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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

687-688

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Anselm, Reiner, Inthorn, Julia, Kaelin, Lukas, u. Ulrich H. J. Körtner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Autonomie und Macht. Interdisziplinäre Perspektiven auf medizinethische Entscheidungen.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2014. 188 S. = Edition Ethik, 12. Geb. EUR 36,90. ISBN 978-3-8469-0127-4.

Rezensent:

Reiner Marquard

Die beiden Kennworte dieses Bandes sind im Wesentlichen aus zwei Tagungen des Arbeitskreises Theologie und Medizin in Wien (jeweils Januar 2012 und 2013) hervorgegangen.
Im ersten Teil »Philosophische Perspektiven auf Autonomie« wird der Autonomiebegriff grundsätzlich (Ulrich H. J. Körtner), im Rückgriff aus Theodor W. Adorno (Lukas Kaelin) und im Hinblick auf den Feminismus-Diskurs in bioethischen Konfliktfeldern (Angelika Walser) entfaltet. Der Beitrag »Autonomie als Element des guten Lebens« (Roland Kipke) scheint irrtümlicherweise in den zweiten Teil gerutscht zu sein und hätte gut an den Beitrag von Kaelin angeschlossen.
Der zweite Teil »Philosophische und theologische Perspektiven auf Macht« betrachtet das Kennwort philosophisch (Lukas Kaelin), aus der Arzt-Patient-Beziehung (Ulrike Butz) und religionspädagogisch (Thomas Weiß). – Der letzte Beitrag erscheint befremdlich im übrigen Themenkanon.
Im dritten Teil »Autonomie und Macht im medizinischen Kontext« werden unmittelbar medizinische Themenstellungen am Beispiel der ästhetischen Chirurgie (Julia Inthorn) und des neuromodulativen Therapieverfahrens der tiefen Hirnsimulation (Henriette Krug) und der Palliativmedizin (Lena Woydack und Julia Inthorn) behandelt. Die Beiträge von Michael Peintiker »Macht in der Medizin aus ärztlicher Sicht« und Gina Atzeni »Der Wandel medizinischer Macht im ärztlichen Selbstbild und soziologischen Fremdbild« hätten ihrer Themensetzung wegen eher in den zweiten Teil gepasst.
Ein Personen- und Sachregister schließt den Band ab. Eröffnet wird er durch ein Vorwort der Herausgeber. Die Themenstellung ist klug gewählt. Wird Selbstbestimmung/Autonomie im Zusammenhang mit den leib-seelischen Voraussetzungen des Kranken reflektiert, kommt man nicht umhin, über Macht so zu reflektieren, dass nicht ein überholter Paternalismus bedient wird. Vielmehr kann es in einer angstfreien Debatte um Macht in der Medizin um eine einvernehmliche Übergabe und Übernahme von Verantwortung gehen, die so oder so auf Instrumentalisierung ver­zichten kann.
Im Ergebnis korrespondieren die Beiträge (unausgesprochen) mit den aktuellen Diskurslinien in der Vertrauensforschung, die in den vergangenen Jahren z. B. an der Universität Zürich betrieben wurde und sich derzeit in einem abschließenden Projekt zum Vertrauen am Ende des Lebens befindet. »Vertrauen […] ist akzeptierte Abhängigkeit (Dietrich Roessler). Solche Abhängigkeit darf aber nicht zur Entmündigung des Patienten führen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass die Autonomie des Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt wird.« (Ulrich J. Körtner, 17) Eine therapeutische Partnerschaft, »die auf einem wohl begründeten Vertrauen ba­siert«, wird »Machtaspekte sowohl heilsam zu integrieren ver-stehen, als auch gemeinsame machtvolle Handlungsweisen ent-wickeln können« (Michael Peintinger, 128). Ein zentraler Gedanke, der sich durch diesen Band in all seinen Bezügen um Autonomie und Macht in unterschiedlichen Themenfeldern durchhält, ist wie ein Ferment dieser Debatte: Es geht um eine »relationale Autonomie« (Lena Woydack und Julia Inthorn, 174), die der Autonomie an sich keinen Weihestatus verleiht, sondern im Reflektieren der Machtfrage Abhängigkeit so zur Sprache bringen kann, dass der kranke Mensch gleichwohl im Entbehren seiner Lebenskraft Autonomie als »gestützte Autonomie« (174.180) erfahren kann.
Die Beiträge folgen alle erfreulich einem gleichen Gliederungsprinzip, was die Lektüre erleichtert; allerdings wurde die Größe des Schrifttyps vom Verlag äußerst bescheiden bemessen. Der Preis von 36,90 EUR ist ambitioniert. Gleichwohl liegt ein Buch vor, das so­wohl zur aktuellen Debatte der interpersonellen Ebene des (asymmetrischen) Arzt-Patienten-Verhältnisses als auch zu strukturalen Herausforderungen des Medizinbetriebes einen respektablen Beitrag leistet.