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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

681-682

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Knapp, Markus

Titel/Untertitel:

Herz und Vernunft – Wissenschaft und Religion. Blaise Pascal und die Moderne.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014. 226 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-77256-5.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Religion ist abhängig von einem sich wandelnden und von Ambivalenzen durchzogenen Vernunftverständnis. So führte der Fortschritt der Naturwissenschaften einerseits zur Proklamation der Allzuständigkeit wissenschaftlicher Vernunft, andererseits aber auch zu einer Wiederkehr der Vernunftskepsis und des Irrationalen.
Markus Knapp, Professor für katholische Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, will sich dieser Problemsituation stellen, indem er auf den Entwurf des französischen Mathematikers und Philosophen B. Pascal zurückgreift. Dieser befand sich bereits im 17. Jh. vor der strukturanalogen Herausforderung, die wissenschaftliche Vernunft mit anderen Dimensionen der Vernunft und auch mit der Vernunft des Religiösen in eine kritische Beziehung zu setzen.
Das besondere Interesse der Studie gilt der Frage, ob sich von ihm her Perspektiven für die gegenwärtige »postsäkulare« Situation aufzeigen lassen. Zentrale Aufgabe ist es dabei zu klären, ob und inwiefern Pascals Verhältnisbestimmung von Vernunft und Herz auch für heutige Debatten um ein angemessenes Vernunftverständnis weiterführend ist.
Dazu skizziert K. zunächst den Wandel des Vernunftverständnisses (Kapitel I). Ausgeleuchtet werden sodann die religionsgeschichtlichen und biblischen Kontexte, denen die Metapher des Herzens entstammt (Kapitel II). Diese gewinnt in der Patristik ihre eigene inhaltliche Prägung und ihr eigenes Gewicht (Kapitel III). Von Augustins Gedanken einer ratio cordis, die Glauben und Denken zusammenhält, führt eine Linie zu Pascals Vernunftkonzep-tion (Kapitel IV). – Pascal entwirft ein integratives Vernunftkonzept, das gegen re­duktionistische Verkürzungen unterschiedliche Dimensionen menschlicher Lebenswirklichkeiten berücksichtigt. Dies geschieht im Rückgriff auf eine Erkenntnisanthropologie, innerhalb derer das Vermögen des Herzens für ein Vernehmen einer grundlegenden Weltbeziehung und -orientierung steht. Die begrifflich-diskursive Vernunft bleibt auf diese basale Vermittlungsinstanz ebenso angewiesen wie der Glaube, dessen Wirklichkeitserfahrung einen teilnehmenden Vollzug voraussetzt. K. folgt dabei weitgehend der Interpretation von H. Rombach. Er stellt dabei die basale Vermittlungsfunktion des Herzens heraus, um zum Konzept einer Vernunft zu ge­langen, die das stützende Verbundensein mit der Welt voraussetzt.
Hier öffnen sich Anschlussmöglichkeiten für ein modernes Vernunftkonzept (Kapitel V), wie K. im Rückgriff auf Ch. Taylor, A. Honneth (immer wieder auch J. Habermas) deutlich macht: Gegenüber der Vorstellung einer »desengagierten« Vernunft, die ihr Situiertsein und ihr Involviertsein in der Welt zugunsten einer Beobachterperspektive meint übergehen zu können, plädiert K. für die Anerkennung eines ursprünglichen Weltbezugs, wie er bei Pascal durch das Fühlen des Herzens eingeholt wird.
K. gelingt eine (gut lesbare) Aufnahme des Vernunftkonzepts Pascals unter den Bedingungen der gegenwärtigen Moderne und zugleich eine anschlussfähige Verhältnisbestimmung von Vernunft und Gefühl. Seine eigene Position zeigt sich etwa darin, dass er im Blick auf die Vernunft der Religion meint, gegen Pascal auf den philosophischen Begriff eines letztgültigen Sinns zurückgreifen zu müssen. Spätestens hier zeigt sich, dass Pascal auch andere Anschlussmöglichkeiten geboten hätte. Mehr noch: dass seine In­terpretation durch K. auch Fragen aufwirft. Im Interesse einer angewiesenen Vernunft, der ein engagiertes In-der-Welt-Sein vorausliegt, konzentriert sich K. auf eine Bedeutungsebene von »Herz« bei Pascal: seine Bedeutung als basale Vermittlungsinstanz (»Stütze« der Vernunft). Die anderen Bedeutungsebenen werden dahingehend systematisiert. Gerade hier ist aber die Strukturanalogie zur Leiblichkeit, der dritten »Ordnung« Pascals, auffallend – mit den entsprechenden Anschlussmöglichkeiten an neuere Diskussio­nen. Man könnte sagen: Während etwa P. Bourdieu die Angewiesenheit der Vernunft einseitig in der habitualisierten Leiblichkeit sucht, sucht sie K. in einer primären Welterfahrung des Herzens bzw. des Gefühls. In beiden Fällen wird aus der Angewiesenheitsbeziehung ein Fundierungsverhältnis, wobei dann allerdings zu zeigen wäre, dass die solchermaßen angewiesene Vernunft nicht zu einer unkritischen regrediert. Kant hatte dies schon gegen J. H. Jacobi angemahnt. In jüngerer Zeit versucht U. Pothast in seinem ebenfalls an Pascal orientierten Konzept einer »lebendigen Vernunft«, dieser Problematik gerecht zu werden.
Eine Interpretation im Sinne von Fundierungsverhältnissen steht vor der Herausforderung, den verschiedenen Motivkomplexen der Vernunftkonzeption Pascals Rechnung zu tragen: dazu gehört auch das wechselseitige Zusammenspiel der drei menschlichen Vermögen; dazu gehört der Sachverhalt, dass Pascal die Vernunft einerseits als situativ und körperlich eingebettetes und bewegliches Vermögen, anderseits auch als kritisches Urteilsvermögen auffasst, das zu prüfen hat, in welchen Situationen nach rationalen Gründen zu fragen, in welchen Situationen die Angewiesenheit der Vernunft anzuerkennen und in welchen Situationen zu zweifeln ist. Der Positionalität seines anthropologischen Bezugsrahmens und der Kontingenz aller basalen Gewissheiten muss dann auch nicht unbedingt durch eine philosophische Letztbegründungskonzeption abgeholfen werden. – Solche Herausforderungen zeigen, dass Pascals Vernunftkonzeption wert ist, im Blick auf gegenwärtige Problemstellungen weiter diskutiert zu werden. Dazu hat K. einen wichtigen Beitrag geleistet.