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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

682-685

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nussbaum, Martha C. [Aus d. Amerik. übers. v. I. Utz]

Titel/Untertitel:

Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. 623 S. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-518-58609-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nussbaum, Martha C.: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Aus d. amerik. Engl. übers. v. N. Palézieux. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014. 220 S. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-534-26460-5.


Nach Martha Nussbaums menschenrechtlich fundierter Gerechtigkeitstheorie Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin 2010 (s. ThLZ 136 [2011], 440–447), die auf eine kulturübergreifende Konzeption der Person zielt, damit sie ein gutes Leben in Gemeinschaft mit Anderen führen kann, erscheinen nahezu zeitgleich die beiden hier vorzustellenden Publikationen, mit denen N. ihrem Gerechtigkeitsbegriff weitere Facetten hinzufügt.

Der Schrift Politische Emotionen geht inhaltlich das nicht ins Deutsche übersetzte Buch Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions, New York/Cambridge 2001 voraus, in dem N. eine eigene Emotionstheorie entwickelt hat, die sie thesenhaft vorstellt (595–600), »der zufolge alle Gefühle ein auf ein Objekt gerichtetes Denken oder Wahrnehmen sowie eine Bewertung dieses Objekts vom Standpunkt des Akteurs aus beinhalten« (595). Da aber der kognitive Gehalt von Emotionen zugleich von gesellschaftlichen Normen geprägt wird, stellt sich die Aufgabe für eine dem politischen Liberalismus verpflichtete Position, der sich N. zurechnet, »Wege zu finden, durch die Emotionen die Grundprinzipien der politischen Kultur einer Gesellschaft stützen können« (18). In Erweiterung von John Rawls’ Konzeption eines übergreifenden Konsenses, nach dem die Menschen bei allen unterschiedlichen – und vom Staat nicht bevorzugten – religiösen oder säkularen Auffassungen über den Sinn des Lebens darin übereinstimmen, »daß alle Menschen den gleichen Respekt verdienen« (18), geht es N. um eine Stärkung dieser Norm mittels einer öffentlichen Gefühlskultur.
Wesentliche Kronzeugen für diese Gedanken findet sie bei dem liberalen Denker John Stuart Mill und dem indischen Dichter und Philosophen Rabindranath Tagore. Beide stellen sich für die Kultivierung der Gefühle eine neue Religion der Menschen vor, die anstelle der bis-herigen religiösen Lehren die Grundlage für die Gesinnung eines umfassenden Altruismus bilden soll. Es ist N.s Intention darzu-legen, »daß alle entscheidenden Emotionen, die eine gute Gesellschaft tragen und zusammenhalten, ihre Wurzeln in der Liebe haben« (32), wobei ihnen durch die moralische Norm der gleichen »Achtung vor allen Menschen, Rede-, Vereinigungs- und Gewissensfreiheit sowie grundlegende soziale und wirtschaftliche Rechte« (33) die Grenzen gezogen sind.
 Dieses umfassende Programm führt N. in drei großen Reflexionsgängen durch.
Im ersten Teil (45–169) stellt sie den gesellschaftlichen Umbruch durch die Französische Revolution dar und sieht in ihrer Interpretation von Mozarts Oper Die Hochzeit des Figaro »die Ersetzung der Feudalordnung durch eine neue Ordnung der Brüderlichkeit und Freiheit beschworen« (49). Die Demokratie bedarf »der Liebe und Zuwendung«, weil sie die Menschen motiviert, »für das Gemeinwohl ein Stück Eigeninteresses zu opfern« (74). Diesen Gedanken überprüft N. an Rousseaus Vorstellung von der Zivilreligion gemäß seinem Gesellschaftsvertrag und an Herders Briefen zur Beförderung der Humanität. Da aber Rousseau für einheitliche Gesinnungen plädiert und Herder die Realisierung seines Projektes kaum bedenkt, wendet sich N. den Plädoyers Mills (112–129) und Tagores (130–169) für die Zivilreligion, die Beachtung des Mitgefühls, die Absage an rassistische oder religiöse Unterschiede und des Egoismus zugunsten eines gleichen Respektes vor allen Menschen zu. Wesentlich für diesen Humanismus der Liebe ist die Unterstützung durch Emotionen mittels verschiedener Kulturformen. »Mills Religion der Menschlichkeit fordert alle auf, sich mit der Zukunft der ganzen Menschheit zu identifizieren, und von allen wird erwartet, sich an diesem gemeinsamen emotionalen Streben zu beteiligen.« (165) 
Ehe sich N. der Gegenwart direkt zuwendet, stellt sie im zweiten Teil (171–301) das Modell einer erstrebenswerten Gesellschaft dar, das allen Menschen die gleiche Achtung entgegenbringt und die Kernbereiche von Freiheit und materieller Unterstützung gewährleistet, aber auch um der gesellschaftlichen Stabilität wegen kritisches Denken fördert. Die unterstützenden Emotionen einer gerechten Gesellschaft benennt N. positiv mit dem Mitgefühl (210–245) und negativ mit dem als Hilflosigkeit, Narzissmus und Beschmutzung präzisierten radikal Bösen (24–301).
Die umfangreichen Untersuchungen dieser Bereiche eröffnen N. die gesuchte Möglichkeit: »Die Gesellschaften können eine Kultur des Widerspruchs entwickeln, persönliche Verantwortung stärken und bürokratische Anonymität verringern […]: sie können eine Kultur der Empathie aufbauen und die Fähigkeit fördern, die Welt mit den Augen anderer zu sehen und deren Individualität anzuerkennen.« (301) Damit hat N. die Voraussetzungen erarbeitet, um im dritten Teil (303–593) ihre Intention für die Gegenwart zu konkretisieren, »daß Emotionen im öffentlichen Raum einen entscheidenden Anteil an dem Streben nach Gerechtigkeit haben und ihre Wirkung entfalten können« (308). Diesen Gedanken führt sie am Sachverhalt des Patriotismus und den beispielgebenden politischen Leistungen von George Washington, Abraham Lincoln, Martin Luther King, Mohandas Gandhi und Jawaharlal Nehru aus (310–387).
Als Zwischenergebnis im Sinn ihrer Emotionstheorie lässt sich notieren: »Wenn Menschen, die an Armutsbekämpfung, Gerechtigkeit für Minderheiten, politischer und religiöser Freiheit, De­mokratie und globaler Gerechtigkeit interessiert sind, von Appellen an Gefühle und Phantasie nichts wissen wollen, weil sie sie für gefährlich und irrational halten, werden Menschen mit weniger appetitlichen Zielen diese Kräfte monopolisieren – zum Schaden der Demokratie und der Menschen.« (387) Diese Emotionen stellt N. – analog zu Teil II – positiv am Sachverhalt des Mitgefühls (388–470) und negativ an Angst, Neid und Scham (471–566) als den Feinden eines solidarischen Miteinanders dar. Es ist ihr Ziel, »ein emotionales Klima zu schaffen, das eigennützige Angst und Neid begrenzt und die Stigmatisierung bestimmter Gruppen von Bürgern beseitigt« (566). Dies geschieht durch phantasievolles Einfühlungsvermögen der Bürger, das durch die Künste unterstützt wird, »aus Liebe. Gerechtigkeit braucht somit Liebe« (569), die weder Selbstzweck noch Mittel zum Zweck sein darf, sondern altruistisch ist, die »das obsessive Streben nach persönlichem Status und Ehre« ablehnt und »sich zu gegenseitigem Verstehen und Verletzbarkeit« (573) bekennt. So ermöglicht für N. die Gesellschaftsform des politischen Liberalismus die Anerkennung der menschlichen Heterogenität und durch die Liebe als Emotion gegenseitigen Verbundenseins ein Leben, das mehr als pflichtgemäß ist, da es für die Lage des eigenen Landes und anderer Menschen gleichermaßen aufgeschlossen ist. Diese Ausführungen erweitern eine rein rationale Argumentation für die Gerechtigkeit um die Beachtung des Mitgefühls und aktualisieren damit zugleich Adam Smith’ Theorie der ethischen Gefühle. M. E. wäre eine stark gestraffte Publikation der Vermittlung der Intention dieses wichtigen Anliegens förderlich gewesen. 

In der zweiten Veröffentlichung Die neue religiöse Intoleranz widmet sich N. der im Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie notwendig zu beachtenden negativ bewerteten Emotion der Angst am Beispiel religiöser Intoleranz. Diese hat gegenwärtig die aufgeklärte Haltung einer religiösen Toleranz weitgehend verdrängt und in Europa vielfältige Formen angenommen, wie die Verbote der Burka (Frankreich, Belgien, Italien), die des muslimischen Kopftuches in vielen Staaten oder die von Minaretten in der Schweiz (12–26). Die zur Intoleranz führende Angst vor Fremden führt N. in Europa historisch auf die Nationalstaaten mit ihrer homogenen Bevölkerung zurück, während in den USA die religiöse, ethnische, kulturelle und sprachliche Heterogenität generell ein machtvolles Ge­gengewicht gegen jede Form eines herabsetzenden Nativismus an­derer Menschen bildet, wenngleich auch hier die Angst zu­nimmt.
 Den Grund gesellschaftlicher Angst in Europa (27–57) erklärt N. mit dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung, der Menschen aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit stigma-tisiert.
In den USA führt seit dem Anschlag auf das World Trade Center die Erfahrung plötzlicher Gewalt zu deren Gleichsetzung mit Terrorismus und diesem mit Al-Qaida. Angst hat zur Folge, be­stimmte Bevölkerungsgruppen »nicht als vollgültige Menschen« (56) anzusehen. N. bewertet dies als narzisstisches Gefühl, als »Grundform einer übertriebenen Selbstsucht« (57), die jegliche Liebe verunmöglicht und damit das Leben insgesamt gefährdet.
 Gegen diese Stigmatisierungen setzt N. die Prinzipien der Würde aller Menschen, ihrer Gleichheit und Verletzlichkeit (58–87): »Wenn wir die Verletzlichkeits-Prämisse mit der Gleichheits-Prämisse verbinden, gelangen wir zu dem Grundsatz, daß die Freiheit umfassend und für alle gleich sein muss.« (64) Die gleiche Freiheit der Religionen erörtert sie in Rückbezug auf John Locke und Roger Williams mit dem Ergebnis, »dass der Schutz einer Reihe grundlegender menschlicher Ansprüche […] für Regierungen eigentlich ein zwingendes Interesse ausmachen dürfte, bestimmte Handlungen, die im Na­men der Religion erfolgen« einzuschränken. »Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und dergleichen« (83) dürfen aus religiösen Gründen nicht beschnitten werden. Grundsätz lich plädiert N. – in Anlehnung an Williams – aus Gründen der Gleichheit für eine freie Religionsausübung aller gesellschaftlicher Gruppen und schlägt bei Angst einen Perspektivenwechsel vor, um die Bedürfnisse anderer Religionen zu verstehen und die eigene Auffassung nicht als Norm zu zementieren. Folglich spricht sich N. gegen das Burka-Verbot aus (88–119), da es eine religiöse Gruppe nicht als Gleiche behandelt, sondern diskriminiert. Die Voraussetzung aber, Minderheiten anzuerkennen, bedarf einer mitfühlenden Phantasie und Sympathie. Die Möglichkeiten dazu belegt N. an literarischen Zeugnissen von Roger Williams, Gotthold Ephraim Lessing, George Eliot und Marguerite de Angeli, die nicht nur die Tatsachen des Andersseins darstellen, sondern die Mehrheit in die Welt der Minderheiten führen und zeigen, wie sich alle in Freundschaft und Respekt begegnen können (120–155) und nicht mehr nur Homo-genität einfordern. Wie schwierig es ist, diese Idee politisch umzu-setzen, stellt N. an der Auseinandersetzung um das Bauvorhaben eines von Muslimen initiierten multireligiösen Gemeindezentrums mit einem islamischen Gebetsraum in der Nähe von Ground Zero in Lower Manhattan dar (156–193). Sie arbeitet das Recht für das Zentrum heraus, da die freie Religionsausübung verfassungsmäßig garantiert ist. Die Verunglimpfungen, die alle Muslime in die Nähe von Al-Qaida stellten, um das Zentrum zu verhindern, weist sie entschieden zurück. Sie sieht aber auch, dass die Projektentwickler sich zu wenig in die Ängste ihrer Mitbürger hineinversetzt haben und diese wiederum viel zu wenig Kenntnisse über den Islam haben.

In drei Punkten fasst N. zusammen, wie sich Angst und Intoleranz zugunsten einer lebenswerten Zukunft überwinden lassen (194–197): erstens, indem man sich der Vielfalt der menschlichen Lebensumstände bewusst ist, zweitens für die Idee der gleichen Freiheit des Gewissens aller Bürger eintritt und drittens mit einem phantasievollen – durch die Künste inspirierten – Perspektivenwechsel die Welt aus den Augen der Anderen zu sehen versucht. N. gibt wichtige Anregungen für den toleranten Umgang mit anderen Religionen für Gesellschaftsformen des politischen Liberalismus und präzisiert damit ihre Gerechtigkeitstheorie. Offen bleibt jedoch die bedrückende Problematik genuin religiöser Wurzeln von Gewalt.