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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

690-691

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Huber, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod.

Verlag:

München: C. H. Beck 2013 (2., um e. Nachwort erw. Aufl. 2015). 310 S. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-406-65560-9.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Band von Wolfgang Huber behandelt Themen der angewandten Ethik von der Familien- und Sexualethik über die Medizin- und Wirtschafts- bis zur Umwelt- und Friedensethik. Auf der Grundlagenebene, in der Darlegung seiner methodischen und argumentativen Basis und in der Entfaltung tragender Leitbegriffe, bleibt er relativ knapp. Einleitend geht er auf das Freiheitsverständnis ein (11 ff.). Angesichts des breiten Themenspektrums wirkt die Gliederungsstruktur des Buches bisweilen ein wenig unübersichtlich. Didaktisch hilfreich ist es, dass die einzelnen Kapitel narrativ, mit knappen Beispielgeschichten, eingeleitet werden. Das Buch ist als allgemeine Einführung in die Ethik angelegt. H. akzeptiert den gesellschaft-lichen Pluralismus (z. B. 124) und gibt gleichzeitig seinen eigenen Standort zu erkennen, der auf der evangelisch-theologischen Ethik beruht (15) und den Verlautbarungen der EKD verpflichtet ist.
Daher überrascht es nicht, dass das Buch der in der evange-lischen Theologie häufig vertretenen Position folgt, der Mensch sei ein Beziehungswesen (23). Genauerer Erörterung bedürfte dann allerdings, wie diese relationale Dimension der menschlichen Exis­tenz einerseits, Individualität und persönliche Grund-, Freiheit und Selbstbestimmungsrechte andererseits einander gedanklich zuzuordnen sind und wie die Gewichtungen erfolgen (nur knapp hierzu: 26). Ausgehend von der Beziehungsanthropologie beleuchtet H. z. B. den Umgang mit vorgeburtlichem Leben. Folgerichtig rückt er die Frage, welcher moralische Schutzstatus dem Embryo als einer eigenen Entität zuzuerkennen ist, in den Hintergrund (46). Warum z. B. keine überzähligen Embryonen erzeugt werden dürfen (45.48), ist dann aber nur noch begrenzt nachvollziehbar.
Zur materialen Ethik vermittelt das Buch zahlreiche Impressionen. Es grenzt sich von der römisch-katholischen Sexual- und Ehelehre ab, die Sexualität und Fortpflanzung unlösbar miteinander verbindet (29). In Bezug auf gleichgeschlechtliche Lebensformen knüpft H. an die neuere Verfassungsrechtsprechung an und bejaht die Stiefkindadoption (35). Hiermit geht er über frühere Voten evangelischer Kirchen hinaus, ohne seinerseits auf weitergehende rechtliche Klärungen (z. B. zur Samenspende) oder Liberalisierungen (z. B. zur Fremdkindadoption in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften) zu dringen. Hervorzuheben sind die Gesichtspunkte, die das Buch zu Herausforderungen der Friedensvorsorge und zur Notwendigkeit der Gewalt- sowie Kriegseindämmung darlegt (236 f.: Problematik des Zerfalls staatlicher Strukturen in manchen Weltregionen; neue Formen von Gewalt und Kriegführung; Leit-idee der Schutzverantwortung, die in der internationalen Völkerrechtsdebatte konzipiert wurde). Der Begriff des gerechten Friedens, den H. ins Zentrum rückt (231), bleibt allerdings in manchem unklar. Die Unschärfe des Begriffs resultiert auch daraus, dass er aus einer Negation heraus entstanden ist und als Gegen- oder Abgrenzungsbegriff gegen den überlieferten, seinerseits missverständlichen Terminus »gerechter Krieg« entwickelt wurde.
Zum Themenspektrum des Buches gehört der religiöse Pluralismus, von dem die heutige Gesellschaft geprägt ist. Exemplarisch gelangt die Kontroverse über die Beschneidung männlicher Säug-linge zur Sprache (214 ff.). Die medizinische und die individualgrundrechtliche Problematik dieses religiösen Ritus – Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit; Vorwirken seines späte-ren Selbstbestimmungsrechts – tritt bei H. in den Hintergrund. Grundsätzlich plädiert er für interreligiöse Toleranz. In dieser Hinsicht deutet er für die evangelische Sicht einen radikalen theologischen Kurswechsel an. Wenn er sich für Toleranz gegenüber anderen Glaubensüberzeugungen ausspricht, begründet er dies theologisch bzw. dogmatisch damit, dass auch andere Glaubensgewissheiten auf Gottes Wirken zurückzuführen seien (222). Dieser Ge­ dankengang ist be­langvoll, weil traditionell lediglich der eigene christliche Glaube als Werk Gottes gedeutet wurde. Noch in der jüngeren Vergangenheit enthielten Voten evangelischer Kirchen bezogen auf Muslime und auch auf Juden Missionsappelle. Im Vergleich mit älteren und mit neueren kirchlichen Aussagen hat das Buch hiermit der Sache nach eine Neupositionierung vorgenommen. Interessant wäre gewesen, wenn es z. B. thematisiert hätte, welche praktischen Konsequenzen hieraus konkret für die Toleranz gegenüber Angehörigen anderer Religionen oder gegenüber Mitarbeitern ohne Religionszugehörigkeit im eigenen kirchlichen Arbeitsrecht zu ziehen sind. Die evangelische Kirche hat sich noch 2014 vom Bundesarbeitsgericht bestätigen lassen, dass sie Musliminnen, die in kirchlich getragenen Einrichtungen in der Pflege tätig sind, das Tragen des Kopftuchs verbieten darf (BAG, 24.9.2014, 5 AZR 611/12). Zur praktischen Realisierung von Toleranz besteht a uch auf evangelischer Seite immer noch Nachholbedarf.
Insgesamt äußert sich H. zu vielen Aspekten der materialen Ethik. Gelegentlich finden sich kulturpessimistische Untertöne (z. B. auf S. 171 im Blick auf Embryonenforschung oder auf S. 54 zur Pränataldiagnostik). Manche Aussagen erfolgen deklaratorisch (z. B. 137: »Dem Schutz des geistigen Eigentums muss mit geeigneten Mitteln Anerkennung verschafft werden«), ohne dass die Um­setzbarkeit der Postulate verdeutlicht würde. Ausführlich gelangt der Gewissensbegriff zur Sprache (103 ff. [anders als auf S. 113 vermerkt, ist die Gewissensfreiheit im Grundgesetz in Artikel 4, nicht in Artikel 3 verankert]). Dabei spricht H. zu Recht an, dass heutzutage neue Formen der Bedrohung von Gewissen und Gewissensfreiheit aufzuarbeiten sind (115). In anderem Zusammenhang erwähnt er, dass das Grundgesetz in Artikel 38 die Gewissensbindung der Abgeordneten schützt, was im parlamentarischen Alltag faktisch jedoch unterbestimmt bleibe, weil die Gewissensfreiheit des einzelnen Parlamentariers vom Fraktionszwang überlagert wird (208). Problematisch ist, dass die Fraktionsspitzen letztlich sogar die Definitionshoheit dazu beanspruchen, wann eine Gewissensentscheidung überhaupt vorliegt.
H.s facettenreiches Buch macht mithin auf zahlreiche Themen aufmerksam und regt zur weiteren Diskussion an.