Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

789 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Altizer, Thomas J. J

Titel/Untertitel:

The Contemporary Jesus.

Verlag:

London: SCM Press 1998. XXVII, 225 S. 8. Kart. £ 14.95. ISBN 0-334-02728-4.

Rezensent:

Ulrike Link-Wieczorek

Man stelle sich vor, wir wüßten Raum und Zeit ausschließlich aus Schriften von Astronomen und Archäologen - kämen wir uns dann nicht recht klein vor in unserem alltäglichen Ringen mit den Widerfahrnissen des Lebens? Das kann eine seelsorgerlich heilsame Konsequenz haben, indem es subjektivistische oder gar pathologische Verzerrung von Wirklichkeitswahrnehmung korrigieren hilft - es kann uns aber auch in tiefe Depression stürzen, wenn es uns einsam, einflußlos und winzig in der Unendlichkeit von Raum und Zeit zurückläßt.

Hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen nun kann man sich auch nach der Lektüre von Thomas Altizers neustem Buch fühlen: Hineingeworfen werden wir in den riesigen Sog einer "absolute totality", einer unbeirrbaren Universalgeschichte aus einer ewigen Dialektik von Absterben und Neubeginn, die in den Kategorien Hegelscher Philosophie beschrieben, sich im Kommen von Jesus Christus kondensiert und - last not least - in einer heimlichen universalgeschichtlichen Komplementarität von westlichem Christentum und östlichem Buddhismus erkannt werden kann. Am Ende ist man etwas atemlos vom Pathos dieser apokalyptischen Vision der Universalgeschichte, vom Autor entfaltet ohne Scheu vor Übertreibungen - überwältigenden Vergeichen ("Christianity reversed its founder more than did any other historical tradition"), punktuellen Fokussierungen ("here and here alone"; "more than ever before") und kontradiktorischer Identifikation (z. B. von Jesus und Satan). Ob es sich lohnt, sich diesem visionären Sog auszusetzen? Wer ausgewogene Analysen oder auch nur eine Art der Präsentation von Argumenten sucht, die den Diskurs ermöglicht und über Andeutungen unter Wissenden hinausgeht, wird sicher enttäuscht sein von diesem Buch. Von Anfang an verspricht es etwas anderes: einen durchaus originellen und wilden Tanz durch die Geistesgeschichte des christlichen Abendlandes, der in die gegenwärtig mögliche Berührung mit dem Buddhismus und die Auflösung der Identität klassischer Religionsgemeinschaften mündet.

A. ist bei uns in Deutschland vornehmlich aus seinen Arbeiten aus den 60er Jahren bekannt, als er zu den führenden amerikanischen "Gott-ist-tot"-Theologen gehörte. In stark auf Hegel zurückgreifender Theologie sollte vor allem eine flache Immanenz-Transzendenz-Polarität aufgehoben werden, und bei dieser Intention ist Altizer bis heute geblieben. Auch in "The Contemporary Jesus" spielt die Rede vom "Tod Gottes" eine wesentliche Rolle. Sie bezieht sich auf einen Aspekt der absoluten Wirklichkeit, die A. mit dem Grundmotiv der Einheit aus Verschiedenem, ja aus Konträrem in immer wieder neuen Anläufen und spiralförmigen Denkfiguren zum Ausdruck zu bringen sucht.

A.s Entwurf lebt von einer hegelschen Inkarnationstheologie und riskiert dabei eine radikal typisierende Einseitigkeit der Interpretation der Theologiegeschichte. Generell knüpft er an eine klassische Linie anglikanischer Theologie an: Der "Tod Gottes" in Jesus ist ein Mega-Ereignis innerhalb der Inkarnation, die wiederum eine Dynamik von kenotischer Selbsthingabe und (wieder)auferstehendem neuen Leben als universalgeschichtliche Bewegung darstellt. Den Tod Gottes ernstnehmen heißt nach Altizer durchaus, die Auferstehung schon mitzuwissen, und zwar nicht nur als eine spirituelle, jenseitige Wirklichkeit (wie in der Gnosis), sondern als sich ständig erneuerndes Reich Gottes in historischen Dimensionen. Die Konsequenzen dieser Grundintentionen zeigen sich nun in den einzelnen Kapiteln von A.s Buch: Natürlich hat er eine große Sympathie für die apokalyptischen Ströme der Jesus-Tradition mit ihrer Betonung auf Krisis und Erneuerung (1-17), und natürlich bedauert er, daß sich "das Christentum" in Aufnahme von Hellenismus und Ausformung von Katholizismus (7) von diesem Ursprung "total" entfernte. Apokalyptisches wurde synonym für Häresie, aber als solche klopfte es immerhin stets wieder provozierend an die Türen des etablierten Christentums. Obwohl nämlich der "mainstream" des Christentums eine radikale Inkarnationstheologie mit ihrer Betonung der Kenosis und ihrer ständigen apokalyptischen Krisis verdrängt habe, wurde in Strömungen und Gegenströmungen stets wieder daran erinnert: in der christlichen Gnosis (49-69), aber auch in der paulinischen Theologie (71-88), natürlich in der Mystik Meister Eckharts (46 f.; 168-171 u. passim) - vor allem aber in der Literatur der Moderne: Die eigentlich originellen Kapitel dieses Buches sind die theologischen Interpretationen ausgewählter Paradigmen der Weltliteratur als Beispiele für den "katholischen" (Dante und Joyce; 89-114), den "protestantischen" (Milton und Blake; 115-137) sowie den "nihilistischen Christus" (Dostojewski und Nietzsche; 139-159). Skeptizismus und Ringen mit der Theodizee-Problematik werden in A.s Blick zu Dramatisierungen der Kenosis Gottes bis in eine sich ins Satanische auflösende Humanität hinein.

Auch diese Interpretationen freilich geschehen aus einem großzügen Abstand heraus, dem durchaus etwas gewollt Willkürliches anhaftet. Das gilt auch für A.s "Gipfel-Kapitel" über die Beziehung von Christentum und Buddhismus (161-183) mit der These, daß sich manches Christliche (z. B. die Radikalität der Kreuzestheologie) im Buddhismus kompromißloser durchgesetzt habe als im Christentum. Christus ist darum eben auch ein "buddhistischer Jesus", denn die totale Wirklichkeit ist auf die Grenzen der historischen Religionen nicht angewiesen.

Nach dem Buddhismus-Kapitel wundert man sich nun auch nicht mehr, daß A. zu Beginn seines Buches für die Arbeit der amerikanischen Exegeten des sog. "Jesus Seminars" so wenig Lob übrig gehabt hatte (19-32): Diese Inkarnationsgeschichte läßt sich in einer Betonung der konkreten Historizität Jesu unter Ausblendung jeglicher darüber hinausgehender Wirklichkeitsebenen nicht unterbringen. Dagegen findet sich überra-schenderweise bei John Dominic Crossan (33-47), obwohl auch Mitglied des Jesus-Seminars, viel Brauchbares, denn bei ihm darf Jesus doch Christus bleiben: Er wird in katholischer Perspektive verbunden mit der Errichtung der Kirche - hier leuchtet eine Sympathie A.s mit der röm.-katholisch-anglikanischen Lehre von der Kirche als "Ausweitung der Inkarnation" auf.

"The Contemporary Jesus" ist ein Bekenntnis zur Geschichtsmächtigkeit einer gottgewirkten Wirklichkeit, in der in ständiger Selbstaufgabe neues Leben wird. Die am Schluß angedeutete Interpretation der diagnostizierten Auflösungstendenzen der Kultur unserer Gegenwart als neue Welle von Geburtswehen einer neuen Welt ("Der anonyme Christus", 185-204) freilich mag tröstlich finden, wer sich mit A. im astronomisch-archäologischen Abstand zur konkreten erfahrbaren Wirklichkeit ausrichten will.