiner Zeit hervorheben und ihn aus interpretatorischen Primärbezügen zur Romantik befreien wollte, könnte aber sichtverstellend wirken, wenn sie zu einer Etikettierung im Sinne einer aufklärerischer als die Aufklärung sein wollenden "Gegenaufklärung" führen würde.

Die nächste Frage betrifft die große und ja zunächst auch berechtigte Universalisierung des Hamannschen, von der lutherischen christologischen Idiomenkommunikation ausgehenden "göttlich und menschlich zugleich", das bei Fritzsch - man kann das auch nicht ausschließen - supralapsarisch interpretiert wird, dann aber eben notwendigerweise zu der Feststellung führt, bei Hamann habe "selbst die Sünde als Inbegriff von Sinnlosigkeit und Sinnfeindschaft einen inspirierten Wort-Sinn, der ihr von Gott zugewiesen wird" (62). Andere Vortragende dieser Reihe haben das anders gesehen, und sicherlich hat Hamann als "philologus crucis" auch in der lutherisch bestimmten Spannung von Gesetz und Evangelium und Sünde und Erlösung gedacht. Hier besteht Klärungsbedarf.

Eine dritte Frage schließt sich an Graubners geradezu aufsehenerregende Analyse der Hamannschen Humedeutung und Weiterdeutung an (auch wenn man bedenkt, daß Hamann es war, der Kant auf Hume aufmerksam machte und diesen so aus dem "dogmatischen Schlummer" weckte). Es scheinen sich da neue Sichten geistesgeschichtlicher Entwicklungslinien zu ergeben. Aber es wird auch bemerkbar, daß es erhebliche Kontinuitäten zwischen dem Hamann vor und nach der Londoner "Erweckung" gibt: Hamanns Sprachdenken hat sich bereits in der Hume-Lektüre der "Hofmeister"-Zeit angebahnt und muß also schon in diesem Zeitbereich gedankliche Wurzeln haben. Wie steht es mit diesen Kontinuitäten? Und schließlich: Den beteiligten englischen Interpreten ist es - so schwer zugänglich die Linienführungen Milbanks auch sein mögen - zu verdanken, daß Hamann auf andere Kontexte als die auf dem Kontinent gewohnten bezogen wird. Das ist bisher so nicht geschehen; die amerikanischen Hamann-Arbeiten hatten einen kontinentalen, meistens von Kierkegaard her bestimmten Bezugsrahmen. Die englische Kontextbeziehung - sei es bei größerer Nähe zur mittelalterlichen Tradition mit ihren Grundproblemen (Milbank) oder zu der von der Sprachanalytik bestimmten und problematisierten Religionsphilosophie (Griffith-Dickson) - scheint wichtig zu sein und auf umfassendere Bedeutungsbezüge hinweisen zu können.

Eine anregende und weiterführende Vorlesungsreihe also. Das wollten diese Bemerkungen, die nur weniges herausgreifen konnten, auch inhaltlich andeuten.